》• Erstes Kapitel •《

                         { ~Livias Sicht~ }

Weiß, Weiß und nochmal Weiß - überall, wo ich hinsah, war weiß.
Ich lag inmitten eines Raumes und realisierte, wo ich war. Ich lag in einem Krankenhausbett. Warum war ich hier?

Die Bettdecke wegzuschieben, war anstrengend, so als hätte ich es noch nie getan. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand um meine gesamte Kraft gebracht.

Das was zwischen meinen Schultern war fühlte sich vielmehr wie ein Stein an als wie ein Kopf. Ein weißes Hemd bedeckte teilweise meine kalte, blasse Haut und einige Schläuche, die mich versorgten.

Genau in dem Moment betrat ein großer, gepflegter Mann den Raum. Meine Augen weiteten sich, meine Wangen waren leicht angespannt und mein Mund ein Stück geöffnet. Gegelte, braun-graue Haare, weißer Kittel, Armbanduhr.

„Guten Tag Miss Adair, ich bin Dr. Nelson, vermutlich sind Sie etwas verwirrt, nicht?"

Er griff, während er mich fragte, nach einem der zwei Stühle, die an einem kleinen Tisch, mit farblich abgestimmt zart rosa, fast
schon weißen Tulpen stand und hob ihn mit Leichtigkeit neben mein Bett.

„Sie hatten einen Unfall, Miss Adair,
sie scheinen sich den Kopf angestoßen zu haben."

Ich zog die Decke wieder zurück, bemüht, die Anstrengung zu verbergen.

Man merkte an seiner Stimme, dass dies für ihn Routine war. Ich versuchte krampfhaft, mich an den Unfall zu erinnern, doch mein Kopf war leer.

Ich senkte meinen Blick und schaute dabei fast automatisch auf die Datenkartei am Ende meines Bettes.

Livia Adair, geboren am 13.10.2006, weiblich.

Livia Adair, wiederholte ich in meinem Kopf, doch wieder schien alles leer zu sein.

Ich realisierte, dass mir weder bewusst war, dass mein Name Livia Adair war, noch kam mir das Geburtsdatum irgendwie bekannt
vor. Generell schien ich keine einzige Erinnerung zu haben, weder an den Unfall noch an mich. Es schien mir, als
hätte ich nie existiert.

Ich spürte, wie die Angst in mir hochstieg - eine Angst, von der ich glaubte, sie noch nie zuvor gefühlt zu haben.

„Ms. Adair?", die Stimme von Dr. Nelson klang verschwommen. Ein Kloß und starker Durst begannen sich in meinem Hals zu bilden.

„Ich...", stammelte ich. Meine Stimme klang leise und belegt. Sprechen erschien mir nicht selbstverständlich.

„Könnten Sie mir bitte etwas zu trinken bringen?", bat ich ihn, um die Stille zu brechen.

Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, als Dr. Nelson mir bereits ein Glas Wasser eingeschenkt hatte und es mir hinhielt. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich versuchte, meinen Durst zu löschen oder doch den riesigen Kloß herunter zu spülen.

Vermutlich beides. Als ich das Glas geleert hatte, fragte mich Dr. Nelson: „Wie fühlen sie sich? Tut ihnen etwas weh?"

Gedanklich überprüfte ich jeden Teil meines Körpers und antwortete dann: „Nein, ich habe etwas Kopfschmerzen, es geht schon, aber... ich zögerte einen Moment und fuhr dann langsam fort, ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich kann mich weder an den Unfall noch an die Zeit davor erinnern."

Dr. Nelson sah mich an, jedoch nicht so wie ich es erwartet hatte. Sein Blick war nicht überrascht, auch nicht besorgt. Es war etwas anderes. Es war gleichgültigkeit, fast schon langeweile und dennoch fragte er mich: „Wie viele Finger zeige ich hoch?" während er eindeutig vier Finger hochhielt.

Ich war nicht geistig verwirrt oder durchgeknallt, sondern hatte keine Erinnerung mehr.

„Vier Finger", sagte ich unbeeindruckt.

Er nickte. „Das wird vermutlich in den nächsten Tagen nachlassen. Bei ihrem Gedächtnisverlust handelt es sich vermutlich um eine temporäre Amnesie", so die Vermutung von Doktor Nelson.
"Ruhen sie sich jetzt erstmal aus."

Und das hatte er jetzt mit Hilfe von vier Fingern herausgefunden?

Er stand auf und stellte den Stuhl wieder an den Tisch. „Ich werde jetzt Ihre Eltern informieren, dass Sie aufgewacht sind. Sie wollten Sie gerade besuchen kommen."

Er verließ ohne eine weitere Bemerkung den Raum.

Wenige Minuten später stürmte eine schlanke, dunkelblonde Frau, vielleicht Mitte dreißig, ins Zimmer und fiel mir um den Hals.

,,Oh Schatz, zum Glück geht es Dir gut. Ich hätte Dich nicht zu Emma gehen lassen sollen..."

Emma? Wer war Emma und wer war sie überhaupt? Ich zuckte zusammen und erwiderte ihre Umarmung nicht.

,,Was ist los, Livia?" , fragte sie besorgt, während sie mich langsam losließ.

Es war komisch, diese Frau kam mir irgendwie bekannt vor; dennoch war sie mir fremd. Ich wollte nicht, dass sie mich umarmte.

Die Tür öffnete sich erneut, Dr. Nelson und ein gut gekleideter, rundlicher Herr kamen hereingestürzt.

,,Miss Adair, Ihre Tochter hat einen Erinnerungsverlust erlitten", sagte Dr. Nelson, während er versuchte, sich wieder zu sammeln.

Die Augen der Frau wurden starr und glasig, fast wie die einer Puppe. Eine Träne lief langsam ihre Wange herunter. Dr. Nelson brachte einen Stuhl und half ihr, sich zu setzen. Erst jetzt realisierte ich, dass die Frau Mrs. Adair hieß. Sie hatte meinen Nachnamen - oder ich vielmehr ihren. War sie ... war sie etwa meine Mutter?

Ich musterte ihre blasse Haut und ihre braungoldenen Haare, die identisch mit denen von mir zu sein schienen-naja vielleicht etwas gepflegter. Während ich wie ein halber Obdachloser aussah, hätte sie direkt einer Shampoo-Werbung entsprungen sein können.

,,Livia erinnert Du Dich an mich?", fragte nun der rundliche Mann zögerlich.

Ich schien diese Leute nicht zu kennen und dennoch tat es mir wahnsinnig leid, als ich den Kopf schüttelte.

Dr. Nelson schaute mitleidig in die enttäuschten Gesichter meiner Eltern. ,,Ich denke, es wäre besser, wenn wir Livia etwas schlafen lassen. Sie können sie morgen wieder besuchen", schlug Dr. Nelson vor.

Der Mann, der dem Anschein nach dann mein Vater sein musste, nahm meine Mutter in den Arm und verließ schluchzend das Zimmer.

Dr. Nelson verabschiedete sich mit den Worten ,,Versuchen Sie zu schlafen, ich schaue später nochmal nach ihnen." Er folgte meinen Eltern nach draußen.

Auch nachdem der Raum, abgesehen von mir leer war, schaute ich regungslos auf meine Bettdecke. Ich konnte hören, wie sich das Weinen meiner Mutter und die tröstenden Worte meines Vaters immer weiter entfernten - bis schließlich nur noch das monotone Piepen des Herzfrequenzgerätes und ab und zu das hintergründige Geräusch vorbeirollender Patientenbetten im Flur zu hören war.

...

Meine Eltern besuchten mich, am nächsten Morgen und auch in den Tagen danach. Sie brachten jedes Mal Fotos und Gegenstände von meinem früheren Leben mit- unter anderem ein Stofftier. Genau genommen war es ein Hase- dreckiger Stoff, angenähtes Auge, vielleicht etwas mitgenommen, aber eigentlich ganz süß.

,,Das ist Mäxi, dein früheres Kuscheltier. Du hattest ihn immer dabei, egal wo wir waren", erzählte Dad während er in der anderen Hand einige Fotos von mir und dem Hasen hielt. "Ich lasse ihn Dir hier."

Mit jedem Besuch, mit jedem Foto und jedem Gegenstand, den sie mitbrachten, erschienen sie mir jeden Tag etwas weniger fremd. Es bedeutete mir etwas, zu sehen, dass sie sich bemühten, es linderte das bedrückende Gefühl, allein zu sein.

Die Erinnerungen, die ich erlangte, waren eher Ausschnitte oder Bruchstücke, eigentlich waren es auch nur die Dinge, die Mom oder Dad mir erzählten.

Zuerst hatte ich mich über alles Neue, was ich wusste  gefreut, doch dann schlichen sich die Zweifel ein. Waren das überhaupt meine Erinnerungen? Konnte ich alles glauben, was mir diese Menschen erzählten? Hatte ich diese Erinnerungen wiedererlangt, oder hatten sie vielmehr so lange auf mich eingeredet, bis ich sie als eigene unterstellte? War es nicht vielmehr Einbildung getrieben von dem Wunsch, etwas wahrhaftig zu wissen bzw. zu erinnern? Ich hatte keine einzige Antwort auf all diese Fragen und auch sonst keiner konnte mir diese geben, selbst wenn ich mich getraut hätte zu fragen. Es war ungewiss und wenn ich eins hasste, dann war es Ungewissheit.

Ich hatte nicht vor vielem Angst, zum Beispiel nicht vor Spinnen oder Schlangen wie die meisten Menschen. Doch etwas, womit ich schlecht umgehen konnte, war Ungewissheit. Es machte mir Angst. Was geschieht nach dem Tod? Ist das Universum unendlich? Wann wird das Ende der Menschheit sein? All diese Fragen habe ich mir schon tausend Mal gestellt und immer bin ich zum selben Schluss gekommen. Man kann Hypothesen aufstellen, seiner Religion vertrauen oder sich einfach keine Gedanken darüber machen, doch am Ende hat niemand mit hundertprozentiger Sicherheit eine Antwort auf diese Fragen. Vielleicht ist das auch besser so- vermutlich sogar. Und dennoch hasse ich es. Mir wäre es lieber, die schreckliche Wahrheit zu kennen, als mit Ungewissheit leben zu müssen. Es gibt mir das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

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Hallo und herzlich Willkommen bei meiner Geschichte. Ich hoffe, Dir hat das erste Kapitel gefallen. Wenn ja, freue ich mich natürlich über einen Vote ♡.

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