06. Von Tabak und Pfeifen

Emerald stürzte durch die vielen, langen Flure, die alle gänzlich in dem klinischen weiß strahlten, während sie jeden Winkel und jede Ecke nach ihren Eltern oder Zayn absuchte, die ihr versichern sollten, dass das alles bloß ein idiotischer Scherz und sie völlig umsonst hierher gerast war, doch sie erblickte bloß die gereizten Krankenschwestern, die ihr irgendwelche wüsten Beschimpfungen hinterherriefen, da es Emerald nicht gestattet war, durch einige der Türen zu gehen, allerdings war das der jungen Washington mehr als nur egal, obwohl sie dadurch mehr als nur einmal beinahe über am Boden liegende Taschenhenkel gestolpert und gegen Medizinschränke gerannt war. Die kalten nassen Haare klebten ihr im Gesicht und überall hinterließ sie Spuren in Form von kleinen Pfützen, die in einem Krankenhaus ganz schön gefährlich werden konnten. Sie rannte gerade durch einen kleinen Seitengang zwischen den Patientenzimmern, als jemand ihren Namen rief, jedoch war es weder ihr Vater noch sonst jemand aus ihrer Familie, dennoch wusste die junge Washington genau, wer nach ihr gerufen hatte.
Schlitternd kam Emerald zum Stehen und blickte zurück. Die böse Hexe des Westens marschierte mit festen Schritten auf sie zu, was durch ihr seltsames, pinkes Kostüm und die unnormal hohen Absatzschuhe bloß albern aussah, doch in diesem Augenblick war es Emerald egal, wie sehr sie Sharleen verabscheute oder wie gerne sie ihr einen ordentlichen Tritt gegen den hohlen Schädel verpasst hätte, wenn diese Frau auch nur annähernd wusste, wo sich ihr Großvater befand, dann würde selbst Emerald über ihren Schatten springen können.

"Wo ist er, Sharleen?", fragte Emerald gehetzt, doch schon bei dem Gesichtsausdruck der Sektetärin ihres Vaters wurde der jungen Washington speiübel. Das durfte einfach nicht wahr sein!

"Komm mit, Kind", sagte Sharleen mit ihrer rauchigen Stimme und strich sich durch die schwarzen, kurzen Haare, die - ganz untypisch für sie - zerzaust und durcheinander waren.

Die Sekretärin führte Emerald den Gang zurück, dann nach rechts, ehe sie erneut rechts abbogen und die Rothaarige schon ihren Vater sehen konnte, wie er den Kopf auf die Hände gestützt in gekrümmter Haltung vor dem Patientenzimmer auf einer Bank kauerte. Ihre Mutter neben ihm stehend, eine Hand auf seiner Schulter. Emeralds Herz rutschte ihr in die zerrissene Hose und mit wenigen Sätzen war sie zu ihm gehechtet.

"Hey!", rief Sharleen ihr noch nach, doch Emerald schenkte ihr und auch ihren Eltern keinerlei Aufmerksamkeit, vielmehr galt sie der Tür, die Emerald noch von ihrem Großvater trennte.

Bei dem Anblick, den ihr Vater bot, stand es um den alten Mann über siebzig nicht gut. Ihr geisterten die schlimmsten Vorstellungen durch den Kopf, doch nichts könnte schlimmer sein, als die pure Realität auf der anderen Seite. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Klinke und drückte gegen das weiß lackierte Holz.
Was wenn Mr. Washington sen. an einer Beatmungsmaschine angeschlossen war? Wenn er überhaupt nicht reden konnte? Wenn er im Koma lag? Tot war... Nein, das konnte und durfte einfach nicht sein. Die junge Washington kniff die Augen zusammen und trat ein. Ihr Mund klappte auf und benommen starrte sie auf das Krankenbett vor ihr.

"Gem!", rief Mr. Washington Senior.

Der alte Mann saß aufrecht in seinem Bett, hatte eine erloschene Zigarre im Mund stecken und sah sich gerade ein Tennisspiel im Fernsehen, der ihm gegenüber an der Wand hing, an. Um ihn herum wuselte eine Krankenschwester mit langen, braunen Haaren um die zwanzig. Sie hatte ein Klemmbrett in der Hand und schien zum wiederholten Male zu versuchen, ihm den Zigarrenstummel aus dem Mund zu ziehen, doch Jim senior weigerte sich standhaft.

"Das ist meine Lunge, die ich zerstören darf, wie ich es will!", polterte er, worauf die junge Schwester erschrocken zusammenfuhr und schleunigst das Weite suchte.

"Grandpa, dir geht es gut", hauchte Emerald überrascht.

"Ja, freilich, Gem. Wieso auch nicht?", sagte er nun in deutlich sanfteren Ton, den er immer anschlug, wenn er mit seiner Lieblingsenkelin sprach, die auch seine einzige Enkelin war.

"Dad rief an und..."

Der Greis brachte sie mit einer abwertenden Handbewegung zum Schweigen.
"Ach Pappalapapp, mein Sohn redet viel, wenn der Tag lang ist und verbreitet Angst und Schrecken, wo bloß Regenbögen und Hasen über das Feld hüpfen. Du kennst deinen Vater doch. Er macht immer gleich aus einer Mücke einen Elefanten."

"Aber Mr. Washington-" Die lebensmüde Krankenschwester kam wieder zurück, um die Dosis seiner Medikamente am Tropf zu verstellen.

"Ach, seien Sie still!", fuhr der Mann sie an.

Durch die wüsten Beschimpfungen seines Vaters hellhörig geworden, trat nun auch Jim Washington Junior in das Krankenzimmer. "Vater, du musst dich schonen."

"Firlefanz! Ich bin kerngesund!" Der alte Herr machte Anstalten, aus dem Bett aufzustehen, doch kaum hatte er einen Fuß auf den Boden gestellt, waren Emeralds Dad und die Krankenscherster zur Stelle, um ihn mit sanfter Gewalt wieder zurückzuschieben.

"Vater, du bist zu schwach."

Jim sen. schnaubte verächtlich. "Der einzige, der hier schwach ist, bist du, Junior."

Das war dann wohl das Stichwort, dachte Emerald. Der Streit war eröffnet, die Leute, die gerne Karten kaufen wollten, müssten sich nicht beeilen. Die beiden Herren wären damit mal eine Weile beschäftigt.

"Nenn mich nicht Junior!", rief ihr Dad aufgebracht.

"Du bist doch mein Sohn oder? Vielleicht bist du auch bloß ein weiterer Idiot in Anzug und Krawatte."

Emerald fühlte sich mehr und mehr fehl am Platz und wollte schon ihren Rücktritt angehen, da packte ihr Vater sie am Arm und verhinderte ihr Vorhaben.
"Wenigstens bin ich kerngesund!"

Verzweifelt versuchte die junge Washington sich aus dem Griff ihres Vaters zu befreien. Wo war nur Zayn, wenn man ihn brauchte? Er war einfach großartig darin, die beiden Streithähne zu trennen, während sich Emerald zu jeder Sekunde auf die Seite ihres Großvaters stellen würde. Nicht einmal unbedingt aus dem Grund, weil er Recht hatte, vielmehr um ihrem Vater eins auszuwischen, doch gerade jetzt, wollte sie sich bloß aus dem ganzen raushalten. Sie wollte endlich erfahren, wieso ihr Grandpa überhaupt hier war.

"Ich mag alt und krank sein, doch du, Junior, du bist ein Langweiler."

"Nenn mich nicht so!", schrie Emeralds Dad und schlug seinem Vater den Zigarrenstummel aus der Hand.

Die Zimmertür wurde erneut aufgestoßen und Emeralds Mutter, Cecilia Washington, betrat den Raum.
"Was ist denn hier los?", fragte sie entsetzt.

Hinter ihr versuchte Sharleen einen Blick in den Raum zu erhaschen, doch da war die Tür schon wieder zugefallen.

"Jim!"

"Was?", riefen die beiden Männer unisono.

Jim senior lachte. "Und genau deshalb nenne ich dich Junior." Das Lachen verwandelte sich recht schnell in ein röchelndes Husten. Erschöpft und außer Atem ließ er sich zurück auf sein Bett sinken, sofort eilten die Krankenschwester und Emeralds Vater wieder zu ihm.

"Vater...", setzte Mr. Washington Junior erneut an, doch sein Vater schüttelte nur mit dem Kopf.

"Junior, lass es sein und verschwinde von hier. Ich will jetzt mit meiner Enkeltochter sprechen."

Cecilia nahm ihren Mann bei der Hand und führte ihn hinaus auf den Flur. Sie wünschte ihrem Schwiegervater eine gute Besserung, biss sich auf die kirschroten Lippen und nickte ihrer Tochter zu. Emeralds Mutter war keineswegs kalt, nur hatte sie noch nie gut mit Gefühlen umgehen können. Krankenhäuser waren für sie die Pest und dass sie sich trotzdem hier her bewegt hatte, konnte nichts Gutes bedeuten. Emerald setzte sich zu ihrem Großvater ans Bett und ließ den Blick durch das weiße Zimmer schweifen. Alles hier drin war weiß und kalt, keimabstoßend und furchtbar grell. Das Neonlicht brannte ihr in den Augen, doch viel mehr beunruhigten sie die vielen kleinen Blumenbouquets, welche sie vorher noch gar nicht bemerkt hatte, dabei waren sie abgesehen vom schwarzen Fernseher der einzige bunte Farbklecks in dem sonst so tristen Zimmer. Viele Grußkarten, Besserungswünsche und Luftballons waren an die Sträuße gebunden. Beinahe hätte man meinen können, ihr Großvater hätte viele viele Freunde, doch Emerald wusste es besser. Das war nicht von Freunden oder Bekannten. All die Blumen, so teuer sie auch sein mochten, waren genauso kalt und herzlos wie der Rest des Zimmers.

"Ziemlich traurig, oder?", fragte ihr Großvater noch immer hustend.
"Die einzigen, die mir Glückwünsche schicken, sind meine Mitarbeiter, die auf eine Gehaltserhöhung pochen."

Aus der Nähe betrachtet sah Mr. Washington senior dann doch kränklicher aus, als er zugeben wollte. Seine eingefallenen Wangen zitterten bei jedem Husten, die sonst so üppige Haarpracht hatte sich in dünne, graue Strähnen verwandelt. Er hatte abgenommen, jede Menge und seine Augen hatten ihren Glanz verloren.

"Grandpa, wie geht es dir wirklich?", fragte Emerald.

"Mein Leben lang habe ich gearbeitet. So hat es mir mein Vater vorgelebt und dessen Vater ihm und, und, und... ich habe mich der Arbeit verschrieben und von meinem Sohn das selbe erwartet, doch das war falsch. Dein Vater wird nicht mehr auf mich hören, aber du schon. Ich weiß von dem Vertrag, ich weiß von eurem Deal.
Gem, du sollst nicht in die Firma einsteigen. Du bist viel zu klug, viel klüger als ich oder dein Vater, viel zu klug um für ihn zu arbeiten. Du musst dein Leben leben, denn am Ende deines Weges musst du noch in den Spiegel sehen können, ohne dich vor dir selbst zu ekeln. Für mich ist es zu spät."

Er setzte sich auf, Emerald wollte ihn daran hindern, doch er griff nach der obersten Nachttischschublade und zog sie auf. Ein heller Umschlag lag in dem weißen Holzkasten.
Er drückte ihr den Umschlag in die Hand und gebot ihr ihn einzustecken.

Gem
Nicht öffnen vor deinem 18. Geburtstag

"Was?" Emerald blickte verwirrt auf.

"Verstecke ihn, bewahre ihn auf und zeige ihn nicht deinem Vater, auf keinen Fall. Das ist das wichtigste. Hast du mich verstanden?"

Eindringlich musterte der alte Greis seine Enkelin, bis sie schließlich nickte und das Papier in ihrer Tasche verschwinden ließ.
So hatte sie ihren Großvater noch nie mit ihr sprechen hören, so bestimmt und ernst. Er war eigentlich immer für einen Spaß zu haben, brachte sie zum lachen, wenn ihr nach allem anderen zu Mute war.

"Grandpa, was ist los. Wieso bist du hier?" Sie musste es so oft versuchen, bis er nachgab.

Der alte Mann griff erneut zu einer Zigarre und einem Feuerzeug aus der Hemdtasche des Nachtgewands, dass jeder Patient im Krankenhaus erhielt, ehe er antwortete: "Meine Lunge ist im Eimer, war zu erwarten."

Er steckte sich die Fluppe zwischen die Zähne und versuchte mit seinen zittrigen Händen, die Spitze zu entflammen.
Wieso rauchte er noch?
Die Krankenschwester sah das wohl genauso, denn kaum hatte ihr Großvater einen Atemzug getan, flog die Tür erneut auf und sie trat ein, um ihm die Zigarre aus dem Mund zu ziehen.

"Mr. Washington, Rauchen ist auf der Station verboten. Das wissen sie doch."

"Ich zahle Unsummen für diesen Aufenthalt, den ich nicht einmal will und jetzt wollen sie mir das Recht nehmen, meine Gesundheit zu ruinieren? Die ist doch schon längst ruiniert!"

"Sir, wenn sie rauchen möchten - und ich rate ihnen ganz dringend davon ab - müssen sie das außerhalb des Krankenhauses tun."

Jim sen. wollte sich schon wieder aufraffen, doch genau in dem Moment wurde die Zimmertür aufgestoßen und hereingehechtet kam Zayn Washington. Abgehetzt und noch die Drumsticks in der Hand betrat er den Raum, nur um seinen Großvater bei bester Gesundheit vorzufinden. Die Strähnen seines dunkelbraunen Haares fielen ihm ins Gesicht und verdeckten beinahe die schokoladenfarbenen Augen. Äußerlich hätten die Washington-Geschwister nicht unähnlicher sein können.

"Großvater, du lebst!", rief Zayn erleichtert aus und erntete dafür einen ziemlich irritierten Blick der Krankenschwester.

Auch Emerald musste sich beherrschen, um nicht leise zu kichern.

"Selbstredend lebe ich noch! Wer etwas anderes behauptet, wird meinen Zorn zu spüren bekommen!", polterte Mr. Washington, "Ich bin ein alter, sturer Bock. So schnell gebe ich nicht klein bei."

Zayns Erleichterung verwandelte sich in ein verschmitztes Grinsen, die Drumsticks noch immer in der Hand setzte er sich an die Fensterbank und begann einen stetigen Rhythmus an der Scheibe zu trommeln. Das tat er immer, wenn die Nervosität ihn übermannte.

"Oh", sagte die Schwester mit einem schaf-artigen Ausdruck im Gesicht, "Spielen Sie Schlagzeug?"

Sie strich sich die braunen Haare hinter die Ohren und lächelte zu Zayn auf. Dieser nickte grinsend und begann sie in ein Gespräch über irgendwelche Rockbands aus den sechzigern zu verwickeln. Die zwanzigjährige schien nicht die geringste Ahnung zu haben, was er von ihr wollte, doch sie hing an seinen Lippen, als würde er ihr soeben die Weisheit des Lebens zu Füßen legen.
Jim Senior zwinkerte Emerald zu, die ihren Bruder nur mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Flirtete Zayn jetzt wirklich mit der Krankenschwester seines Großvaters?
Als hätte draußen vor den Türen nur jemand darauf gewartet, trat Cecilia ein. Ihre sonst immer so perfekten dunkelroten Haare, steckten nicht wie üblich in einem strengen Knoten, sondern fielen ihr locker über die Schultern. Es stand ihr, es erinnerte Emerald daran, dass ihre Mutter kein kalter Roboter sondern ein wirklicher Mensch war, ein Mensch mit Gefühlen und Fehlern, vielen vielen Fehlern, die außer Emerald niemand zu bemerken schien.

"Sie", Cecilia Washington deutete auf die brünette Krankenschwester, die abrupt ihre Haltung begradigte und schuldbewusst aufblickte, "Mein Schwiegervater sollte schon seit fünf Minuten eine Kanne Pfefferminztee auf seinem Nachttisch stehen haben!"

Emeralds Mom strahlte eine solche Macht aus, dass das Mädchen beinahe aus dem Zimmer stürmte, um Mr. Washington den bestellten Tee zu holen.

"Bezahlt man Sie hier für das Flirten mit meinem Sohn?!", rief sie der Krankenschwester noch hinterer und schloss dann mit einem Kopfschütteln die Tür.

Im Zimmer war es für einen Moment totenstill, ehe Emerald, Zayn und Jim Washington in ein röhrendes Gelächter ausbrachen. Zayns Wangen und Ohren verfärbten sich so rot, dass sich Emerald noch weniger beherrschen konnte.

"Ich habe nicht geflirtet!", sagte Zayn ein paar Sekunden später angesäuert, was Emerald und ihren Großvater nur noch mehr zum Lachen animierte.

Je mehr der Washington Sohn darauf bestand, umso lustiger schien es zu werden, so dass Emerald noch immer wie ein Huhn gackernd in der Luft hing, als die Schwester mit der Teekanne zurückkam. Leicht verwirrt stellte sie die Tasse und den Tee auf das Tischchen neben Jim Senior, steckte Zayn einen Zettel zu und verschwand mit einem letzten verstörten Blick auf Emerald den Raum.

"Du hast überhaupt nicht geflirtet, richtig", grinste Emerald und schnappte sich den Zettel, den Zayn soeben in seine Hosentasche stecken wollte.

"Hey!", maulte er und griff nach dem Handgelenk seiner Schwester, verfehlte sie aber um wenige Zentimeter.

Mr. Washington beäugte seine Enkel mit einem kleinen Glitzern in den Augenwinkeln. Bewusst darüber, dass er das wohl eine sehr lange Zeit nicht mehr sehen würde.
Die Rothaarige stieg auf die Fensterbank, um vor ihrem Bruder in Sicherheit zu sein und hielt den Zettel so weit nach oben, wie sie nur konnte.

"Damit du mir noch mehr über Popmusik aus den 70ern erzählen kannst", las Emerald laut vor und grinste. "Nah dran, das muss ich ihr lassen. Pop - Rock, 70er - 60er. Ist doch alles Jacke wie Hose."

Zayn schüttelte den Kopf.

"Hat sie mir gar nicht zugehört?"

Enttäuscht entriss er Emerald den Zettel, rollte ihn zusammen und warf ihn in den Mülleimer neben der Tür.
Gespielt mitleidig tätschelte ihm seine Schwester die Schulter und ließ sich auf der Fensterbank sinken. Ihre Füße baumelten in der Luft und die kleinen Absätze ihrer Schuhe schlugen in unregelmäßigen Abständen gegen die Heizung darunter.

"Nun", warf Jim Washington ein, "wenn du sie nicht willst... ich habe sie ohnehin zuerst gesehen."

Überrascht sahen die Geschwister zu ihrem Großvater auf, ehe Emerald angewidert die Nase rümpfte.

"Grandpa!", rief sie entgeistert.

Der alte Mann lachte herzhaft, bevor es in einem röchelnden Husten endete, bei dem sich Emerald die Nackenhaare aufstellten. Die Krankenschwester hatte Recht behalten mit der Zigarre, er war nur ein alter Sturkopf, der nicht wahrhaben wollte wie es um ihn stand, der nicht sehen wollte, wohin ihn das trieb oder noch schlimmer... es war ihm egal.

"Großvater, geht es dir gut?"

Besorgt beugte Zayn sich zu ihm herunter ans Bett, doch darum hatte der Alte nicht gebeten, er wollte nicht umsorgt werden. Mit einer Handbewegung schickte er ihn fort.

"Junge, mir geht es blendend. So ein Mädchen müsste froh sein, einen tollen jungen Hüpfer wie mich zu finden, ich habe Geld, doch das ist mir nicht wichtig, ich bin gut aussehend, doch weder eitel noch arrogant, ein echter Charmeur der alten Schule und der Klassenclown dazu und...", er hustete, "Besitzer einer nicht funktionstüchtigen Lunge. Ein wahrer Hauptgewinn."

**

Die Tür hinter sich zu ziehend, verließen die Geschwister das Krankenzimmer und gesellten sich zu ihren Eltern in einen nahegelegenen Wartebereich, gerade als Sharleen mit drei großen Tassen Kaffee in der Hand auf sie zu stolziert kam. Sie überreichte Mr. und Mrs. Washington je eine Tasse und wollte die dritte gerade selbst an die Lippen setzen, als Zayn sie ihr aus der Hand nahm und ihr mit einem aufgesetzten Grinsen für das dringend benötigte Koffein dankte. Emerald beobachtete nur zu gerne, wie sich Sharleen zusammenreißen musste, den Mund zu halten, wo ihr Chef doch keine zwei Meter neben ihr stand, der zufällig auch noch der Vater des ungezogenen Bengels war, wie Sharleen in nur allzu oft hinter Jim Washington jun. Rücken nannte. Ebenso war ihr säuerlicher Anblick einfach nur ergötzend, als Emeralds Vater einen Arm um seine Frau legte, die sich daraufhin zaghaft lächelnd mit einem hauchdünnen Kuss auf seiner Wange bedankte, der jedoch leichte Lippenstiftspuren hinterließ, die Cecilia mehr schlecht als recht entfernte und sich wieder in eine gerade Position brachte, in der sie wieder als der leblose Roboter gelten könnte, den sie über die Jahre perfektioniert hatte.

"Wie geht es Großvater wirklich?", brach Zayn die Stille und traute sich zu fragen, was Emerald schon seit ihrer Ankunft auf der Seele brannte.

Mr. Washington sah auf, tiefe Furchen prägten seine Züge. Der sonst so gefasste und stolze Mann, hatte die Mauern fallen gelassen. Alles was noch von ihm übrig blieb, war ein hilfloser Junge, der den eigenen Vater zu Grabe tragen würde. Emerald konnte diesem Blick nicht standhalten, sie wandte sich ab, wollte ihren Vater nicht so sehen.
Verrückt - all die Zeit, hatte Emerald sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass ihr Vater zu wahren Emotionen fähig wäre, doch in dem Moment, in dem er so verletzlich schien, da konnte sie seinen Anblick nicht ertragen.

"Er wird's schon schaffen", antwortete Mr. Washington in einem nicht einmal halb so glaubwürdigen Tonfall, wie dem den er sonst an den Tag legte.

"Ein zäher Mann wie er, der wird niemals sterben. Dafür ist er viel zu stur."

Das leichte Kräuseln seiner Mundwinkel gab Emerald Hoffnung, auch wenn Jim Washington wahrscheinlich nur sich selbst zu überzeugen versuchte.
Emeralds Eltern griffen einander bei den Händen und atmeten tief durch. Die junge Washington warf den beiden einen verwirrten Seitenblick zu. Wieso brauchte es erst eine Katastrophe, dass ihre Eltern - einmal in all den Jahren seit Emeralds Geburt - ihre Masken ablegten und zum Vorschein kam, dass auch sie wahre Gefühle besaßen. Wieso konnten sie nicht sein, wie alle normalen Eltern? Die hin und wieder peinlich waren, von ihren Kindern unablässig Bilder schossen, Filmeabende veranstalteten, bei denen die ganze Familie zusammenkam.
Emeralds Eltern waren ihr nicht peinlich, sie schämte sich regelrecht die Tochter zweier Roboter zu sein, denen die Wünsche und Träume der eigenen Kinder bloß egal waren. Noall hatte vielleicht nur seine Mutter, doch seine Mutter war ihm mehr Mutter und Vater gewesen, als es Jim und Cecilia je könnten. Wenn es zwei Menschen gab, die sich nie hätten fortpflanzen sollen, waren es die beiden. Ihre elterlichen Fähigkeiten beschränkten sich darin, anderen aufzutragen, was sie mit ihren Kindern zu machen hätten.

"Nun kommt", sagte Mr. Washington.

Er warf Sharleen einen kurzen Blick zu und nickte zum Ausgang.

"Sharleen, lassen Sie doch bitte den Wagen vorfahren. Die Familie fährt nun nach Hause und hier-"

Aus seinem Aktenkoffer zog er seine Brieftasche und fischte einen hundert Dollar Schein heraus.

"Sir?"

Sharleen strich sich nervös durch die kurzen schwarzen Haare und spitzte die pinken Lippen. Der verliebte Ausdruck in ihren Augen ließ Emerald beinahe würgen, während Zayn nur belustigt dreinschaute.

"Für das Taxi", ergänzte ihr Vater, doch Sharleen schien noch immer nicht zu verstehen.

"Taxi?"

Emerald rollte mit den Augen, doch bevor sie der alten Schnepfe selbst erklären konnte, was das alles sollte, ergriff Cecilia Washington das Wort, die tatsächlich genauso genervt von dem Verhalten der Sekretärin ihres Mannes war wie ihre Tochter.

"Die Familie nimmt die Limousine nach Hause, Sie nehmen ein Taxi ins Büro! Zur Familie gehören Sie ja wohl nicht, oder?!"

Ganz überrumpelt von der Härte in der Stimme seiner Liebsten, sah Mr. Washington stillschweigend nach rechts, ehe er mit einem professionellen Nicken die Aussage seiner Frau bestätigte.

"Nein, Ma'am." Sharleens Wangen verfärbten sich glühend rot.

Sie hätte einem ja beinahe leid tun können, doch was hatte sie auch erwartet, wenn sie sich benahm wie Mr. Washingtons zweite Ehefrau, während er selbst ahnungslos wie eh und je nichts sagte, seine Frau jedoch all ihre Spielchen durchschaute.

"Dann fahren wir jetzt nach Hause. Kommt, Kinder."

Cecilia legte je eine Hand an den Rücken ihrer Kinder und schob sie mit sanfter Gewalt aus dem Krankenhaus, fort von Jim Washington Senior, fort von der Wahrheit, fort von dem Ort, an dem Emeralds Eltern ihre Masken zum ersten Mal fallen gelassen hatten.

Zurück in eine Welt aus Lügen, Schauspiel und vorgetäuschter Perfektion.

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