05. Kaffeeklatsch

Das Café Darya war Emerald und Noalls Standarttreffpunkt nach einem harten Tag, wenn sie bloß noch den Kopf entlasten und entspannen wollten oder an Tagen, die nicht besser hätten sein können, weswegen sie jemandem unbedingt davon erzählen mussten. Heute war wohl eher ein schlechter Tag gewesen.
Mühsam schleppten sich die beiden an einen der hinteren Tische und ließen sich auf der gepolsterten Holzbank nieder, als schon die eifrige Kellnerin zu ihnen huschte, um ihre Bestellungen entgegenzunehmen.

"Hallo Noall", strahlte das Mädchen, das laut ihrem Namensschild Roxanne hieß.

Ihre Afro-Locken hatte sie versucht in einem Zopf zu bändigen, es blieb allerdings bei dem Versuch. Noall grinste zurück und vertiefte sich dann wieder in die Menükarte, Emerald hingegen wusste bereits, was sie wollte und bestellte einen Milchshake und einen Schoko-Muffin.
Roxanne notierte sich ihren Wunsch, dann Noalls und eilte zurück in die Küche.

"Ihr kennt euch?", fragte Emerald und hob eine ihrer Augenbrauen.

Noall wurde knallrot, was seine beste Freundin mit einem Lachen quittierte. Die einzigen richtigen Bekanntschaften, die Noall mit dem weiblichen Geschlecht gemacht hatte, waren die Freundinnen seiner Großmutter, die jeden Mittwoch zum Tee vorbeikamen, so war es doch schön, dass er ein hübsches Mädchen kennengelernt hatte, das nicht allzu verrückt wirkte... oder über 60 war.

"Hör auf zu lachen, sie kommt gleich wieder", murmelte er verlegen.

"Oho, du machst dir ja richtig Gedanken um sie."

"Emy..." Genervt stöhnte er auf und ließ sich gegen die Rückenlehne sinken, sein Kopf kippte nach hinten in den Nacken.

Emerald grinste weiter in sich hinein und begann, dem regen Treiben in dem kleinen Café ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Nicht viele Schüler der Bishop Church High kannten das Darya, was auch ein Grund war, weshalb es Emerald und Noall hier gefiel, so mussten sie nicht auch hier den abwertenden Blicken ihrer Mitschüler unterliegen und konnten den gefräßigen Monstern entfliehen, die immer auf der Suche nach leichten Opfern waren. An den Tischen saßen hauptsächlich Familien. Mutter, Vater und Kinder, ab und zu waren die Kleinen auch mit Großeltern unterwegs. Dieser Anblick versetzte Emerald einen ungewollten Stich ins Herz, als sie sich dabei erwischte, an all diese Ausflüge mit ihren Eltern zu denken, die nie stattgefunden hatten, weil Mr. Washington nichts außer seiner Arbeit wichtig war und Mrs. Washington lieber mit ihren Freundinnen Kaffee trinken ging. Von ihrem Bruder und den unzähligen Arbeitskräften ihrer Eltern aufgezogen zu werden, war keinesfalls schlecht gewesen und doch beneidete Emerald diese Kinder, die so unbeschwert mit Mutter und Vater am Tisch saßen, ohne nur auf das nächste Piepen des Handys oder eine vorbeilaufende Bekannte zu warten, die das idyllische Beisammensein stören könnten.

"Eure Bestellung." Roxanne kam mit zwei Muffins, Emeralds Shake und Noalls Cola zurück.

Sie balancierte die Teller so auf ihren Unterarmen und hielt die Gläser in den Händen, als wäre es das einfachste der Welt, dabei wären Noall und Emerald schon dreimal gestolpert und hätten den Gästen, ihr Essen in den Ausschnitt gekippt.
Roxanne stellte alles vor ihnen ab, bevor sie jedoch wieder verschwand, bot sie den beiden mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen noch einen Kaffee an.

Noall konnte sich das Lachen kaum verkneifen, als die junge Washington dankend ablehnte und sagte: "Für die nächsten Jahre habe ich genug von Kaffee, danke."

Verwirrt verschwand Roxanne zurück in die Küche, um den anderen Gästen ihr Essen zu holen, doch Noall grinste immer noch wie ein Honigkuchenpferd, die genervte Stimmung war verpufft.

"Also, du wolltest reden?"

Noall biss glücklich in seinen Muffin, während er Emerald erwartungsvoll musterte.
Noch hatte sie die Bombe nicht platzen lassen und eigentlich hatte sie auch gehofft, er hätte es aus irgendeinem Grund vergessen. Allein schon bei dem Gedanken an ihre nächste Schwimmstunde wollte sich Emerald übergeben.

"Die schlechte oder die grausame Nachricht zuerst?", fragte sie scherzhaft. Leider war das ihr voller Ernst.

"Rück raus mit der Sprache."

Die junge Washington seufzte schwer, die letzten Tage waren nicht so verlaufen, wie sie sich das gewünscht hatte, ganz im Gegenteil. Die Hölle schien über ihr einzubrechen, als wäre sie schon lange viel weiter unten gewesen, doch nun gesellten sich ihre schlimmsten Albträume dazu.

"Fangen wir mit etwas Erträglichem an: Grayson Harper ist mein Laborpartner im Bio- und Anatomieunterricht."

Noall verschluckte sich beinahe an dem schokoladigen Ungetüm und begann zu husten und zu prusten, allerdings nicht wie der große, böse Wolf, vielmehr wie eins der Schweinchen, denn die kleinen Krümel, die er dabei ausspuckte flogen über den ganzen Tisch. Einige der Brösel blieben in Emeralds roten Locken hängen, was diese mit missbilligenden Blicken zur Kenntnis nahm.

"D-das war die gute Nachricht?"
Entsetzt ließ er sich gegen die Rückenlehne sinken und schüttelte ungläubig den Kopf. "Ich weiß nicht, ob ich die schlimme Nachricht hören will. Wieso ist er in deinen Kursen? Er ist doch ein Senior."

"Er braucht Zusatzkurse wegen seines Abschlusses - so ganz habe ich es nicht mitbekommen, ich war zu geschockt, als er auf einmal aufgetaucht ist."

Noall nickte verstehend. Den Kloß, der sich in seinem Hals bildete, konnte man fast schon sehen. Jegliche Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen, er ähnelte nun mehr der Wand als einem lebendigen Wesen.

"Grayson Harper...", murmelte Noall.

"Wie er leibt und lebt."

Emerald hatte ihren Milchshake beinahe geleert, sie wollte bloß noch die letzten Tropfen erwischen und stocherte mit dem Strohhalm in dem blöden Plastikbecher herum, was ein schlürfendes Geräusch zu Folge hatte, bei dem Noall sich am liebsten das Buttermesser vom Nachbartisch geliehen und in seinen Fuß gerammt hätte, um ihm zu entgehen.

"Emy! Bitte hör auf!", jammerte er, kniff die Augen zusammen und drückte sich die flachen Handflächen auf die Ohren.

"Was? Damit?", fragte die Washington herausfordernd und zog noch einmal kräftig an ihrem Shake.

"Du bist wirklich ein Teufel, ein kleiner Dämon, dem es in der Hölle wirklich gut gehen würde - damit könntest du alle in den Wahnsinn treiben."

"Ich merk's mir", lachte Emerald, "für alle Fälle ist ein Plan B bei der Berufswahl nicht verkehrt."

Noall warf hin und wieder nicht wirklich unauffällige Blicke in Richtung des Tresen, wo Roxanne die Gäste bediente.

"Bitte sie doch um ein Date", sagte Emerald trocken.

Ihr bester Freund drehte den Kopf so schnell in ihre Richtung, dass ein unangenehmes Knacken zu hören war.
"Jetzt würde ich gerne die grausame Neuigkeit erfahren."

"Ein geschickter Themenwechsel ist nicht so deine Stärke, was?" Sie grinste frech, doch erbarmte sich schließlich und erzählte ihm von Nathalie, die ab nun nicht mehr in kurzen Röcken sondern in Badeanzügen rumhüpfen würde.

"Mr. Hale hat was?! Ist das überhaupt erlaubt, die Eltern müssen doch bestimmt..."

"Er darf das. Aufgrund ihres unangebrachten Verhaltens wird sie die nächsten Monate im Schwimmteam verbringen. Sie musste aus dem Cheerleaderteam ausscheiden, doch wie jeder Schüler oder Schülerin hat auch sie Anrecht auf eine Sport AG und ihren Blicken nach zu urteilen, kann sie mich auf diese Weise noch besser quälen."

Wenn Nathalie wollte - und da war sich Emerald sicher - konnte sie ihr ihren schönen Plan, als Schlussschwimmerin im Sommer anzutreten, ins kalte Wasser werfen, wortwörtlich. Nathalie Fairchild war sehr schlau und gerissen, sie war ausgesprochen sportlich und wenn sie etwas wollte, dann bekam sie es für gewöhnlich auch. Egal wie viele Steine auf ihrem Weg lagen, es gab genug Kerle, die ihr liebend gern dabei halfen, sie aus dem Weg zu räumen.

Emerald zahlte trotz Noalls Einwänden für sie beide und schleifte ihren - nach wie vor - protestierenden besten Freund aus dem Café, doch nicht ohne Noalls Nummer auf eine kleine Papierserviette zu kritzeln, um sie zwischen die Dollarscheine zu schieben. Irgendwann wäre er ihr dafür dankbar, da war sich Emerald einfach sicher, auch wenn er jetzt noch nichts von seinem Glück wusste.
Emerald stieß die kleine Ladentür auf und erfrischender Herbstwind strömte in ihre Lungen und hüllte sie in eine Art Mantel, der alles für den Moment erträglicher machte. Sie schloss die Augen, genoss den Geruch von Kürbissen, die schon überall in den Straßen aufgestellt waren, feuchtem Herbstlaub und gemähtem Gras, ehe sie die Wirklichkeit wieder einholte. Noall stand schon einige Meter weiter, er blickte ungeduldig zwischen seiner Uhr und ihr hin und her, als hätte er es furchtbar eilig, dabei kam seine Mutter vermutlich erst gegen späten Abend nach Hause, nachdem sie ihre zweite oder dritte Schicht an diesem Tag beendet hatte. Noalls Mom arbeitete in einem Kaufhaus auf der Einkaufsmeile, in einem kleinen Buchladen in der Innenstadt und war noch freiberufliche Putzfrau, um sich Geld dazuzuverdienen, um Noall ein gutes Leben finanzieren zu können.
Schnell holte Emerald zu ihm auf, gemütlich begannen sie die kleine Straße entlang zu spazieren, jeder hing seinen eigenen, tiefen Gedanken nach, bis Noall soweit war, sie auch auszusprechen.

"Hey, Emy?"

Emerald hob den Blick, etwas verwundert musterte sie die geröteten Augen des honigblonden Jungen, der sich auf die Unterlippe biss, damit diese nicht zitterte.

"Nolli, was ist los?" Sie griff nach seiner Hand und drückte kurz zu.

Noall war kein verschlossener Mensch, er war ganz anders als Emerald. Im Gegensatz zu ihr, ging er gerne auf Menschen zu, er war zu jedem freundlich und liebevoll, er druckste nicht herum, sondern sagte, was in ihm vorging und was er dachte.

"Ich möchte herausfinden, wer mein Vater ist."

Emeralds Augen weiteten sich, sie hatte mit vielem gerechnet, doch nicht damit. All die Jahre war Noall sauer auf den Mann gewesen, der seine Mutter geschwängert und dann nie wieder angerufen hatte, er wollte von diesem Kerl nichts wissen, ein Idiot, der Mrs. Padmore sitzen gelassen hatte, dem es egal war, dass sie kaum über die Runden kamen. Noalls Mutter hatte sich nie wirklich zu den Anschuldigungen ihres Sohnes geäußert, erst vor wenigen Jahren widersprach sie ihm zum ersten Mal, als er ihre missliche Lage auf seinen Vater schob. Sie war ihm mitten ins Wort gefallen, hatte darauf bestanden, dass Noall nie wieder so über ihn sprechen würde. Laut ihr hatte Noalls Vater nicht gewusst, dass sie schwanger war, somit war es nie seine Schuld gewesen, dass Noall ohne ihn hatte aufwachsen müssen.
Es hatte ihren besten Freund schwer getroffen, zu erfahren, wie er all die Jahre einen Mann beschuldigt hatte, ein Leben ohne ihn zu führen, dabei hatte dieser gar keine andere Wahl gehabt.

"Wie kommst du denn darauf?", fragte Emerald.

Noall zögerte, er schien mit sich zu hadern, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Das sah ihm noch unähnlicher. Wenn Noall etwas auf dem Herzen hatte, war seine Emy die erste, die davon erfuhr.

"Ich war heute früh auf unserem Dachboden."

Emerald stutzte.

"Du bist freiwillig da hoch? Trotz der ganzen Spinnen und Käfer, die sich in den Ecken tummeln?"

Sie entlockte ihm ein verlegenes Grinsen.

"Ja, trotz der Spinnen."

"Haben sie dich nicht gefressen?"

"Nein", grummelte Noall gespielt böse und warf dann frustriert die Hände in die Luft. "Verdammt Emmy, darf ich jetzt die Geschichte weitererzählen?"

"Aber sicher, Nollilein."

Ihre Mundwinkel zuckten stark nach oben und kleine Lachfältchen zeichneten sich um ihre grünen Augen ab. Sie bemühte sich vergebens ernst zu bleiben, doch allein Noalls Augenbrauen, die er angestrengt zusammengezogen hatte, ließen Emerald in schallendes Gelächter ausbrechen. Einige der Passanten drehten sich verstört zu den beiden hin. Sie mussten einen wirklich albernen Eindruck machen.

"In einer der alten Kisten, denen hinter meinen ganzen Kinderklamotten, habe ich eine große Schatulle mit vielen Briefen gefunden. Sie mussten da schon lange gelegen haben, das Papier war völlig vergilbt."

Die beiden blieben zwischen zwei großen Ulmen stehen, deren Blätter in schönen gold-braun Tönen von den Ästen schwebten und die den Eingang zu einem kleinen Park flankierten. Die Sonne versteckte sich hinter dicken, schweren Wolken, welche die Umgebung in einen gräulichen Schleier tauchten. Emerald zog ihren Mantel etwas enger um sich, als eine Windböe ihr Haar erfasste und Laub zwischen ihren Beinen durchblies.

"Briefe von meinem Vater an meine Mutter und viele Briefe an ihn, Briefe die sie nie abgeschickt hat."

Er senkte den Kopf, schloss die Augen und versuchte sich an einem leichten Lächeln, doch er scheiterte kläglich.
Briefe, die sie nie abgeschickt hatte - Worte die sie nie ausgesprochen hatte.

Manche Dinge blieben besser ungesagt, dachte Emerald für sich und erinnerte sich an all die Streitereien mit ihren Eltern, Zayn und auch Jenny.

Einmal ausgesprochen war es schier unmöglich, etwas zurückzunehmen. Worte waren machtvolle Zauberformeln oder Waffen, sie ermöglichten es einem Schmerz zu lindern und zuzufügen. Vielleicht lagen die Briefe aus einem bestimmten Grund ungeöffnet, verschlossen in einer Kiste auf dem Dachboden hinter Noalls Spiderman-Pyjamas und den alten Jeans mit Mickey-Mouse-Aufnähern. Unberührt und verstaubt, darauf bedacht nicht entdeckt zu werden. Noall sollte die Schreiben nicht finden, niemand sollte das - verborgen vor aller Augen und eingeschlossen ins Herz.

"Sie hat über mich geschrieben, Bilder von mir eingeklebt - geschrieben, dass sie ihn vermisst, meinen Dad."

Noalls Stimme wurde mit jeder Sekunde kratziger, er räusperte sich, doch es half nichts. Tränen stiegen ihm in die Augen.

"Noall..."

"Sie hat sie adressiert, bloß nie abgeschickt!", rief er aufgebracht und trat einen Laubhaufen aus dem Weg, die Blätter stoben in alle Richtungen, ehe der Wind sie gen Osten davontrug.

"Noall..."

"Sie wusste all die Jahre, wo er lebt, doch sie hielt es nicht für nötig, uns zusammenzuführen."

Vielleicht wollte er das aber auch gar nicht.

"Sie hat mich die ganze Zeit belogen."

Emerald kämpfte mit den Tränen, als sie das schmerzverzerrte Gesicht ihres Freundes sah. Er versuchte sich völlig auf die Wut zu konzentrieren, die in ihm brodelte, doch am liebsten hätte er sich wohl auf dem Boden zusammengerollt und all die Enttäuschung freigelassen, die an seinem Herz nagte. All diese Gefühle empfand er nicht erst seit heute, dieses ganze Chaos in ihm wuchs schon eine geraume Weile, bis es nun endlich einen Auslöser gefunden hatte, um in die Luft zu gehen.

"Er lebt hier, hier in der Stadt - keine zwanzig Minuten von uns zu Hause entfernt", krächzte Noall.

"Und was willst du jetzt machen?", fragte Emerald, obwohl sie schon das schlimmste befürchtete.

Ihr bester Freund wich ihrem Blick aus, er wusste genau, dass sie nicht gutheißen würde, was er vorhatte.

"Ich will zu ihm fahren."

"Nein, Noall, das kann nicht dein Ernst sein."

Er biss sich auf die Lippe, zog sein Handy aus der Hosentasche und reichte es ihr. Auf dem Display war die Wegbeschreibung zu einer Adresse nicht weit von hier zu sehen. Zu Fuß würde es etwa vierzig Minuten dauern, wenn man die Abkürzung an der Kirche vorbei nehmen würde.

"Ich muss es einfach wissen", sagte er.

"Und deine Mom? Ist dir bewusst, was du ihr damit antust?"

"Das kommt gerade von dir." Er schnaubte verächtlich.

"Noall, rede doch wenigstens mit ihr und dann fahren wir morgen zusammen hin."

"Aber..."

Emerald fasste ihn an der Schulter und zwang ihn, ihr in die Augen zu blicken.

"Deine Mutter hat das nicht verdient."

Es waren die richtigen Worte gewesen. Emerald hatte es geschafft, Noall zu überzeugen, nicht aus purer Verzweiflung einen schrecklichen Fehler zu begehen. Ob es richtig war? Ihr bester Freund war nach dem Gespräch sofort nach Hause gefahren, um mit seiner Mutter zu sprechen, sobald diese nach Hause kommen würde. Emerald wollte noch nicht zurück fahren, je länger sie wegblieb, umso länger hätte sie Luft zum Atmen. In dem Moment, in dem sie über ihre Schwelle träte, würde sich der Sauerstoff in Gift verwandeln, das sie von innen heraus zerfraß und entscheidungsunfähig machte. Die Washington Villa raubte ihr das letzte bisschen Freiheit, das sie so wild umkämpfte. Also blieb sie auf der belebten Straße, der Honoral Avenue, spazierte an den Schaufenstern der kleinen, bunten Läden vorbei und genoss jeden vereinzelten Sonnenstrahl, welche um diese Jahreszeit immer seltener wurden. Der Sommer war endlich vorbei, doch die trostlose Stimmung des Herbstes bedrückte sie nicht weniger, als die unerträgliche Hitze. Auch wenn die schönen bunten Farben etwas Heiterkeit spendeten, sahen die vielen Bäume, die immer mehr Blätter verloren, bloß kränklich aus. All die Pflanzen starben, nur um im Frühling wie ein Phönix aus der Asche aufzuerstehen.

Sie lief ganz bis ans Ende, wo sich die Honoral Avenue und die Baltimore Street überkreuzten. Die kleine Einkaufsmeile schloss hier ab und machte mehreren Autowerkstätten und Industriefirmen Platz.
Die Werkstatt Emerald direkt gegenüber gehörte dem Vater einer ihrer Mitschülerinnen, Camille Steinfield, Nathalies rechte Hand, der Emerald ein ebenso großer Dorn im Auge war. Der beißende Gestank von Motoröl und Kühlerflüssigkeit brannte sich in ihre Nase, während sie weiterging. Es musste ja nicht sein, dass sie Camille - oder schlimmer noch Nathalie - in die Arme lief, obwohl sich die beiden wohl kaum in so einer Gegend blicken lassen würden, deshalb war es umso verwunderlicher als Emerald den einen Typ erkannte, der an einem eisblauen Sedan rumschraubte. Die schwarzen Haare hingen ihm zwar stark ins Gesicht, während er sich über die Motorhaube beugte, jedoch waren das markante Kinn und die schmalen, leicht geschwungenen Lippen Beweis genug, wer da stand. Nun blieb bloß die Frage: wieso?
Grayson Harper würde sich nicht einfach so die Hände schmutzig machen, bloß für die wenigen Groschen, die er bei Mr. Stainfield verdiente, zudem kam er nicht aus ärmlichen Verhältnissen und so, wie der ehemalige Quarterback in den letzten Jahren immer mit seinen tollen Besitztümern geprahlt hatte, bekam er von seinen Eltern genug Geld, ohne dafür einen Finger rühren zu müssen, doch wenn jemand über so etwas nicht urteilen sollte, war es Emerald höchst selbst. Gerade sie war doch privilegierter aufgewachsen, als all ihre Mitschüler und auch wenn Emerald nicht viel von dem Vermögen ihrer Familie hielt, so blieb sie dennoch eine reiche Bonzentochter mit mehreren Treuhandfonds und einem Kontostand, der einer vierköpfigen Familie für mehrere Jahre zum Überleben ausreichen würde.

Grayson ließ aus Unachtsamkeit einen Schraubenschlüssel fallen, der daraufhin klirrend zu Boden fiel. Fluchend bückte er sich, um das Werkzeug unter dem alten Auto hervorzufischen, wobei sein Blick auf die andere Straßenseite glitt, wo Emerald nach wie vor stand. Er hob die Hand zum Gruße an seine Schläfe und salutierte mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte, als wäre nichts gewesen.

Die junge Washington rollte bloß mit den Augen und setzte ihren Weg fort, wurde jedoch durch ein nervtötendes Klingeln gestört, als sie gerade um die nächste Ecke bog, die dummerweise in eine Sackgasse führte. Sie zog ihr Handy aus ihrer Hosentasche und stöhnte laut auf, als sie den Namen Jim Washington Büro las. Entweder wollte ihr Vater ihr etwas über ihren neuen 'supertollen' Job erzählen oder er ließ ihr etwas durch seine Sekretärin ausrichten. Auf beides konnte Emerald bestens verzichten, so fiel es ihr sehr leicht, den Anruf abzulehnen und das kleine Gerät wieder in ihrer Hose zu verstauen. Ein Gespräch mit Sharleen oder ihrem Dad war nun genau das Gegenteil von dem, was sie brauchte. Die Gewitterziege konnte ihr gestohlen bleiben, sollte sie Jim Washington doch weiter in den Hintern kriechen, er bemerkte von alldem ja noch nicht einmal etwas, da konnte es Emerald egal sein, dass diese unangenehme Frau Gefallen an ihm gefunden hatte, wobei es der rothaarigen wirklich schwer viel, auch nur eine positive Eigenschaft ihres Vaters aufzuzählen, weswegen überhaupt eine Frau auf ihn stehen sollte, naja - abgesehen von seinem Kontostand.

Frustriert blickte sie die Steinmauer vor sich an, die ihr nun den Weg versperrte, weswegen sie dann doch umdrehen musste. Der Wind wurde immer stürmischer und die dunklen Wolken bildeten eine tiefhängende Front. Die Cumulonimbus formte sich zu einem hohen Turm und funkelte bedrohlich zu ihr herab, es schien ihr beinahe wie eine Strafe vorzukommen, weil sie den Anruf nicht angenommen hatte, doch da lief Emerald lieber durch einen heftigen Regen, als einen weiteren Streit zu riskieren, der sie am Ende Dinge sagen ließ, die so wohl noch bereuen könnte. Der Deal mit ihrem Vater zerrte schon jetzt an ihren Nerven, dabei hatte sie noch bis Mai Zeit sich vorzubereiten, jedoch hatte ihr eine gewisse Ex-Cheerleaderin gewaltig die Suppe versalzen, weswegen sie die nächsten Schwimmstunden eher als Qual statt als Segen empfinden würde. Ihr Zufluchtsort vor der Realität war infiltriert worden, das erste Bakterium hatte sich im Körper festgesetzt, es blieb nur eine gewisse Zeit bis es lernte, sich zu vermehren und alles lahmzulegen was funktionierte.

Erneut klingelte ihr Handy, diesmal rief ihr Vater von seinem Mobiltelefon an, also wollte wirklich er und nicht Sharleen Emerald erreichen. Wie schlimm konnte es schon werden...
Mit vor Kälte zitternden Fingern drückte sie den grünen Hörer und hielt das Telefon ans Ohr, doch schon im nächsten Augenblick musste sie es zwanzig Zentimeter von diesem wegreißen, da ihr die zornige Stimme Jim Washingtons geradezu entgegenbrüllte.

"Du hast gefälligst ranzugehen, wenn dich jemand zu erreichen versucht!", schrie er und sie konnte seine wilden Gestikulationen förmlich spüren.

"Was ist?", pampte seine Tochter zurück.

Es wurde ruhig auf der anderen Seite der Leitung, ihr Vater spielte nie die beleidigte Leberwurstkarte aus, doch die plötzliche Stille ließ die junge Washington mit den Augen rollen. Als nach weiteren 30 Sekunden nicht mehr als ein verzweifelt nach Luft ringendes Atmen zu hören war, begann sie sich doch Sorgen zu machen. Die Panik schlich sich leise an und umklammerte ihren Brustkorb, so dass auch sie Probleme bekam, bei Verstand zu bleiben.

"Dad?", fragte sie etwas zaghafter und hoffte auf eine weitere Standpauke, doch die blieb aus.

"Emerald, du solltest ins St. Williamsburg Hospital kommen. Es geht um deinen Großvater."

Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust nahm zu, sie spürte wie ihr Verstand abschaltete, sie ein kurzes 'okay' hauchte und mit dem Telefon in der Hand begann zu rennen. Die dunkelgrauen Sturmwolken verdeckten nun auch den letzten Rest Sonne, sie schienen sie auszulachen, zu verspotten.
Sie rannte die ganze Straße zurück zu den Bushaltestellen, vorbei an der Steinfield Werkstatt, in der Grayson Harper noch immer arbeitete und ihr verwundert hinterhersah, als sie völlig abgehetzt und ohne auf ihn zu achten, das gepflasterte Trottoir entlangsprintete. Ihr Handy war ihr irgendwann aus der Hand gefallen, doch das störte sie im Augenblick recht wenig, sie könnte sich morgen einfach ein Neues kaufen.

Jeglicher Streit mit ihrem Vater war vergessen, nun war nichts wichtiger als die Familie. Und ihr Großvater war Emerald nach Zayn der Liebste auf Erden. Sollte ihm etwas passiert sein, wüsste sie nicht, wie sie damit umgehen würde.

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