04. Lasst die Spiele beginnen
Das Klopfen an ihrer Zimmertür ließ die junge Washington schließlich aus ihrem Schlaf hochschrecken. Mit ihrer Hand wischte sie sich die Spucke vom Kinn und tastete dann nach ihrem Wecker, der aus irgendeinem Grund nicht mehr auf dem kleinen Nachttisch stand. Verschlafen blickte sich Emerald in ihrem Zimmer um und sah den silbernen Metallwecker, der an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden in seine Einzelteile zersplittert da lag und sie verspottete. Hatte sie den Wecker gegen die Wand geworfen? Musste wohl so sein...
Das Klopfen ertönte erneut.
"Emy, ich fahre jetzt zu Johnny, soll ich dich mitnehmen und an der Schule rauslassen?", rief Zayn von der anderen Seite.
Herrje wie früh war es denn bitte? Er wollte bei Johnny doch nicht vor dem Frühstück auftauchen. Johnny würde ihn lynchen, wenn ihr Bruder da wäre, bevor er drei Tassen Kaffee intus hatte. Wollte Zayn wirklich sein Todesurteil unterschreiben?
"Emy, bist du wach? Es ist halb 8."
So ein Blödsinn, dachte Emerald, ihr Wecker hätte doch sonst schon längst... ihr Blick glitt zurück auf den kleinen Haufen Metall.
"Oh scheiße!", fluchte sie und strampelte die Decke von ihren Füßen.
Der ganze gestrige Abend war eine reine Katastrophe gewesen, sie hatte nach dem Gespräch mit ihrem Vater einfach keinen Appetit gehabt und war stattdessen direkt in ihr Zimmer gegangen, weswegen ihre Mutter völlig ausgeflippt war. Es konnte ja nicht angehen, dass die Familie einen Abend mal nicht zusammen aß. Offensichtlich hatte Mrs. Washington all die Abende vergessen, an denen Zayn Bandprobe hatte oder Mr. Washington auf Geschäftsreise gewesen war. Mrs. Washington und Emerald hatten sich durch die verschlossene Tür hindurch angeschrien, bis Emerald schließlich nachgegeben und sich schmollend am Esstisch niedergelassen hatte.
Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und war erst am frühen Morgen vor Erschöpfung eingenickt.
"Ich komme gleich, Zayn! Warte bitte!"
Zügig kramte sie in ihrem Schrank nach einer Hose, einem Pullover und frischer Unterwäsche. Die Dusche dürfte heute morgen wohl ausfallen. Emerald sprintete an ihrem Bruder vorbei ins Bad und versuchte in weniger als fünf Minuten so anständig wie möglich auszusehen. Sie band ihre roten Haare in einen Zopf, man musste ja nicht gleich sehen, dass sie nicht dazu gekommen war, sie zu waschen und spritzte sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht.
Außer Atem trat sie aus dem Bad, ihre grünen Augen suchten das Stockwerk nach Zayn ab, erspähten ihn aber schon am unteren Ende der Treppe, wo er ungeduldig mit dem Fuß auf der Stelle tippte und alle zwei Sekunden auf die Uhr sah.
Er hob den Blick und sagte verärgert: "Du kannst froh sein, einen so tollen Bruder zu haben, der extra auf dich wartet, du Schlafmütze."
"Jaja, du bist ganz toll", murrte Emerald sarkastisch. "Jetzt los!"
Zayn verschränkte die Arme und streckte ihr die Zunge entgegen, er verhielt sich wieder wie der zehnjährige Junge, der seiner kleinen Schwester immer an den Haaren gezogen und sie durch das ganze Haus gejagt hatte, während sie schreiend und lachend zugleich weggelaufen war, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck.
"Hattest du es eben nicht noch furchtbar eilig? Schnell, ich darf nicht zu spät in die Schule kommen!"
Emerald griff um ihren Bruder herum, stieß die Tür auf und ihn hindurch. Wenn er sich nicht von alleine bewegte, musste sie eben nachhelfen.
Sie stiegen ins Auto und bretterten los.
"Danke!", rief Emerald, ehe sie die Autotür zuschlug und in das alte Gebäude hineinstürmte.
Die Uhr zeigte zwei Minuten vor acht an. Mit viel Glück wäre sie rechtzeitig da und tatsächlich flitzte sie genau in dem Moment in das Klassenzimmer als Mr. Hale die Tür schließen wollte.
"Gerade noch pünktlich, Miss Washington." Er schmunzelte und zog seinen Zylinder vor ihr wie ein Gentleman aus dem letzten Jahrhundert.
Niemand außer ihm besaß noch so einen Hut und trug ihn dann auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Emerald ließ sich neben Tony Martinez fallen und registrierte den verblüfften Blick von Grayson Harper, der wieder in der ersten Reihe Platz genommen hatte, von wo er sich umdrehen musste, um sie genauer betrachten zu können. Sie stöhnte genervt auf, verdrehte die Augen und sank gegen ihre Stuhllehne.
Tony war ebenfalls ein Footballspieler, doch im Gegensatz zu seinen Mitspielern hatte er ein Herz, war freundlich, schikanierte niemanden. Seine schwarzen Locken reichten ihm bis kurz unters Kinn, die karamellfarbene Haut betonte seine rehbraunen Augen. Mit den hohen Wangenknochen und der definierten Kinnpartie sah er aus wie ein Model aus den späten 90ern.
Mr. Hale tigerte vor der Klasse auf und ab wie eine große Raubkatze, die ihre Beute umkreist und nur auf den richtigen Moment wartet, um zuzuschlagen. Ein grausames Lächeln umspielte seine schmalen Lippen, seine Augen glänzten vor Belustigung.
Dafür konnte es nur einen Grund geben und Emerald erschauderte schon beim bloßen Gedanken daran...
"Es ist wieder soweit! Wir losen unsere Laborpartner!"
Freudig sprang er in die Luft und warf seinen Zylinder durch die Klasse, nur um dann ein Mädchen aus der letzten Reihe, dem der Hut ins Gesicht geflogen war, zu bitten, ihn wieder nach vorne zu tragen, damit er darin die Lose verteilen konnte.
Alberner Kauz, dachte Emerald.
Sie hasste es, wenn Mr. Hale losen wollte, meistens musste sie mit irgendeinem Idioten zusammenarbeiten, der den Unterschied zwischen Gemächt und Gehirn immer noch nicht begriffen hatte. Abgesehen davon liebte sie es, mit Tony zu arbeiten, er war nett, stellte nicht viele Fragen, ihm war es egal, was die anderen über Emerald sagten.
"Diese Seite, schreibt ihre Namen auf einen Zettel, Vor- und Nachname für die beiden Sahras."
Er räusperte sich und fuhr dann fort. "Diese Seite", nun waren Emerald und Tony betroffen, "zieht dann einen Namen aus dem Hut."
Jedes Mal aufs neue erklärte Mr. Hale, wie das Prinzip des Losens funktionierte, jedes mal hörte ihm niemand zu und jedes Mal war er total begeistert von seiner Idee. Mr. Hale lief durch die Reihen, die Schüler, die an der Fensterseite saßen, nahmen sich jeder einen Zettel. Emerald entfaltete das Papier, warf es jedoch sofort zurück auf den Tisch, als wäre es vergiftet.
"Warum immer ich?", flüsterte sie verzweifelt.
Neugierig beugte sich Tony über Emeralds Schulter, seine schwarzen Locken kitzelten sie im Nacken. Kichernd brachte die Washington etwas Abstand zwischen sie beide und reichte ihm, ohne etwas zu sagen, den Zettel.
"Du bist am Arsch."
Emerald verdrehte die Augen und antwortete sarkastisch: "Ach was du nicht sagst."
Die beiden warfen einen Blick nach hinten zu Nathalie Fairchild, der bösen Hexe des Westens.
"Das wird nie gut gehen, am Ende des Tages lägen wir beide bei der Schulkrankenschwester."
Tony stöhnte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er schien mit sich zu ringen.
"Nagut, wir tauschen."
Emerald riss die Augen auf und grinste. "Wirklich? Du bist meine Rettung!"
"Jaja, schon gut."
Tony stand auf, ging zu Nathalie und ließ sich missmutig neben ihr nieder.
Sie wirkte genauso begeistert wie er, doch wenigstens würden sie sich nicht gegenseitig zerfleischen. Nun war es an Emerald den Namen ihres Partners oder ihrer Partnerin zu erfahren. Eins war sicher: schlimmer konnte es nicht werden.
Sie griff nach dem kleinen Stück Papier, das Tony auf seinem Platz hatte liegen lassen, sie entfaltete es und rief erschrocken: "Scheiße!"
Mit einem Blick, der den Zettel eigentlich hätte in Rauch aufgehen lassen müssen, starrte sie auf das Papierknäul nieder.
"Keine Kraftausdrücke in meinem Unterricht, Miss Washington!", mahnte Mr. Hale. Er kam auf sie zu, wuselte zwischen den Tischen umher und schnappte sich dann das Los, ehe Emerald es vom Tisch fegen konnte.
"Nun, da steht nicht 'scheiße' sondern Grayson Harper!"
Wütend biss sich Emerald auf die Lippe, das hatte nun jeder gehört, jetzt war es zu spät, um ein weiteres Mal zu tauschen. Mr. Hale lachte über seine Worte und verschwand dann wieder in einer Ecke des Klassenzimmers.
Grayson blickte zu ihr herüber, ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen. War es Wut? Er konnte doch nicht ernsthaft wütend darüber sein, dass sie ihn gezogen hatte. Das ganze war doch wohl eher ihr Unglück und nicht seins, immerhin hätte er Emerald beinahe ermordet, als er in einem Affenzahn die Straße entlanggebrettert war.
Genervt schnappte sich Emerald ihre Unterlagen und ging langsam auf Grayson zu, einige Mädchen warfen ihr eifersüchtige Blicke hinterher - das erste und vermutlich auch letzte Mal in ihrem Leben. Je näher sie kam, desto deutlicher erkannte Emerald, dass seine Mimik keine Wut verbreitete, viel eher schien sich Grayson über ihr genervtes Auftreten zu amüsieren, doch etwas an seinem Blick störte Emerald noch immer. Während seine Mundwinkel bei jedem ihrer nicht gerade anmutigen Art nach oben zuckten, blieben seine dunkelblauen Augen kalt.
Emerald setzte sich auf den freien Platz an Graysons Seite, ließ ihre Schulunterlagen vor ihm auf den Tisch sausen und lehnte sich auffordernd zurück, um ihm deutlich zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht im mindesten für ihn interessierte, wobei sie innerlich kochte und ihm bei der nächstbesten Gelegenheit eine scheuern wollte. Sie verfluchte sich dafür, am gestrigen Tag für ihn in die Bresche gesprungen zu sein, denn sonst müsste sie heute ganz sicher nicht mit ihm zusammenarbeiten. Diese Mauern, die ganze Schule hatte etwas an sich, wodurch Emerald furchtbar wütend wurde, weswegen sie Grayson am liebsten vor allen angeschrien hätte, doch anstatt ihm eine idiotische Szene zu machen, saß sie bloß neben ihm, sagte nichts und starrte auf ihre kurzen, schwarz-gold lackierten Fingernägel.
Mr. Hale trat wieder vor die Klasse und verkündete fröhlich: "Nächste Woche werden wir uns mit Fröschen beschäftigen, dafür sollt ihr euch heute schon einmal vorbereiten!"
Vergnügt wippte er auf seinen Ballen. "Was bedeutet rana lingua?"
Nathalie stieß ein abstoßendes Geräusch aus, sie schien sich vor der Antwort, die Tony ihr zugeflüstert hatte, zu ekeln. Tony war es gewohnt, die Antworten vorzusagen, immerhin saß er schon lange neben Emerald, die vor langer Zeit aufgehört hatte, sich um die Schule zu kümmern, geschweige denn dafür zu lernen.
"Froschzungen, Sir?", antwortete Tony.
Auch wenn es die junge Washington nie zugegeben hätte, konnte sie verstehen, wieso Nathalie so grün im Gesicht war, denn am liebsten hätte sie selbst ihren Kopf über eine Kloschüssel gehängt, doch hier musste sie durch.
"Ganz richtig!", rief Mr. Hale, "Ich habe euch heute ein paar Exemplare mitgebracht, die ihr nun untersuchen könnt - führt alle erdenklichen Tests durch, damit ihr euer Wissen nächste Woche auf den Rest des Frosches anwenden könnt!"
Ihr Magen veranstaltete eine kleine Tanzeinlage, während sich Emerald mit dem Gedanken anfreundete, gleich eine waschechte Zunge eines Frosches zu berühren. Kein Handschuh der Welt würde diesem Ereignis seine Widerlichkeit nehmen können.
"Alles okay?", raunte Grayson ihr ins Ohr.
Sofort zuckte sie zurück, wobei sie beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Einfach peinlich.
"Natürlich", presste sie aus zusammengebissenen Zähnen hervor.
Noall hätte vermutlich bewundert, dass ihre Ohren noch nicht angefangen hätten zu rauchen.
"Du wirkst aber plötzlich ganz blass."
Statt ihm zu antworten, rollte Emerald bloß mit den Augen, schnappte sich ihr Heft und einen Stift und begann, Datum und Thema zu notieren, wobei ihr deutlich bewusst war, dass Grayson ihr nach wie vor noch über die Schulter sah, egal wie weit sie sich von ihm abwandte.
"Ich hole dann mal... die... Zunge."
Grayson war auch nicht sonderlich erfreut über die Frösche. Niemand war erfreut darüber, bis auf Mr. Hale und Tony. Das war aber auch kein Wunder, schließlich war Tony der einzige, der in der 9. Klasse, als sie alle schon einmal einen Frosch sezieren mussten, krank war, während die anderen den grünen Horror erleben durften. Bei den Erinnerungen an Froschinnereien in ihren Haaren wurde ihr mehr als nur schlecht, ihre Augen brannten, ihre Lippen begannen zu beben. Jennys Aufnahmeritual im Kreis der tanzenden Clowns hatte damals mit einem riesigen Knall geendet, Emerald war zum ersten Mal der Geduldsfaden gerissen, zum ersten Mal hatte sie ihre damalige beste Freundin angeschrien und zum Teufel gewünscht. Sie war so wütend gewesen, ihr Gesicht nahm die Farbe ihrer Haare an und die Legende des roten Teufels war geboren. Statt sich zu entschuldigen, ihrer besten Freundin die Gedärme eines Frosches über den Kopf zu schütten, hatte Jenny Emerald bloß entgegnet, wie traurig es doch wäre, dass sie nicht einmal ihre Freunde unterstützen könnte, dass es sich immer um sie drehen müsste. Daraufhin war sie mit einer zufrieden dreinschauenden Nathalie und einer verzückten Camille verschwunden. Jenny, die alte Jenny, kehrte nie zurück, an ihre Stelle trat Jennifer, die sich nur noch ein paar Mal mit Emerald und Noall unterhalten hatte, ehe der Kontakt vollständig gekappt wurde.
"Wer hat eine Froschzunge bestellt?"
"Niemand!"
"Dann geht diese eben aufs Haus." Grayson legte das eklige Ding vor die beiden auf den Untersuchungstisch und drückte Emerald das Skalpell in die Hand.
Perplex folgte sie seinen Bewegungen - so ruhig, elegant, regelrecht anmutig.
"Oh nein!", rief Emerald entsetzt und reichte ihm das Instrument zurück, doch er hob bloß abwehrend die Hände und lächelte ihr zu.
"Washington, oder?", fragte er, doch anstatt einer richtigen Antwort, zog Emerald bloß die Augenbrauen zusammen und verzog die Lippen.
"Dein Name ist doch Washington..." Grayson blickte ihr unsicher entgegen, als sich das Mädchen mit den dunkelroten Haaren jedoch mit einem Kopfnicken zurück in ihren Stuhl sinken ließ, atmete er erleichtert auf.
"Gut, ich leide noch nicht an Gedächtnisschwund. Wieso willst du die Zunge nicht berühren?"
Wie aufs Stichwort ertönte Nathalies Stimme, wie sie gerade allen, die es hören wollten oder auch nicht, von dem lustigen Erlebnis bei ihrer letzten Bekanntschaft mit Fröschen erzählte: "...und dann hat sie einfach den Eimer mit den widerlichen Eingeweiden genommen und Emerald Washington über den Kopf gestülpt."
Die Schüler, die um sie herum saßen, lachten alle, bis auf Tony, der mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl kippelte und ihr giftige Blicke zuwarf.
Allerdings sagte er nichts, verteidigte sie auch nicht, er blieb stumm. In einer Welt wie dieser können nur diejenigen überleben, die bereit sind zu schreien. Wer verstummt kann nicht gehört werden. Das hatte Emeralds Großvater immer gesagt.
"Ach Washington, hast du seitdem Angst vor den Glibber-Glibber-Fröschilein?", lachte Nathalie.
"Miss Fairchild, das ist nun schon das dritte Mal diese Woche, dass Sie über einen anderen Schüler herziehen!" Mr. Hale war von seinem Stuhl aufgesprungen, die blanke Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben.
"Die drei Male, wo er sie erwischt hat", murmelte Emerald mehr zu sich selbst als zu Grayson, der der Szene zwischen Zicke und Lehrer gespannt zusah.
"Aber Mr. Hale, das war doch bloß ein Scherz!" Nathalies verzweifelte Ausrede, wischte der Biologielehrer einfach mit einer Habdbewegung beiseite, bevor er die Hände in die Seiten stemmte und sich vor ihr zu voller Größe aufbaute.
"Miss Fairchild, es reicht mir! Das wird nun endgültig Konsequenzen haben, dafür werde ich sorgen. Nachsitzen wird da nicht ausreichen."
"Nachsitzen?! Aber ich bin Chearleaderin!"
"Wir werden sehen wie lange noch."
Mr. Hale war zusätzlich zu seinen Biologiestunden auch noch der stellvertretende Coach des Chearleaderteams und das nur, weil er sich vor Jahren dazu bereiterklärte, als seine Tochter auf die Bishop Church ging und unbedingt in das Team aufgenommen werden wollte. Als sie abging, hatte Mr. Hale versucht den Job hinzuschmeißen, doch Mr. Ackermann, der Direktor, hatte seine Bitte aufgrund von hervorragender Leistung der Mannschaft unter seiner Führung abgelehnt. Seither war Mr. Hale zwar bei den Trainingstunden anwesend, korrigierte aber meistens bloß die Klausuren seiner anderen Kurse auf der Tribüne und beachtete die Mädchen überhaupt nicht, während sie unmenschliche Dehnübungen und akrobatische Leistungen vollführten.
"Das nenne ich mal ausgleichende Gerechtigkeit." Grayson grinste ihr zu und wandte sich dann wieder an die widerliche Froschzunge.
**
"Noch eine Bahn, Ladies!", rief Coach Dawson, der Coach des Schwimmteams der Bishop Church High School.
Ihre schulterlangen Haare waren immer in einem Pferdeschwanz zurückgebunden oder unter einer Schwimmkappe versteckt, sie trug zu jeder Unterrichtsstunde ihr Trikot aus ihrer Zeit bei Olympia. Emerald und ihre Teamkollegen befanden sich im Schwimmbecken, nach einer Stunde Training waren sie alle schon ziemlich ausgelaugt, doch noch war keines der Mädchen bereit aufzugeben. Niemand wollte sich die Blöße geben, als erste das Handtuch zu werfen und somit dem Coach einen Grund zu liefern, sie bei der nächsten Gelegenheit aus dem Team zu werfen. Es gab 11 Teammitglieder, 4 wurden für die Staffel benötigt, 10 für den normalen Wettkampf. Emerald musste es unbedingt unter die besten vier Schwimmer schaffen, sonst konnte sie ihr letztes Jahr in Freiheit vergessen, doch zunächst durfte sie erst einmal nicht die schlechteste sein, denn dann hätte sie nicht einmal eine Chance, sich zu verbessern.
"Macht ihr etwa schon schlapp? Wie sollen wir die kommenden Wettkämpfe gewinnen, wenn ihr keine Stunde trainieren könnt, ohne erledigt zu sein?!" Coach Dawson warf frustriert die Arme in die Luft, ließ sich auf der Tribüne nieder und stützte ihr Kinn auf ihrem Handrücken ab.
Diese Frau hatte jeden Glauben an ihr Team verloren, nachdem sie die letzten Jahre keinen einzigen Wettkampf gewinnen konnten. Vermutlich sorgte sie sich mehr um ihre Beförderung und den ordentlichen Bonus, die sie bei einem Sieg bekommen hätte, doch sie war trotzdem eine gute Trainerin.
"Oh verflucht, ich will hier raus", krächzte Stella, eine von Emeralds Teamkameradinnen.
Ihre blonden Locken schoben sich unter der Badekappe hervor und verliehen ihr dieses elfenhafte Aussehen, mit dem sie so unschuldig wirkte, obwohl sie alles andere als ein kleines Lamm war. Wenn Stella einmal in Fahrt kam, fluchte sie wie ein Kesselflicker, unkontrollierbar, laut und vulgär, sie nahm kein Blatt vor den Mund, egal wer ihr gegenüber stand.
"Meine Schwimmhäute haben bestimmt schon Schwimmhäute", nörgelte sie weiter und spuckte etwas Wasser aus ihrem weg.
Emerald nickte bloß, stieß sich vom Beckenrand ab und schwamm zurück in die Richtung, aus der sie eben gekommen war. Sie hatte keine Kraft mehr, Stella zu antworten, geschweige denn in ganzen Sätzen. Ihre Energie floss aus ihr heraus, als würde sie sich auflösen, ihre Beine und Arme wurden ganz kribbelig, dann fühlte sie sie schon gar nicht mehr. Der Schwimmbrillengurt wurde immer enger, als würde jemand ihn verstellen, die Badekappe schnürte ihr das Blut ab - sie musste sofort aus dem Wasser, doch sie konnte nicht als erste aufgeben, damit hätte sie sofort verspielt. Nur noch ein paar Minuten, dann würden sie entlassen werden, nur noch ein paar Minuten, dann könnte sie wieder frei atmen.
"Sklaventreiberin." Stella schien ebenfalls nicht mehr ganz fit zu sein, wie auch die anderen Mädchen des Teams, sie alle wirkten leicht benommen.
Es war ein Wunder, das noch keins der Mädchen ohnmächtig geworden war.
Emerald atmete schwer, doch genau in dem Moment als sie Luft zu holen versuchte, bauschte sich das Wasser vor ihr auf und sie verschluckte sich, begann zu husten.
"Washington, was soll das?!", rief der Coach.
Emerald bekam keine Luft, es wurde immer schlimmer, bis sie schließlich nur noch hysterisch mit den Armen und Beinen strampelte und sich nicht mehr vom Fleck bewegte. Ihre Lider wurden schwer, noch immer hatte sie das Gefühl, Wasser in der Lunge zu haben.
"Washington!" Coach Dawsons Stimme verblasste in dem Summen, das stetig lauter wurde.
Kleine schwarze Flecken begannen vor ihren Augen zu tanzen, doch so schnell wie sie gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder. Emeralds setzte die Füße auf den Beckenboden, hustete das restliche Wasser aus und holte dann einmal kräftig Luft.
"Washington steigt als erste aus!", rief der Coach, doch anstatt verächtlich auf Emerald herumzuhacken, schenkte Coach Dawson ihr ein warmes Lächeln. "Sie hat als einzige ihr Wohlergehen über das Gewinnen gestellt und das ist eine wichtige Lektion, meine Damen!"
"Sie ist fast verreckt, deswegen hat sie aufgegeben! So und nicht anders ist es gewesen!", echauffierte sich Stella.
Wütend ruderte sie mit den Armen im Wasser, um Emeralds wildes Wasserspektakel nachzuspielen.
"Miss Decker, sollten Sie noch einmal meine Einschätzung infrage stellen, können Sie sich ihre Zukunft in der Schwimmmannschaft abschminken."
Stella zog sich leise fluchend aus dem Wasser, griff sich ihr Handtuch und verschwand als erste in der Dusche. Emeralds Beine zitterten nicht mehr, der Husten war verschwunden, sie bekam wieder ausreichend Luft und konnte relativ klar denken.
"Alles okay, Washington?"
"Ja, alles super, Coach."
Auch Emerald schnappte nach ihrem Handtuch und wickelte es sich um den Körper. Abseits von den anderen setzte sie sich auf eine Bank der Tribüne, sie musterte ihre verschrumpelten Fingerkuppen und lauschte dem leisen Plätschern der Wasserfilter-Anlage. Ihre Teamkameradinnen plauderten fröhlich und ließen sich gar nicht mehr anmerken, wie erschöpft sie eben noch im Wasser waren, stattdessen tauschten sie den neuesten Klatsch und Tratsch aus, der Emerald sowieso den Buckel runterrutschen konnte. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Das Training hatte sie dermaßen erschöpft, so dass sie nun befürchtete bei jeder ruckartigen Bewegung umzukippen. Des weiteren wollte Emerald mit Coach Dawson sprechen, sie wollte wissen, wie ihr Stand war, wie viel sie trainieren musste, um als Schlussschwimmerin überhaupt infrage zu kommen. Es gab viele im Team, die deutlich besser waren als sie, angefangen mit Stella, die man noch immer aus der Dusche schimpfen hörte. So langsam überkamen Emerald leise Zweifel, ob der Deal, den sie mit ihrem Vater geschlossen hatte, wohl doch keine so gute Idee gewesen war, wie sie anfangs noch vermutet hatte. Sie würde alles verlieren, wenn sie nicht gewann, ihr Leben wäre dann endgültig ein trostloser Scherbenhaufen, an dem man sich nur schneiden würde, sobald man versuchte, die Trümmer wieder zusammenzukleben.
"Coach Dawson?", sagte Emerald.
Sie stand auf, das Handtuch noch immer um den schmalen Körper geschlungen, die Finger krampfhaft in dem Stoff vergraben. Coach Dawson saß auf einer Duschmatte auf dem Schwimmhallenboden und notierte sich die heutigen Leistungen der Schülerinnen. Wie gerne hätte Emerald einen Blick auf diese Liste erhascht, um zu wissen, wo sie wohl stand.
"Coach Dawson?", sagte Emerald erneut.
Der Coach sah zu ihr auf, ein besorgtes Lächeln auf den Lippen.
"Miss Washington, geht es Ihnen wirklich gut? Ihre Lippen sind noch ganz blau."
Die junge Washington hob die Hand, um mit den Fingerspitzen über ihre Lippen zu fahren, doch ließ sie wieder sinken, als ihr aufging, dass sie das damit nun wirklich nicht überprüfen konnte.
"Es geht mir gut", erwiderte sie stattdessen.
"Was wollen Sie?"
Emerald zögerte. Wenn sie den Coach jetzt fragte, gab es kein Zurück mehr, dann hätte sie ihre Antwort. Eine Antwort, die vielleicht den Rest ihres Lebens bestimmte, eine Antwort, die sie vielleicht gar nicht hören wollte.
"Washington?"
"Ich würde gerne wissen, ob Sie sich vorstellen könnten, mich beim kommenden Wettbewerb als Schlussschwimmerin einzusetzen."
Coach Dawson erwiderte nichts, stattdessen sah sie an der vor Neugierde platzenden Emerald vorbei. Emerald folgte ihrem Blick und stutzte. Stella kam in einen Bademantel gewickelt und mit einem Handtuch auf dem Kopf aus der Dusche stolziert, sie hatte die Arme verschränkt. Hinter ihr erschien eine weitere Person, Mr. Hale.
"Hale, was machen Sie in den Duschen?!", rief Coach Dawson schrill, ihr Gesicht wurde ganz bleich.
Ein paar Mädchen kicherten bei dem Anblick, den der Coach bot.
"Miss Decker hat mich hier durchgeführt, ich war auf der Suche nach Ihnen. In der Dusche war keiner - machen Sie sich nicht lächerlich!"
Sichtlich erzürnt über die Anschuldigung sprach er weiter: "Ich möchte mit Ihnen über eine Schülerin sprechen, folgen Sie mir bitte in Ihr Büro."
"Wir nehmen diesmal aber die Treppe durch den Notausgang."
Coach Dawson zischte ihm noch zu, dass er das nächste Mal oben warten sollte, doch es war laut genug, um die Worte klar und deutlich zu verstehen.
"Wegen welcher Schülerin wollen sie sich wohl unterhalten?", fragte Stella an Emerald gewandt.
Diese zuckte bloß mit den Schultern. Es musste sich um sie selbst drehen, außer ihr hatte Mr. Hale, soweit sie wusste, niemanden im Unterricht. Was hatte Emerald denn jetzt wieder angestellt? Den Präsidenten entführt? Das fehlte noch auf der Liste ihrer vielen Vergehen.
"Was macht sie denn hier?" Stellas angewiderter Tonfall, ließ Emerald aufblicken. Sie erstarrte.
Das Leben musste sie wirklich hassen, so viel Pech konnte doch kein einziger Mensch haben.
"Was glotzt ihr so?"
Das Mädchen strich sich die langen Haare hinter die Ohren und setzte ein falsches Lächeln auf, als Coach Dawson und Mr. Hale wiederkamen.
"Da ist sie ja schon", sagte Mr. Hale, er klang wieder um einiges freundlicher. "Miss Fairchild, das ist ihre neue Mannschaft. Das Cheerleadertraining fällt für sie auf weiteres aus."
Emerald sah ungläubig zwischen ihrem Biologielehrer und Nathalie hin und her.
Womit hatte sie das bloß verdient?
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