02. Bekannte Gesichter

Die Tür der Mädchentoilette fiel hinter ihr zu und sofort schlug ihr der beißende Gestank ins Gesicht. Ihr wurde schlecht und am liebsten hätte sich Emerald sogleich übergeben, doch sie biss die Zähne zusammen, kämpfte sich zu den Waschbecken vor, die hinter einer kleinen Trennwand auf der linken Seite versteckt waren und drehte den Wasserhahn auf.
Das kühle Nass rann zwischen ihren Fingern hindurch, während Emerald einen Blick in den Spiegel wagte. Ihre Haare waren plattgedrückt und nass, ihr Pullover von dunklen Flecken getränkt.
Am liebsten hätte sie Kathlyn verflucht, ihr alle Dämonen auf den Hals gehetzt und mindestens einmal kräftig zugetreten, doch sie konnte ihr nicht böse sein. Emeralds ganze Wut konzentrierte sich auf eine Person: Jason.
Ihn hätte Emerald mit Sicherheit auch in Brand gesteckt. Verdient hatte er es auf jeden Fall.
Er verhielt sich wie der King der Schule, baggerte jedes Mädchen an, obwohl er eine Freundin hatte, schikanierte die anderen Schüler und war dennoch der Lehrerliebling. Diese Welt war unfair.
Noch vor einem Jahr war Jason bloß ein Ersatzspieler gewesen, hatte immer auf der Bank gesessen, hatte keinen Einfluss, keine Freundin. Er existierte einfach neben Emerald und ihrem besten Freund, nie mussten sich die beiden von ihm anhören, dass sie Abschaum wären, denn das war die Aufgabe des damaligen Quarterbacks gewesen.
Ein ebenso großer Kotzbrocken, wie es Jason jetzt war. Doch Ende des letzten Schuljahres verschwand er, keiner wusste wohin, die Lehrer schwiegen und sofort begannen die Klatschmäuler dieser Schule wilde Theorien für seine Abwesenheit aufzustellen. Er wurde bezichtigt im Knast zu sitzen. Da das bei seinen Alkohol- und Drogen-Geschichten nicht so abwegig war, hielt Emerald dies für am wahrscheinlichsten.
Andere behaupteten, er wäre weggezogen oder von Aliens entführt worden. Je länger er verschwunden blieb, desto abstruser wurden die Theorien.
Nicht einmal seine Freunde wussten, wo er abblieb, er war einfach von einem auf den anderen Tag nicht mehr zur Schule erschienen.

Die Tür zu den Toiletten wurde aufgestoßen. Emerald hielt für eine Sekunde die Luft an, als das Mädchen um die Ecke kam. Langes goldenes Haar, Beine, die bis zum Jupiter reichten, eine kurze Cheerleader-Uniform und einen Blick, der dem Todesblick von Emerald erstaunlich ähnlichsah.

"Hi, Jenny", sagte Emerald ruhig und versuchte, nicht allzu sehr zu zittern. Dieses Mädchen brachte sie nach all den Jahren, noch immer zum Kochen.

"Jennifer", korrigierte sie.

Jennifer war, bevor sie alle auf die High School kamen, Emerald und Noalls beste Freundin gewesen, die drei gab es damals nur im dreier-Pack und dann...
Die Beliebtheit wurde ihr wichtiger als die Freundschaft und schon bald, hüpfte Jenny auf dem Footballfeld mit Pompons in den Händen herum und ignorierte ihre Freunde auf den Gängen.
Emerald wandte sich von ihr ab und versuchte mit etwas Wasser den Kaffee aus ihren Haaren zu waschen, leider erfolglos.

"Hier." Jennifer zog ein graues T-Shirt aus ihrer Tasche und hielt es Emerald vor die Nase.

"Was soll ich damit?"

"Es anziehen. Dein Pulli ist nass und draußen ist es kalt, du holst dir noch den Tod."

Sie drückte es Emerald in die Hand und drehte auf dem Absatz um. Wieder knallte die Tür ins Schloss, doch Emerald starrte nur auf das graue Shirt, als bestünde es aus giftigem Stoff. Was sollte das gerade? Jenny war tatsächlich nett zu ihr gewesen? Der Weltuntergang musste offenbar bevorstehen.

Die junge Washington betrat eine der Kabinen und zog sich um.
Ein trockenes T-Shirt war besser als ein nasser Pullover, da hatte Jennifer recht. Egal ob sie der Teufel in Person war oder nicht.
Die kühle Baumwolle ließ Emerald sofort eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Ihre Haare, die noch völlig durchnässt waren, band sie sich erneut zu einem Zopf und betrachtete ihr Werk im Spiegel.
Ziemlich erbärmlich, dachte sie.
Mit ihren zittrigen Fingern fuhr sie sich über die Arme, um durch die Reibung etwas Wärme zu erzeugen, das funktionierte nur nicht wirklich.

Da sie in ihrem Spind in der Schwimmhalle sicher noch eine Strickjacke haben musste, machte Emerald sich auf den Weg. Zum Unterricht war sie sowieso schon zu spät, da würden jetzt zehn Minuten mehr oder weniger nicht viel ausmachen.
Sie eilte durch die Eingangshalle und bog in einen kleinen Seitengang. Für gewöhnlich war es den Schülern nicht gestattet, diese Abkürzung zum Sportplatz zu nutzen, da hier viele Lehrer ihre Zigarettenpausen einlegten und dabei nicht gesehen werden wollten, da sie ja schließlich "gute Vorbilder" für die Jugendlichen abgeben sollten, doch der Unterricht hatte schon begonnen, daher war sich die junge Washington ziemlich sicher, keinem ihrer Lehrer über den Weg zu laufen. Falsch gedacht...

"Miss Washington, sollten Sie nicht in ihrem Anatomie-Kurs sitzen?", fragte eine raue Stimme direkt hinter ihr.

Emerald wusste genau, wer da gerade aus seinem Büro gekommen war, denn der Gang, in dem sie sich befand, führte vorbei am Sekretariat und an dem Büro des Schulleiters. Langsam drehte sie sich um, einen schuldbewussten Gesichtsausdruck aufgelegt, der sogar den Weihnachtsmann täuschen könnte.

"Verzeihung Sir, ich weiß, ich sollte nicht hier sein, ich wollte nur..."

Mit einer Handbewegung brachte der Schulleiter Emerald zum Schweigen.
Er musterte sie von Kopf bis Fuß und setzte dann ein seichtes Lächeln auf.
"Kommen Sie doch eine Sekunde in mein Büro."

Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er die braune Holztür auf und gewährte Emerald den Vortritt. Das kleine Büro, das Emerald schon so oft von innen gesehen hatte, dass sie sich hier mittlerweile beinahe wohl fühlte, sah genauso aus, wie man es bei einem Mann wie Mr. Lewis Ackerman erwarten würde. Es war minimalistisch eingerichtet, bloß ein großer, vollbeladener Schreibtisch, eine Topfpflanze auf der Fensterbank und ein kleiner Papierkorb. Auf beiden Seiten des Tisches standen die zwei selben klapprigen Holzstühle. Als Emerald Mr. Ackerman das erste Mal darauf angesprochen hatte, wieso er für sich keinen prunkvollen Ledersessel wollte, wie es wohl jeder Geschäftsmann in dieser Stadt tat, hatte er nur gelacht und den Kopf geschüttelt. Er wollte keinen besonderen Stuhl, da er, wie alle anderen in diesem Gebäude auch, nur ein Mensch sei und das Geld, das diese Schule einnehme nicht für sich, sondern für die Schüler ausgeben wollte. Damals hatte Emerald gelacht, von ihrem Vater, dem ach-so-tollen Geschäftsmann, hatte sie gelernt, dass die wichtigsten Menschen, die teuersten Möbel als eine Art Belohnung für ihre harte Arbeit besaßen. Doch mittlerweile...
Ihr war bewusst, dass das Geld für einen Ledersessel, nicht mal annähernd dafür reichte, um an dieser Schule etwas zu verändern, doch das symbolische Bild, das Mr. Ackerman damit vermittelte, brachte sie jedes Mal zum Schmunzeln.
Der alte Mann, mit den weißen kurzen Haaren, der riesigen Brille auf der Nase, durch die seine Augen dreimal so groß wirkten und den hässlichen Tweed Anzügen, war einer der wenigen Menschen an dieser Schule, die Emerald tatsächlich leiden konnte.

Mr. Ackerman lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Das kleine Fenster am anderen Ende des Zimmers war gekippt und von draußen hörte man vereinzelte Vögel zwitschern, die noch nicht die große Reise in den Süden gestartet hatten. Ein kalter Luftzug flog durch das Zimmer und hinterließ eine unangenehme Gänsehaut auf Emeralds nackten Armen.

"Nun Miss Washington, ich werde nicht lange um den heißen Brei reden, sondern komme lieber gleich zum Punkt, denn wie ich sehe, sollten Sie sich schleunigst eine Jacke besorgen."

Mr. Ackerman lachte vergnügt auf und begann mehrere Unterlagen von seinem Schreibtisch zu lochen, während er weitersprach.
"Heute früh konnte man kaum die Schule betreten, ohne zu erfahren, dass im Schulbus ein kleiner Kampf zwischen Ihnen und Mr. Lee stattgefunden hat und ich würde lügen, wenn ich behaupte, mich hätte das nicht interessiert."

Der alte Mann schob seine Brille zurück und blinzelte Emerald, die sich über die Richtung, die dieses Gespräch annahm, überhaupt nicht freute, an. Emerald zog sich ihren Stuhl zurück und ließ sich darauf nieder, ihr Blick huschte über die vielen Unterlagen auf Mr. Ackermans Schreibtisch. Relativ mittig lag eine ziemlich dicke Schülerakte, aus der schon vereinzelte Zettel herausragten. Für einen kurzen Moment hielt es Emerald für ihre eigene Akte, die wahrscheinlich auch aus allen Nähten platzte, bei dem vielen Trubel, den sie schon verursacht hatte, doch nicht ihr Name prangte in schwarzen Lettern auf der bräunlichen Pappe. Auch wenn sie es auf dem Kopf stehend lesen musste, so erkannte sie zumindest die Initialen. G H.
Es gab nur einen Schüler auf dieser Schule, der mehr Ärger verursacht hatte als Emerald und eben dieser Schüler war, so hatten es zumindest alle geglaubt, für immer verschwunden. Emerald drehte sich der Magen um, bei der Vorstellung, ihm jeden Tag in den Fluren zu begegnen.

"Das war keine große Sache, Mr. Ackerman", murmelte Emerald, die noch immer geschockt die Akte auf seinem Schreibtisch musterte.

Keine große Sache. Ihre Kopfschmerzen bewiesen zwar das Gegenteil, doch sie wollte so schnell wie möglich aus diesem Büro herauskommen, es wurde immer kälter und so langsam schienen ihre Arme einzufrieren.

"Miss Washington, Sie haben schon häufiger Unruhe gestiftet, doch wenn das ein tätlicher Angriff war, so können wir, die Schulbehörde und ich, etwas dagegen unternehmen."

Emerald lachte ironisch auf und schüttelte den Kopf. Sie war sich sicher, dass sich Mr. Ackerman wirkliche Sorgen machte, das konnte sie in seinen Augen sehen, doch die Schulbehörde, die hatte bloß Angst, ihr Vater könnte Anzeige erstatten. Bei der Sache mit dem Kaffee, könnte man auf Körperverletzung klagen und egal wie viele Schüler bestreiten würden, was Kathlyn getan hatte, Mr. Washington und seine Anwälte würden jeden Schüler brechen, so dass am Ende die halbe Schule verwiesen würde.

"Mr. Ackerman, das war alles bloß ein harmloser Streich. Mir geht es gut."

Sie fuhr sich durch die noch immer feuchten Haare und versuchte das brennende Gefühl zu ignorieren.

"Miss Washington, ich..."

"Ich denke, ich muss langsam los. Der Unterricht bei Mr. Howard ist wichtig, bald schreiben wir die Klausur."

Emerald sprang auf und packte den Türgriff, als Mr. Ackerman sie noch einmal zurückrief: "Miss Washington, Sie können jederzeit mein Büro aufsuchen, die Tür steht Ihnen offen."

Er lächelte gequält. Emerald erwiderte das Lächeln und öffnete die Tür.

"Danke", sagte sie, ehe sie auf den Gang trat und Richtung Sportplatz eilte.

Sie stieß die Türen zum hinteren Hof, auf dem die vielen Müllcontainer standen, auf und quetschte sich zwischen zwei von ihnen hindurch, um durch ein kleines Loch im Zaun zu klettern, das diesen Hof mit dem Sportplatz verband.
Der große Platz war verlassen und leer. Um diese Uhrzeit fanden keine Sportkurse statt, doch ein vereinzeltes Auto stand am anderen Ende. Womöglich hatte sich der Footballcoach einen neuen Wagen zugelegt, denn das Auto hatte Emerald noch nie zuvor gesehen. Es war ein dunkelblauer Pickup-Truck, der aber schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte. Fuhr der Coach nicht einen kleinen Sportwagen?
Schnellen Schrittes lief Emerald quer über das kleine Stück Rasen, das an der hohen Turnhalle entlangführte. In quadratischen Beeten blühten Hortensien in allen Variationen, die so stark dufteten, dass man den Geruch schon aus der Ferne deuten konnte, ganz im Gegenteil zur Turnhalle.
Selbst im Treppenhaus müffelte es nach alten Sportsocken, Käsefüßen und künstlichen Lufterfrischern, die das Problem eher verschlimmerten, anstatt die Luft von dem Gestank zu reinigen.
Das Gebäude war sehr groß, da die Bishop Church High School abgesehen von einem mittelmäßigen Footballteam auch noch ein Schwimmteam, die Cheerleader und den Pilateskurs der Lehrer vorweisen konnte. Die Schwimmhalle füllte das komplette Untergeschoss, doch die Umkleiden der Schwimmer befanden sich zusammen mit denen der Cheerleader im ersten Stock. Wer auch immer dafür gesorgt hatte, gehörte definitiv auf den Scheiterhaufen. Es war einfach grausam im Badeanzug bei eiskalten Temperaturen durch das Treppenhaus nach ganz unten zu laufen, vorbei an den widerlichen Blicken der Footballspieler, die auf den Stufen rumlungerten und nur darauf warteten, ihre "Show" geliefert zu bekommen.
Emerald huschte an der angelehnten Lehrerzimmertür vorbei die Stufen hinauf zu den Umkleiden, in denen sich auch die Spinde befanden.

Sie hatte Glück. Ihre liebste Strickjacke hing an einem der Haken. Noch nie war Emerald über das Dasein eines Kleidungsstücks mehr erfreut gewesen. Ein Blick auf die Uhr - 18 Minuten zu spät. Es war kein Rekord, aber Mr. Howard würde trotzdem alles andere als erfreut darüber sein. Letzte Woche hatte er sie ermahnt, würde sie sich noch einmal verspäten, müsste sie die nächsten drei Wochen nachsitzen und ihre Eltern würden informiert werden. Sie fluchte leise, verstummte aber sofort, als Stimmen an ihr Ohr drangen.

Der Footballcoach, Coach Buckley, schien sich mit jemandem in einer hitzigen Unterhaltung zu befinden.
"Es geht mir nicht um ihr Privatleben, was zählt sind Ergebnisse!", rief der Coach aufgebracht.

Emerald warf sich die Jacke über, ein Gespräch über den dämlichsten Sport der Weltgeschichte musste sie nicht belauschen. Da würde sie vor Langeweile noch einschlafen und ihre Anatomiestunde überhaupt nicht besuchen können - was auch nicht so furchtbar gewesen wäre. Das hätte allerdings den dritten Schulverweis zur Folge und damit wäre ihre Zeit an dieser Schule endgültig abgelaufen, was dann doch nicht ihr Ziel war.
Ein Dorn im Auge ihrer beiden Eltern zu sein, reichte Emerald vollkommen aus.

"Sie waren die letzten Monate nicht auch nur eine Sekunde auf dem Spielfeld!"

Ein dumpfer Schlag ertönte, als hätte jemand auf einen Tisch oder gegen die Wand geschlagen.

"Lee hat den Posten. Die Ersatzbank wird Ihnen fürs Erste genügen müssen."

Emerald war am Fuß der Treppe angekommen, nun war auch die andere Stimme deutlich zu hören.

"Jason kann nicht einmal unterscheiden, ob er gerade in die Endzone läuft oder doch noch dabei ist, sich die Schuhe zu binden", sagte der Unbekannte.

Die junge Washington schlich an der angelehnten Lehrerzimmertür vorbei hinaus auf den Sportplatz, jedoch nicht, ohne den Coach ein letztes Mal wütend aufstampfen zu hören und wie er zornig rief: "Ersatzbank oder Sie sind raus! Das ist mein letztes Wort!"

Emerald rannte so schnell zurück in das Hauptgebäude, wie ihre Füße sie trugen. Mit der neuen Jacke konnte die Kälte ihr nichts mehr anhaben.

Noch ein Trottel wollte den Posten als Quarterback in der Footballmannschafft. Wie viele Kerle besaßen noch den IQ eines primitiven Höhlenmenschen, dessen einzige Freude darin bestand, andere mit seiner Keule zu vermöbeln?
Jason Lee abzulösen und ihn von seinem goldenen Hocker zu stoßen, war jedoch keine schlechte Idee, denn diese selbstgefällige Art, die er an den Tag legte, war zum kotzen. Sollte er doch mal zu spüren bekommen, wie sich so ein Verhalten auf einen ausüben konnte.
Mit jedem Schritt, jeder Stufe, die Emerald erklomm, um dem Klassenzimmer für Anatomie ein Stück näher zu kommen, wurde ihr mehr und mehr bewusst, wie sich diese Schule in den letzten Jahren, seit sie zum ersten Mal diese Hallen betreten musste, kein Stück verändert hatte. Die Gesichter waren vielleicht nicht mehr dieselben - viele gingen, viele kamen - doch im Grunde, war alles beim Alten geblieben.
Es gab die Sportler und ihre tanzenden Marionetten, die nach wie vor den Ton angaben, ihre Anhänger und Fans und die restlichen "Freaks". Es war wohl offensichtlich, wozu Emerald sich zählte.
Wenn diese Wände sprechen könnten, hätten sie nichts Nettes zu sagen.
Manchmal wünschte sich Emerald das Angebot ihres Vaters, sie auf ein Privatinternat abzuschieben, angenommen zu haben. Doch dort hätte sie es nicht besser. Emerald war das Geld ihres Vaters egal, den Teenagern der anderen Wirtschaftsmagnate dieser Stadt aber nicht. Die junge Washington hätte sich dort genauso einsam gefühlt, wenn nicht sogar mehr. Ohne Noall würde sie keinen Tag an der Bishop Church High überleben.
Wieder überkam Emerald die Schuld, ihren besten Freund so abscheulich behandelt zu haben. Sie musste sich später bei ihm entschuldigen, auch wenn das wohl kaum nötig sein dürfte, da Noall ihr vermutlich eh längst verziehen hatte. Er konnte nicht lange böse auf sie sein. Emerald ging es mit ihm ähnlich.

Mit einem tiefen Seufzer griff sie nach der Klinke, welche gerade von der anderen Seite heruntergedrückt wurde, jemand riss die Tür auf und Emerald stolperte in den Raum hinein, direkt in die Arme ihres Lehrers für Anatomie.

"Miss Washington!" Mr. Howards überraschter Tonfall ähnelte seiner normalen Stimmlage in keinster Weise.

Statt dem sonst eher gereizten Grummeln, quiekte er erschrocken. Einige Schüler in den Bänken hinter ihm, begannen zu kichern.

"Mr. Howard, was gibt's?", fragte Emerald zwinkernd.

"Das sollte ich wohl besser Sie fragen! Fast eine halbe Stunde zu spät, der Direktor wird sich nicht freuen, sie wieder zu sehen."

Emerald winkte ab und schüttelte den Kopf. "Bei Mr. Ackerman war ich schon. Geht es dann mit dem Unterricht weiter?"

Sie drückte sich an ihrem Lehrer vorbei, ließ sich auf dem Platz am Fenster in der zweiten Reihe nieder, holte Unterlagen und Mäppchen hervor und begann, das an der Tafel notierte abzuschreiben.
Noch immer regungslos mit der Hand an der Tür starrte sie ihr Lehrer perplex an.

Ehe er den Raum schließlich verließ, murmelte er: "Das wird Konsequenzen haben." Er machte sich auf den Weg zum Kopierraum und ließ die Schüler unbeaufsichtigt zurück.

"Washington traut sich also doch in den Unterricht", bemerkte Nathalie Fairchild. Ihre langen braunen Haare fielen ihr in kleinen Locken über die karamellfarbenen Schultern.

Wohingegen Emerald es bei vielen Mädchen an dieser Schule nicht verstand, wusste sie, wieso die Leute  Nathalie attraktiv fanden. Im Gegensatz zu den meisten brauchte Nathalie keine aufreizenden Kleider oder viel Make-up. Natürlich trug sie hauptsächlich die engsten Klamotten, die es auf diesem Planeten zu kaufen gab, denn es durfte ja kein Tag vergehen, ohne ihren durchtrainierten Körper zur Show zu stellen. Sie war auf natürliche Weise schön, zumindest in den meisten Zügen. Was an ihr wirklich abgrundtief hässlich war, war ihr Charakter. Und damit stellte sie alles andere in den Schatten.

"Halt die Klappe, Fairchild."

Emerald wollte darauf nicht mehr eingehen. Das war genug Drama für einen Tag gewesen, doch die Hitzköpfigkeit lag nun mal in ihrer Familie.

"Wir hatten schon gehofft, du würdest uns heute nicht belästigen", keifte Nathalie. Sie setzte schon zur nächsten Beleidigung an, doch Emerald packte voller Wut ihr Mäppchen und schleuderte es der Diva ins Gesicht.

Gerade in diesem Moment öffnete sich natürlich die Tür. Sofort ließen sich alle wieder auf ihre Plätze fallen, Nathalie schrie wie am Spieß, ihre Nase wäre gebrochen. Doch als die Person, die die Tür geöffnet hatte, hereintrat, verstummten alle sofort. Es war nicht Mr. Howard mit den Arbeitsblättern.
Die schwarzen Haare waren vom Wind zerzaust, die abgetragene Jeans mit den vielen Löchern steckte in Springerstiefeln, die denen von Emerald nicht ähnlicher sein konnten. Er hatte eine Lederjacke und seinen Rucksack über die Schulter geworfen und stand mit einem genervten Gesichtsausdruck einfach da, ohne sich zu rühren.
Hinter ihm erschien nun doch der kleine Anatomielehrer, der von seiner Anwesenheit alles andere als überrascht war.

"Mr. Harper, ich habe schon auf Sie gewartet, setzen Sie sich hier nach vorne." Er deutete auf die erste Reihe, wo ein Mädchen mit dunkelblonden Haaren saß und nun aufgeregt begann, an ihrer Unterlippe zu kauen.

Mit einem dumpfen Aufschlag ließ Mr. Howard den Papierstapel, den er bis eben noch in den Armen balanciert hatte, auf das Pult fallen und begann, im Klassenzimmer auf und ab zu spazieren.
Der Neuzugang setzte sich, doch damit war die Anspannung noch lange nicht verflogen.

Tony Martinez, Emeralds Banknachbar und Laborpartner in den wissenschaftlichen Fächern, stupste die junge Washington in die Seite und flüsterte: "Er ist doch ein Senior, ein Abschlussschüler. Wieso ist er dann hier?"

Emerald zuckte mit den Schultern. Ihr Blick war stur geradeaus gerichtet.
Nathalie schien sich dieselbe Frage zu stellen, kaum hatte sie sie laut ausgesprochen, erntete sie einheitliches Nicken und zustimmendes Gemurmel der Schüler. Mr. Howard griff sich müde an die Nasenwurzel. Es war aber auch albern von ihm gewesen, zu glauben, die Teenager würden Grayson Harpers bloße Anwesenheit einfach so hinnehmen. Dafür war das Mysterium um den verlorenen Quarterback zu groß geraten.

"Mr. Harper, Sie können für sich selbst sprechen."

Grayson räusperte sich.
"Danke für ihr tiefes Vertrauen, Sir, doch ich verzichte auf die Ehre, vor diesen Leuten über mein Privatleben zu reden." Damit schien für ihn die Sache geklärt zu sein.

Der Lehrer versteifte in seiner Haltung, seine Lippen formten bloß noch eine gerade Linie und er verengte die Augen schlitzförmig.
"Nun", sagte er, "Dann ist es wohl an mir Sie alle aufzuklären. Mr. Harper wird einige Wochen unseren und ein paar weitere Kurse besuchen, da er aufgrund von Fehlzeiten sonst den Abschluss aberkannt bekommt. Die Schule hat sich aber bereit erklärt, ihm noch eine Chance zu geben."

"Wuhu", grummelte Grayson sarkastisch. "Noch mehr Unterricht."

Emerald schmunzelte leicht über seine Antwort, verhärtete aber sogleich ihren Blick, als der ehemalige Quarterback seinen Blick durch die Klasse gleiten ließ. Er sollte nicht denken, sie hätte etwas für seinen Humor übrig.

"Dann könnten wir ja endlich mit dem Unterricht fortfahren." Mr. Howard warf Emerald und Grayson einen strengen Blick zu, begann die Blätter zu verteilen und erzählte der Klasse etwas über die Knochen im menschlichen Ohr.

Als es schließlich zur Pause klingelte, war Grayson der erste, der das Klassenzimmer verließ. Ruckartig erhob er sich von seinem Platz und hetzte auf die Tür zu.
Er hatte jedoch nicht mit Nathalie gerechnet, die sich ihm in den Weg stellte, die Arme vor der Brust verschränkt und ein süffisantes Lächeln auf den Lippen.
Zu Emeralds Belustigung war ihre Nase noch immer gerötet und wirkte leicht geschwollen. Das hatte die Hexe nicht anders verdient.

"Grayson Harper ist also wieder da?", fragte sie unnötigerweise, er stand immerhin vor ihr.

"Nein, du träumst bloß", erwiderte er todernst.

Emerald beobachtete wie sich die beiden in einem Wettstarren duellierten, während sie ihre Tasche packte.

Tony Martinez lehnte sich zu ihr rüber und flüsterte: "Nathalie scheint ihren Schwarm wiederzuhaben."

Emerald unterdrückte ein Schnauben. Es waren in ihrem ersten Jahr Wetten gelaufen, wie lange es wohl dauern würde bis Grayson und Miss Perfect zu einem Paar würden. Noch war nichts geschehen. Bei Nathalies Hartnäckigkeit würde es aber wohl nicht mehr allzu lange dauern. Das erste Mal war er ihr nur entkommen, weil er einfach abgetaucht war. Nun war er zurück und das ganze Katz und Maus-Spiel ging von vorne los.

Emerald zwängte sich aus dem Klassenzimmer, vorbei an den Streithähnen, doch bevor sie sich aus dem Staub machen konnte, zischte Nathalie ihr noch drohend hinterher, dass sie das mit dem Mäppchen bereuen würde.

Ein Lächeln umspielte die Lippen der jungen Washington, als sie entgegnete: "Behalt das alte Ding. Es soll dich dran erinnern, wieso deine Nase so entstellt aussieht."

Schockiert betastete Nathalie ihr Gesicht.
Emerald wandte sich zum Gehen, doch hielt kurz inne, als sie Graysons Blick bemerkte. Er grinste schelmisch und zwinkerte ihr zu.

Die Treppen hinunter stolpernd, streiften ihre Augen über die Schülermenge auf der Suche nach einem honigblonden Jungen mit Star-Trek-T-Shirt.
Sie fand ihn schließlich gegen seine Spinde gelehnt. Er blätterte gerade in einem Comic, als sich Emerald lautstark gegen den Spind neben seinem fallen ließ. Erschrocken ließ Noall das Heft fallen und betrachtete seine beste Freundin verärgert.

"Du hast mich erschreckt", meckerte er und formte mit seinen Lippen einen kleinen Schmollmund.

"Sei nicht so, es tut mir leid."

Noalls Stirn glättete sich und seine Augen begannen freudig zu glitzern. So gefiel er ihr besser, fröhlich und vor allem nicht böse auf sie.

"Was ist denn in die gefahren?" Noall deutete auf die Schüler, die sich alle auf die Treppenaufgänge zu drängten, um einen Blick auf den zurückgekehrten Grayson Harper zu erhaschen.

"Du wirst nie erraten, wer seinen Hintern wieder in die Schule bewegt hat."

"Grayson Harper!", keuchte Noall und zog scharf die Luft ein, als sich gerade dieser einen Weg durch die halbe Schülerschaft bahnte.

Emerald nickte zustimmend.

"Ich hatte gehofft, den Kerl nie wieder zu sehen", murmelte Noall.

Emerald betrachtete ihren besten Freund mit mitleidigen Blicken. Es hatte nicht mal eine Woche an der Bishop Church High gebraucht, bevor er zu einem Ziel der Sportler geworden war. Harper und seine Freunde hatten Spaß daran, im Winter Wasserbomben auf unschuldige Schüler zu werfen. Wenigstens war er jedes Mal mit Nachsitzen bestraft worden, doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, seine idiotischen Spielchen fortzusetzen.

"Du hast dich umgezogen", stellte Noall nach einer Weile des Schweigens fest.

Emerald zog die Augenbrauen zusammen und sah an sich runter. Die Strickjacke war aufgegangen und eröffnete nun freie Sicht auf das graue T-Shirt, dass sie von Jennifer bekommen hatte.

"Ich sag dir die Welt wird untergehen. Erst gibt Jenny mir ihr T-Shirt und dann... der da."

Grayson wurde gerade in eine Bärenumarmung von Billy Dowl gezogen. Ein weiterer primitiver Footballspieler, der von seinen Freunden "the Canon" genannt wurde, da er in seiner Position als Tackle jeden umnietete, der ihm in die Quere kam.

"Du bist wieder da, Alter!", rief er glücklich.

Auch die anderen Spieler der Mannschaft eilten heran, um Grayson anerkennend auf die Schulter zu klopfen, bloß Jason Lee stand im Schatten seiner Freunde und beobachtete die Situation argwöhnisch. Es schien ihm überhaupt nicht zu gefallen, dass sein Vorgänger wieder da war, schließlich spielte Grayson, soweit Emeralds Kenntnisse reichten, deutlich besser als er.

"Jason wird diese Abreibung vielleicht von seinem hohen Ross runterholen", sagte Noall und Emerald lachte.

Das würde ein merkwürdiges Schuljahr werden. Grayson Harper der verschwundene Quarterback war zurück. Die einzige Person auf diesem Planeten, die Emerald noch mehr hasste als Jason. Das wollte schon was heißen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top