01. Auftakt
An einem kühlen Mittwochmorgen stieß der Wind die angelehnte Küchentür, die zum hinteren Teil des Gartens führte, auf und wehte eine große Ladung Herbstlaub in das Zimmer. Die Familie Washington saß im Esszimmer des großen Hauses und frühstückte in peinlicher Stille.
Mr. Washington, ein in die Jahre gekommener Geschäftsmann mit dunkelbraunem Haar, welches mittlerweile leicht gräulich wurde, saß am Kopfende des länglichen Edelholztisches und blätterte im Wirtschaftsteil der Zeitung. Seine Frau hingegen hatte dunkelrotes Haar und sah um einiges jünger aus als ihr Mann. Sie aß still und leise ihr Croissant und sah sich Gartenzeitschriften an, um neue Anregungen für ihren preisgekrönten Blumengarten, in dem nur die exklusivsten Pflanzen ihren Platz hatten, zu finden.
Ihre Kinder stocherten in ihrem Essen herum, die Uhr immer im Blick, darauf wartend, dass sie sich endlich loseisen und ihren Tätigkeiten nachgehen konnten.
Zayn Washington, der ältere der Beiden hatte seit einigen Jahren seine Schulausbildung mit Bravour beendet und hoffte nun auf eine Musikerkarriere, die von seinen Eltern zwar nicht gefördert aber toleriert wurde. Seine 5 Jahre jüngere Schwester Emerald hingegen ging noch zur Schule und auch sie hoffte auf eine Karriere, die von ihren Eltern alles andere als erwünscht war und zu ihrem Pech hatten sich Mr. und Mrs. Washington dazu entschieden ihr noch mehr Steine in den Weg zu legen als ihrem Bruder. In diesem Haus hatten die Geschwister nie etwas zu sagen gehabt und das würde sich wohl auch nie ändern...
Die Uhr, die an der Wand ihnen gegenüber hing, verkündete das Ende des Horror-Frühstücks.
Die Geschwister sprangen gleichzeitig auf, was ihnen missbilligende Blicke ihrer Eltern einbrachte und liefen in ihre Zimmer.
Emeralds Zimmer lag im zweiten Stock und etwas abseits von den anderen Räumen, so dass sie ihre Ruhe hatte, wenn sie für die Schule lernen musste.
Emerald suchte ihre Schulsachen zusammen, stopfte sie in ihre schwarze Handtasche, die sie von ihrer Mutter im letzten Herbst geschenkt bekommen hatte, und eilte danach ins Bad.
Ein kurzer Blick in den Spiegel verriet ihr, dass ihre rote Mähne noch unkontrollierter als sonst aussah und ihre Sommersprossen besonders aufdringlich wirkten. Für die Schule putzte sie sich schon lange nicht mehr raus, so auch heute, band sie ihre Haare in einem hohen Zopf zurück und spritzte sich nur etwas Wasser ins Gesicht.
In der schwarzen Jeans mit den vielen Löchern und einem einfachen schwarzen Pullover fühlte sie sich am wohlsten, auch wenn ihre schon auffallend roten Haare so nur betonter herausstachen, liebte sie diese schlichten und dunklen Outfits.
Sie schnürte gerade ihre Springerstiefel als ihre Mutter im Türrahmen zum Flur auftauchte.
"Emerald, zieh doch vernünftige Kleidung an und nicht die ruinierte Hose."
Mit tadelndem Blick musterte sie ihre Tochter und schüttelte den Kopf.
"Lass Emy in Ruhe, Mom", maulte Zayn, der die Treppe hinabstieg um ebenfalls zu verschwinden.
Mrs. Washington stöhnte auf und verschränkte die Arme. "Wohin willst du?", fragte sie ihren Sohn.
"Zu Patrick und Johnny. Wir proben."
Da knallte die Tür auch schon zu und er war verschwunden. Man hörte nur wie draußen der Motor seines Autos aufheulte und die Reifen über den Kies rollten.
Emerald nutzte ihre Chance und huschte an ihrer Mom vorbei, schnappte sich Tasche und Mantel und stürzte auch nach draußen.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und sie atmete tief durch. Ihre Eltern waren keine schlechten Menschen, dennoch hatte sie sich noch nie in diesem Haus so richtig zu Hause gefühlt. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit verspürte sie einfach nicht.
Emerald schlenderte die Straße entlang bis sie zu einer Bushaltestelle kam und sich setzte.
Sie schloss die Kopfhörer an ihr Handy und suchte sich eine Playlist raus, die ihre Laune widerspiegelte, da erhielt sie eine Nachricht von ihrem Vater.
Komme doch bitte nach der Schule zu mir ins Büro. Wir müssen etwas besprechen. Dein Vater.
Frustriert schloss sie die SMS wieder und suchte weiter nach einem schönen Lied. Es konnte nichts Gutes bedeuten, dass ihr Vater sie sprechen wollte. Das letzte Mal hatte er ihr eröffnet, dass egal was sie wollte, sie nach ihrem Abschluss in seiner Firma arbeiten würde. Danach hatte Emerald gehen sollen. Es gab keine Debatte, sie hatte nichts dazu sagen, sich nicht verteidigen dürfen- Nichts. Es war beschlossene Sache gewesen und danach hatte sie beschlossen, wenn ihre Zukunft sowieso verbaut war, brauchte sie sich nicht mehr anzustrengen. Ihr Durchschnitt von 1,4 rutschte auf 2,9 und es scherte sie kein bisschen. Es war doch sowieso egal.
Gerade als sie ein passendes Lied gefunden hatte, bog der Bus um die Ecke. Sie steckte sich die Stöpsel in die Ohren und drückte auf Play.
Die Tür öffnete sich, sie hielt dem Fahrer ihren Schülerausweis hin und setzte sich auf einen der hinteren Zweisitzer. Der gelbe Schulbus fuhr ruckartig los, Emerald schloss die Augen und wippte mit ihrem Fuß im Takt der Musik, die an ihre Ohren drang.
Der Bus war gut gefüllt, aber so war es meistens, da die Haltestelle von Emerald eine der letzteren war, bevor der Bus bei ihrer Schule Halt machte.
Emerald summte ein paar Zeilen leise mit und sah sich um. Ganz Hinten saßen wie immer die Footballspieler und ihre Barbies, besser bekannt als Cheerleader, doch die junge Washington fand die Bezeichnung 'Barbie' für die wasserstoffblonden Püppchen besser.
Nathalie Fairchild und Camille Stainfield, die Headcheerleaderinnen, und ihre Gefolgschaft sahen in den kurzen blau-schwarz-silbernen Röcken echt lächerlich aus. Zumal der Herbst so langsam über das Land hereinbrach und es verdammt kalt wurde.
Ganz vorne saßen hauptsächlich die Freshman und Sophomores, die wohl noch nicht realisiert hatten, dass sie auf der High School waren und ein paar der höheren Klassen, die vereinzelt dazwischen Platz genommen hatten, um nicht nach hinten zu müssen und sich somit der Gefahr der Sportler auszusetzen.
Es war wie auf allen High-Schools, die Sportler suchten sich ein oder mehrere Opfer und schikanierten diese das ganze Schuljahr. Emerald hatte dem versucht entgegenzuwirken, als ihr bester Freund zu einem dieser Betroffenen wurde, doch keiner hatte den Schneid, sich den Königen der Schule entgegenzustellen.
An der nächsten Haltestelle hüpfte ein honigblonder Junge in einer ausgeblichenen Jeans, Sneakern und einem Star-Trek-T-Shirt in den Bus und suchte die Reihen nach ihr ab.
"Hey Emmy!", rief er und schwang sich auf den Sitz neben ihr. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er Emerald eine Konzertkarte hinhielt.
"Alles Liebe nochmal nachträglich, Em."
Emerald nahm mit zitternden Händen die goldverzierte Karte und starrte ihren besten Freund mit offenem Mund an. "Du bist der Beste, Noall." Stürmisch fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn voller Freude auf die Wange.
Noalls Gesicht ähnelte nun mehr einer Tomate und verlegen kratzte er sich im Nacken.
"Das hat dich bestimmt ein Vermögen gekostet. Du solltest doch kein Geld für mich ausgeben, du Spinner."
Er lächelte sanft und nahm ihre Hände in seine. "So konnte ich dich aber endlich mal wieder zum Lächeln bringen. Das tust du in letzter Zeit so selten."
Emerald rümpfte die Nase und wandte den Blick ab. Er hatte schon recht, die letzten Tage waren nicht besonders gut gelaufen. Mr. und Mrs. Washington hatten sich furchtbar mit Zayn gestritten, da er nicht einsehen wollte, dass, laut seiner Eltern, ein Leben als Musiker vielleicht nicht das Beste für ihn war. Seine Schwester jedoch war der festen Überzeugung, ihr Bruder sei einer der wenigen Schlagzeuger, die es tatsächlich zu etwas bringen konnten. Genug Talent hatte er. Zum Schluss hatte Zayn gedroht, sollten sich ihre Eltern nicht einkriegen, würde er endgültig ausziehen.
Diese Neuigkeit hatte bei Emerald für schlaflose Nächte gesorgt, es war für sie einfach undenkbar, ohne Zayn weiter bei ihren Eltern zu bleiben. Das würde sie nicht überleben.
Nächster Halt: Bishop Church High School
"Wir sind da", murmelte Emerald und nahm ihre Tasche.
Noall stand auf und wollte gerade auf den Gang treten, als Jason Lee, einer der Football-Idioten, ihn zurück auf seinen Sitz schubste und sich somit Platz schuf für sich und seine Paviane von Freunden.
"Platz da, du Nerd!", grölte er und erhielt tosenden Beifall seitens seiner Gefolgschaft.
Noall rieb sich beschämt den Hinterkopf, der gegen die Sitzkante geknallt war und fluchte leise.
"War das grade wirklich nötig?!"
Emerald war wütend aufgestanden, die Hände in die Seiten gestützt und mit einem Blick, der Papier in Rauch aufgehen lassen hätte. Ihr Gesicht hatte die Farbe ihrer Haare angenommen und alle im Bus wurden leise. Ihre Blicke wechselten zwischen Jason und Emerald hin und her.
"Was?", fragte der Footballstar gereizt.
"Das heißt 'wie bitte', Lee" Sie sprach seinen Namen aus, als wäre er eine ekelerregende Krankheit.
Jason ließ seinen Kiefer knacken und trat einen Schritt auf Emerald zu.
Nathalie und Camille kicherten hinter vorgehaltener Hand und sahen den beiden Streithähnen belustigt zu.
Emerald verschränkte die Arme und funkelte ihn an.
"Pass bloß auf, Washington. Die Kinder, die mit dem Feuer spielen, verbrennen sich auch."
Noall warf seiner besten Freundin einen warnenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Er wollte keinen großen Hehl daraus machen. Mittlerweile hatte er sich an die Art der Sportler gewöhnt, unhöflich und grob. Doch Emerald stand für ihren Freund ein. Sie würde nicht einfach von Jason Lee ablassen, weil es einfacher war, im Leben gab es das sowieso nicht.
"Macht es dir Spaß, andere rumzuschubsen? Andere, die schwächer sind als du? Brauchst du das, um dich stark zu fühlen?"
Die nächsten Sekunden vergingen für Emerald wie in Zeitlupe.
Sie sah Kathlyn Meyers auf sich zusteuern, sah wie diese ihr Gesicht verzog und sie wütend anstarrte, wie sie sich vor Jason stellte und den Mund aufriss.
Noall reagierte schnell, doch nicht schnell genug. In dem Moment als er Emerald wegziehen wollte, hatte Kathlyn schon ihren Kaffeebecher über dem Kopf der rothaarigen Washington ausgeleert.
"Sprich nicht so mit meinem Freund!", hatte Kathlyn gebrüllt.
Einen Moment war es im kompletten Bus still, dann begannen die ersten zu lachen. Irgendein Freund von Jason Lee rief: "Kathy musste den Brand löschen, der auf ihrem Kopf tobte! Hab' ich nich' Recht Leute?"
Die Menge johlte und tobte. Emerald wischte sich die Kaffeetropfen aus der Stirn und schnalzte laut mit der Zunge. Sie packte Noall am Arm und zog ihn mit sich aus dem Bus. Die Schreie hallten ihnen noch den ganzen Parkplatz nach.
"Musst du weinen, Washington?"
"Der rote Teufel flieht!"
"Brennt der Kaffee deine hässlichen Haare weg?"
Der heiße Kaffee trieb ihr Tränen in die Augen, doch sie würde es diesen idiotischen Aasgeiern nicht gönnen, vor ihnen heulend zusammenzubrechen. Dunkle Flecken hatten sich auf ihrem Pullover gebildet und brühende Tropfen rannen ihren Oberkörper hinab.
"Emmy, renn doch nicht so. Ich komm' ja kaum hinterher." Noall bemühte sich verzweifelt mit Emerald Schritt zu halten, doch sie verringerte ihr Tempo nicht, nicht jetzt.
Sie wollte das Zeug aus ihren Haaren waschen, die Kopfhaut kühlen, und - was sie nie laut sagen würde - sich in einer der Kabinen einsperren und sich beruhigen, bevor sie völlig die Fassung verlieren würde.
Aus Angst ihre Stimme könnte versagen, presste sie nur kühl hervor: "Nicht jetzt, Noall."
Sie hatten den grauen Asphalt endgültig überquert, sie stieß die Tür unwirsch auf und betrat das alte Gebäude. Es schien als würde nur die Farbe die alten Mauern zusammenhalten, doch die Wände in ihrem hässlichen grün waren alles andere als schön.
Ihre klammen Haare klebten an ihren geröteten Wangen.
"Em, wo willst du hin. Du hast doch gleich Unterricht."
Ungläubig drehte sie sich um.
"Ach was, Noall. Daran habe ich ja gar nicht gedacht. Ist dir vielleicht in den Sinn gekommen, dass ich erst den Kaffee aus meinem Gesicht waschen will?"
Wütend wischte sie sich erneut ein paar Tropfen, die herabliefen, aus der Stirn.
So hatte Emerald ihn noch nie angefahren und sie spürte wie sehr es ihn verletzt hatte, doch für den Moment konnte sie es jetzt nicht über sich bringen, sich zu entschuldigen. Sie wusste, dass das ihm gegenüber nicht fair war... und doch.
Noall hätte Emerald einfach in Frieden lassen sollen.
Sie hob aus Gewohnheit den Arm, um ihn zu umarmen und sich zu verabschieden, doch riss ihn gleich wieder zurück, drehte sich um und lief in Richtung der Toiletten.
Und Noall blickte betreten zu Boden, packte seinen Rucksack und schlenderte schlecht gelaunt zum Unterricht.
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