Wie geht das Projekt weiter? - Noahs Sicht


Lilly geht mir seit unserem ersten Treffen gekonnt aus dem Weg und das verstehe ich nicht. Okay, ich habe dort vielleicht zu einem offenbar sensiblen Thema eine Frage gestellt. Aber sie war doch diejenige, die gesagt hat, dass wir gemeinsam an diesem Projekt arbeiten müssen. Ich lasse ein paar Tage vergehen, doch irgendwann habe ich von dieser Funkstille genug. Also passe ich einen günstigen Moment nach dem Unterricht ab, als sie vor ihrem Spind steht und anscheinend ihre Schulbücher sortiert.

,,Lilly, wir müssen reden'', sage ich und warte darauf, dass sie von ihren Büchern ablässt.

,,Ich wüsste nicht worüber'', meint sie kalt und schaut mir dabei nicht mal richtig in die Augen.

Stattdessen schaut sie auf ihren Spind und tut so, als würde ich gerade nicht neben ihr stehen.

,,Du kannst mir nicht ständig aus dem Weg gehen. Wir haben noch ein Projekt, welches wir gemeinsam erledigen müssen. Schon vergessen?'', erinnere ich sie.

Bei diesen Worten dreht sie sich abrupt zu mir um.

,,Ach, auf einmal interessierst du dich dafür, dass wir zusammen daran arbeiten?'', fragt sie mich mit einem vorwurfsvollen Unterton in ihrer Stimme. ,,Ist schon gut. Ich kann es selbst zu Ende bringen. Ist halb so wild. Ich schreibe einfach beide Texte und gebe dir deinen rechtzeitig bevor wir ihn vorstellen müssen.''

,,Ich möchte das aber nicht'', beharre ich und versuche ihr damit zu verdeutlichen, dass ich das nicht durchgehen lassen werde.

In meinem Leben ist mir vieles egal: Mein Abitur, meine berufliche Zukunft, ob ich glücklich bin. Ob meine Eltern stolz auf mich sind, was sowieso garantiert nicht zutrifft. Das Projekt jedoch ist mir auf einmal nicht mehr egal. Ich will mehr über Lilly Schilling erfahren, weil ich glaube, dass wir mehr gemeinsam haben, als ich ursprünglich gedacht habe. Ich möchte wissen, was hinter diesem Mädchen steckt, welches glaubt, keine Geschichte zu erzählen zu haben.

,,Noah, ich habe dich überall gesucht, Kumpel.''

Plötzlich steht Louis neben mir und blickt Lilly und mich interessiert an.

,,Was willst du denn von der?'', möchte er von mir wissen.

,,Es ist nichts. Ich wollte nur von ihr wissen, wann sie mit mir wieder am Projekt arbeiten wird'', erkläre ich kurz und knapp.

Mehr Infos werde ich Louis gegenüber nicht herausrücken.

,,Du möchtest dich ernsthaft an dem Projekt beteiligen'', bringt Louis ungläubig heraus und schüttelt verständnislos den Kopf. ,,An dem Projekt kann doch Lilly alleine arbeiten. Die kleine Streberin braucht deine Hilfe dafür ganz sicherlich nicht.''

,,Herr Hartkamp hat darauf bestanden, dass auch ich meinen Teil zum Projekt beitrage'', erwidere ich und wünsche mir, dass Louis geht.

Ihn kann ich gerade wirklich nicht gebrauchen. Und dann bricht Louis in schallendes Gelächter aus. Er hält sich sogar den Bauch vor Lachen.

,,Seit wann ist Noah Baumgartner so ein Weichei geworden? Dir ist doch Schule sonst komplett egal? Wieso ist es dir so wichtig, was der alte Hartkamp von dir möchte? Ist es etwa wegen der hier?''

Mit dem Finger deutet er auf Lilly, die ihren Rucksack umklammert hält und sich ziemlich unwohl in dieser Situation zu fühlen scheint. Ich möchte ihn am liebsten in die Schranken weisen und erwidern, dass es ihn gar nichts angeht, doch ich bleibe still.

,,Ist sie etwa auch der Grund, dass du auf einmal die Party so fluchtartig verlassen hast?''

Er hat recht. Wegen Lilly bin ich von der Party verschwunden und zum Friedhof gegangen. Wegen ihr war mein Kopf wieder voll mit Gedanken an Antonia. Ich weiß nicht wieso, aber Lilly hat in mir den Noah Baumgartner zum Vorschein gebracht, den ich sonst versuche vor der Welt zu verstecken.

,,Quatsch, ich hatte einfach keinen Bock mehr. Irgendwie war ich dafür nicht richtig in Stimmung'', versuche ich mein Verhalten runterzuspielen.

,,Hey, da seid ihr beiden ja'', höre ich Basti, der nun ebenfalls auf uns zukommt.

,,Findest du, dass Noah sich verändert hat, seitdem er an dem Projekt mit der Streberin arbeitet?''

,,Ich hatte es nicht direkt mit dem Projekt in Verbindung gebracht. Aber ich finde schon, irgendwie wirkst du ziemlich neben der Spur, Noah.''

,,Was ihr da sagt, stimmt nicht. Ich bin immer noch die gleiche Person'', verteidige ich mich.

,,Erzähl uns doch nichts.''

,,Wisst ihr was? Glaubt doch was ihr wollt. Ich gehe jetzt.''

Gerade als ich einfach gehen möchte, bleibe ich stehen, weil ich höre, dass sie etwas zu Lilly sagen.

,,Was hast du mit ihm gemacht, Streberin?''

,,Ich ... ich habe gar nichts mit ihm gemacht!'', versichert Lilly stotternd.

,,Hör mir ganz gut zu, ja? Du hältst dich ab sofort von Noah fern! Er wird nie etwas von dir wollen, versuche es also erst gar nicht bei ihm. Ihr spielt in einer völlig anderen Liga. Er würde sich niemals für jemanden wie dich entscheiden.''

Das ist der Moment, in dem ich mir das alles nicht mehr mit anhören kann und wieder zurückkomme.

,,Lasst sie in Ruhe. Sie hat absolut nichts gemacht!'', nehme ich Lilly in Schutz.

Mich kotzt es regelrecht an, dass sich meine beiden Freunde so kindisch verhalten.

Können sie sich nicht besser um ihre eigenen Probleme kümmern?

,,Wenn ihr auf jemanden rumhacken wollt, dann auf mir. Aber nicht auf ihr. Das hat sie nämlich nicht verdient.''

Meine Freunde geben tatsächlich nach. Sie verschwinden und lassen mich erneut mit Lilly allein zurück.

,,Du hättest mich nicht vor deinen Freunden verteidigen brauchen'', beschwert sie sich.

,,Sie sind doch wegen mir auf dich losgegangen'', stelle ich klar.

,,Du kannst gerne wieder als Einzelgängerin unterwegs sein und dich vor der Welt verstecken. Aber davor werden wir dieses Projekt zusammen beenden. Und dieses Mal machen wir das richtig und gehen alle Fragen durch. Erst danach können wir gerne wieder getrennte Wege gehen.''

Lilly scheint von meiner Hartnäckigkeit sehr verblüfft zu sein. Ihr Mund öffnet sich, als wollte sie etwas dagegen erwidern, doch stattdessen nickt sie.

,,Okay, dir scheint das alles ja wirklich wichtig zu sein. Also schön, bringen wir es zu Ende. Wann hättest du denn Zeit?''

Ich bin geradezu erleichtert. Sie ist bereit, es nochmal zu probieren. Sie will sich darauf einlassen. Vielleicht lerne ich das Mädchen, welches sich in ihrem Schneckenhaus verkriecht und so gut wie niemanden an sich heranlässt, endlich kennen. Ich werde meine Chance nutzen und alles dafür tun, dass sie sich mir gegenüber öffnet. Denn ich bin gespannt, was mich erwarten wird. Und vielleicht werde ich so auch herausbekommen, was mit ihrem Vater ist. Es interessiert mich brennend, welcher Mensch hinter dieser Fassade steckt.

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