Tröstende Unterstützung - Noahs Sicht


Ich war noch nie in meinem Leben mit einem Mädchen auf ein Date. Klar, ich hatte schon mit einigen Mädchen aus meiner Jahrgangsstufe rumgemacht, doch mehr ist daraus nicht geworden. Das mit Lilly ist etwas anderes. Es geht um mehr als nur körperliches Verlangen. Ich möchte sie zum Lachen bringen und dass sie jemanden in mir hat, dem sie alles mögliche anvertrauen kann. Ich will sie noch mehr als Mensch mit all ihren Eigenarten kennenlernen und Zeit mit ihr verbringen. Wenn alles gut laufen wird, dann werde ich sie am Ende des Tages fragen, ob sie meine Freundin sein möchte. Es gibt keinen Grund, warum sie nein sagen sollte. Sie hat mir ehrlich gestanden, dass sie mich auch mag.

Die Chancen stehen also ziemlich gut, dass sie mit mir eine Beziehung eingehen möchte. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird, wenn ich der ,,Freund'' von jemanden bin. Doch mit Sicherheit werden wir gemeinsam herausfinden, was es bedeutet, ein Paar zu sein. Die einzige Sache, worüber ich mir Sorgen mache, ist, ob Louis und Basti auch in Zukunft so abneigend gegenüber Lilly sein werden. Mir ist nicht klar, was genau sie gegen Lilly haben. Dass es so langfristig nicht weitergehen kann, bin ich mir bewusst. Ich werde probieren mit ihnen zu reden und ihnen zu erklären, dass das mit mir und Lilly etwas Ernstes ist. Als ich vor ihrem Haus stehe, sammle ich mich kurz und versuche alle unnötigen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen.

Ich möchte den Augenblick genießen und einfach ein schönes Date an unserem Rückzugsort haben. Dieses Mal habe ich an alles gedacht und sogar ein Picknick für uns beide vorbereitet. Ich drücke auf die Türklingel und warte. Es ist Lillys Mutter, die mir die Tür öffnet. Ich habe keine Angst, dass sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen wird, weil ich weiß, dass sie es mittlerweile akzeptiert, dass Lilly mit mir Kontakt haben möchte.

,,Hallo, Noah'', begrüßt sie mich etwas freundlicher als das letzte Mal.

Dennoch gefällt mir etwas an dem Ton ihrer Stimme nicht. Sie klingt besorgt und ich befürchte, dass es etwas mit Lilly zu tun hat.

,,Ich bin hier, um Lilly abzuholen. Sie wollte sich heute mit mir treffen'', erkläre ich ihr und warte ab, was sie dazu sagen wird.

,,Es tut mir leid, aber heute ist kein guter Tag für ein Treffen. Lilly geht es heute nicht so gut. Mir wäre es also lieber, dass sie heute zuhause bleibt.''

Zu hören, dass es Lilly heute aus irgendeinem Grund schlecht geht, tut mir selbst im Herzen weh. Jetzt möchte ich sie umso dringender sehen und für sie da sein.

,,Darf ich zu ihr?'', frage ich nach und versuche möglichst ruhig zu bleiben.

Wenn Lillys Mutter mich nicht reinlässt, dann ... Ich weißt auch nicht, was ich dann machen würde. Die Tür eintreten wäre eine der Optionen.

,,Komm rein. Sie ist oben in ihrem Zimmer.''

Erleichtert schenke ich Lillys Mutter einen dankenden Blick und trete ein. Den Weg zu Lillys Zimmer kenne ich schon. Ich klopfe an der Tür an.

,,Mama, mir geht es gut, du brauchst mir keinen neuen Tee machen'', höre ich sie aus ihrem Zimmer rufen.

Ich öffne die Tür. Lilly liegt in ihrem Bett und hat vom Weinen verquollene Augen. Erschrocken sieht sie mich an, als sie begreift, dass es nicht ihre Mutter ist. Lilly versucht sich noch umzudrehen, doch ich habe alles schon gesehen.

,,Noah, ich ... Geh am besten wieder. Ich ...''

Ich setze mich zu ihr aufs Bett und schlinge meine Arme um Lilly. Sie wehrt sich nicht dagegen und lässt zu, dass ich sie an meine Brust drücke. Sie streckt von selbst die Arme nach mir aus und lässt zu, dass ich sie halte.

,,Was ist los?'', möchte ich von ihr wissen.

,,Morgen ist der .... morgen ist der Todestag meines Vaters. Ich hätte es fast vergessen. Doch als ich auf das Datum geschaut habe, ist es mir wieder eingefallen'', platzt es aus ihr heraus.

Ich verstehe es. Jedes Mal, wenn Antonias Geburtstag oder Todestag näher kommt, fühle ich mich genauso wie Lilly gerade. Ich kann dann nur daran denken, dass sie keinen weiteren Tag auf dieser Welt erleben wird.

,,Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben? Dann wäre ich früher zu dir gekommen und hätte nach dir gesehen'', frage ich sie behutsam.

,,Ich wollte dich nicht mit meiner eigenen Trauer belasten.''

So sollte sie niemals denken. Wenn es ihr irgendwie schlecht geht, soll sie es mir sagen. Ihre eigene Trauer ist keine Last für mich. Ich weiß doch selbst, wie es sich anfühlt, wenn man einen Menschen vermisst, der einem für immer weggenommen wurde. Ich möchte, dass sie ihre Trauer mit mir teilt, damit sie sich nicht ganz so allein fühlt.

,,Versprich mir, dass du das nächste Mal bitte anrufst, wenn du so einen Tag hast'', bitte ich sie.

Lilly nickt. Ich streichle über ihre nasse Wange und gebe ihr einen Kuss.

,,Es tut mir leid, dass unser Date wegen mir ins Wasser fällt'', entschuldigt sie sich bei mir.

,,Das macht doch nichts. Wir verschieben es einfach auf einen anderen Tag'', beruhige ich sie.

Das ist doch kein Problem für mich. Ich hätte niemals von ihr erwartet, dass sie trotzdem mit mir auf ein Date gehen wird, obwohl sie sich dazu gerade absolut nicht in der Lage fühlt.

,,Sicher?''

Verdammt, sie soll sich doch deswegen selbst kein schlechtes Gewissen machen!

,,Lilly, es ist in Ordnung für mich'', bestätige ich mit noch etwas mehr Nachdruck. ,,Warte mal kurz.''

Ich mache Lilly Andeutungen, dass ich mich kurz aufrichten möchte. Ich ziehe mir die Schuhe aus und greife nach ihrer Decke. Ich ziehe sie über uns beide und platziere meine Hände auf Lillys Taille. Sie kuschelt sich an mich und für eine Weile liegen wir so nebeneinander in ihrem Bett.

,,An manchen Tagen kann ich mich kaum ansehen, ohne die Last meiner Fehler zu spüren'', höre ich sie irgendwann flüstern.

,,Ich weiß, was du meinst. Ich kenne dieses Gefühl'', murmle ich.

,,Aber du bist schon so viel weiter als ich. Du hast schon so viel Arbeit in dich gesteckt, um das alles besser in den Griff zu bekommen. Ich habe das Gefühl, ich mache einen Schritt vor und fünf Schritte zurück", wirft sie ein.

,,Es gibt keinen geraden Weg. Heilung ist nicht linear, Lilly. Der Weg ist voller Kurven und Bodenwellen und Schlaglöchern. Auch ich habe immer noch Tage, an denen ich am liebsten für den Rest meines Lebens in meinem Bett bleiben möchte. Ich habe immer noch Wochen, in denen mein ganzer Körper durch Erinnerung an die Vergangenheit schmerzt. Aber ich weiß, dass auch das Teil des Heilungsprozesses ist. Wir können nicht gesund werden, wenn wir nicht bereit sind, auch unsere Schatten zu akzeptieren. Und wir müssen bereit sein, auch Rückfälle zu erleiden. Doch wir sollten uns niemals von ihnen entmutigen lassen. Selbst die Sonne wird manchmal von dunklen Wolken verdeckt, doch das nimmt ihr nichts von ihrem strahlenden Licht.''

Ich hoffe, dass sie meinen Worten glaubt. Sie soll sich selbst nicht fertig machen, bloß weil die Erinnerung an die Vergangenheit manchmal unheimlich schmerzt. Es ist nicht schlimm, dass es einem mal so schlecht geht. Den Schicksalsschlag hat man sich schließlich nicht ausgesucht. Dass man zu solchen Gefühlsausbrüchen neigt, zeigt doch nur, dass man einen Menschen unheimlich lieb hatte.

,,Ich habe Angst, dass es für andere zu schwer ist, mich zu lieben. Dass die Trauer in mir mich von der Welt abstößt. Dass der Verlust meines Vaters mich in unliebsame Scherben zerbrochen hat.''

Ich kenne diese Befürchtung. Doch sie ist unbegründet. Mir ist es egal, dass Lillys Herz mit dem Tod ihres Dads in unliebsame Scherben zerbrochen ist. Das ändert nichts an meinen Gefühlen für sie.

,,Deine Scherben sind nicht unliebsam. Ich liebe sie, weil sie zeigen, dass du gelebt hast. Ich mag dich so wie du bist, mit all deinen Schatten. Und das werde ich so lange tun, bis du eines Tages spürst, dass du vergessen hast, dass dein Herz Risse hat. Und auch dann werde ich immer noch für dich da sein. Es ist okay, dass man sich auch mal schlecht fühlt und auch die unschönen Gefühle an sich heranlässt, Lilly. Egal wie weh es auch tut oder wie beschissen sie sich anfühlen mögen. Sie machen uns nur menschlich, die guten, wie die schlechten. Wir müssen beiden Platz geben. Doch eines dürfen wir dabei niemals verlieren.''

,,Was?''

Lilly dreht sich zu mir um, sodass sie mich ansehen kann.

,,Die Hoffnung. Die Hoffnung, dass es eines Tages besser wird und weniger weh tut'', erkläre ich ihr.

Ich wünschte, dass ich Lilly etwas von ihrer Last nehmen könnte, doch ich kann es nicht. Nur sie allein kann dafür sorgen, dass es ihr besser geht und sie besser mit ihrem eigenen Schmerz klarkommt. Was ich aber tun kann, ist für sie da zu sein in den Momenten, in denen die Trauer sie überrollt. Ich kann ihr körperliche Nähe geben und sie damit wissen lassen, dass es jemanden gibt, dem sie wichtig ist.

Ich bleibe selbst noch bei ihr, als sie längst eingeschlafen ist und nun ruhig atmet. Lillys Mutter kommt kurz in das Zimmer und ich mache ihr sofort Andeutungen, dass sie leise sein soll, damit sie Lilly nicht aufweckt. Sie wirkt erleichtert, dass ihre Tochter nun etwas Ruhe hat und schläft.

Als sie weg ist, schließe ich selbst die Augen und genieße den Trost, den wir uns gegenseitig spenden. Der Tag ist nicht so verlaufen, wie ich ihn mir vorgestellt habe, doch das macht absolut nichts. Viel mehr kommt es darauf an, dass Lilly wieder lächelt und es ihr wieder einigermaßen gutgeht.

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