Du bist nicht allein - Noahs Sicht


Drei Jahre später

,,Auf uns'', ruft Louis triumphierend aus, als wir in unserem italienischen Stammrestaurant sitzen und unsere Getränke bekommen haben. Es duftet nach gebackenem Teig und schmelzendem Käse. Die rote Ledercouch, auf der wir sitzen, ist mehr als bequem. Es brennt sogar eine kleine Kerze auf unserem Tisch. Unsere Mannschaft hat wegen mir heute das Spiel gewonnen. Lilly hat von der Tribüne aus zugesehen und uns angefeuert, was mich sehr motiviert hat.

Ich kann mir keine bessere Freundin als sie vorstellen. Basti, Louis und sie verstehen sich mittlerweile sehr gut. Wir laden sie häufig ein, wenn wir etwas zusammen unternehmen. Ich habe meinen zwei besten Freunden mittlerweile von Antonia erzählt und das hat mir ziemlich gutgetan. Die Erinnerung an meine Schwester ist längst nicht mehr eine schwere Last, die ich mit mir alleine herumschleppe. Vor kurzem hatte ich auch ein längeres Gespräch mit meinen Eltern. Sie wissen jetzt, dass ich mich für eine lange Zeit allein gefühlt habe. Sie haben mir versprochen, nicht mehr so viel zu arbeiten und am Wochenende etwas gemeinsam zu unternehmen. Wir gehen alle zwei Wochen zur Familientherapie, wo wir über Antonia und den damit verbundenen Verlust reden. Manche Sitzungen sind wirklich nicht leicht, aber hinterher fühlt man sich deutlich leichter. Ich verstehe sie nun besser und sie mich auch.

Mittlerweile weiß ich sogar schon, was ich nach der Schule machen will. Ich möchte eine Ausbildung zum Erzieher machen und Kinder auf ihrem Weg begleiten. Ich möchte für sie jemand sein, dem sie sich anvertrauen können und der sie unterstützt. Mit der Hilfe von Lilly konnte ich schon einige Bewerbungen schreiben. Tatsächlich habe ich schon eine Zusage bekommen. Ab Oktober beginne ich offiziell die Ausbildung. Davor ist aber noch eine Reise in die USA geplant, wo ich endlich meinen Wunschroadtrip machen kann. Vor ein paar Tagen habe ich Lilly gefragt, ob sie mitkommen möchte. Sie hat sofort begeistert zugestimmt. Wir haben sogar schon fleißig begonnen uns Städte und Sehenswürdigkeiten aufzuschreiben, die wir gerne besuchen würden. Unser erster gemeinsamer Urlaub ist also bereits in Planung. Es fehlt nur noch ein halbes Jahr und dann sind wir mit der Schule fertig. Ich kann es kaum glauben.

,,Auf uns'', wiederholen Basti, Lilly und ich Louis Worte und heben unsere Gläser zum Anstoßen hoch.

Das Klirren der Gläser erzeugt ein schönes Geräusch. Ich blicke in die Runde und kann nur lächelnde Gesichter sehen. In diesem Augenblick begreife ich, was es bedeutet, angekommen zu sein. Ich habe Eltern, die sich um mich sorgen. Ich habe die allerbeste Freundin dieser Welt, die man sich nun vorstellen kann und zwei beste Freunde, die mich so annehmen wie ich bin. Ich habe die Maske endgültig abgesetzt. Ich brauche nicht mehr der Noah Baumgartner zu sein, der jede Woche auf eine Party geht, um sich dort zu betrinken. Ich brauche nicht mehr unter dem Druck stehen, bei jedem Basketballspiel meine beste Performance abzulegen. Ich darf auch Spiele haben, bei denen ich nicht so gut wie sonst bin. Das wirklich Wichtige ist nur, dass ich mein Bestes gebe. Ich muss auch nicht mehr der beliebte Junge sein. Ich habe gelernt, dass die Wertschätzung von den Leuten, die mir nahestehen, viel mehr zählt.

Ich kenne meinen Wert und weiß, wer ich bin. Als der Kellner mit unseren Pizzen kommt, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Den anderen scheint es ähnlich zu gehen, sie starren alle gierig auf ihr Essen. Miit dem Essen müssen wir kurz warten, weil es ziemlich heiß ist, da sie frisch aus dem Steinofen kommt. Sobald es etwas abgekühlt sind, machen wir uns über die leckere Pizza her. Währenddessen reden wir über unsere Wünsche und andere Dinge, die uns beschäftigen oder auch zum Lachen bringen.

***

,,Möchtest du noch mit zu mir?'', erkundige ich mich bei Lilly, als wir bei mir im Auto sitzen. Vor drei Jahren hätte ich mich wahrscheinlich unwohl gefühlt, jemanden mit mir nach Hause zu bringen. Meine Freundin hat mir gezeigt, dass das gar nicht so schlimm ist. Heutzutage ist es für mich normal geworden, dass wir auch mal zu mir nach Hause gehen. Meine Eltern lieben Lilly. Immer wenn sie bei uns ist, backt meine Mutter irgendwas Leckeres, weil sie befürchtet, dass Lilly Hunger haben könnte oder fragt mich, mit was man ihr eine Freude machen könnte. Wenn sie etwas länger bleibt, fragt sie meine Freundin jedes Mal, ob sie zum Abendessen bleiben möchte.

Lillys Mutter versteht sich blendend mit meinen Eltern. Die drei treffen sich ab und zu, besuchen eine Bar oder gehen zusammen auf einen Ausflug. Auch das Verhältnis zu mir und Katrin (ich darf Lillys Mutter beim Vornamen nennen) hat sich ins Positive entwickelt. Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass ich ihr den Rasen mähe, das mache ich aber sehr gerne für sie. Wenn wir bei Lilly zuhause sind, bereitet sie uns einen Kakao mit Marshmallows zu. Sie versucht etwas weniger streng mit ihrer Tochter zu sein und nicht mehr so viel Druck auf sie auszuüben. Das hat bewirkt, dass Lilly nun nicht mehr so angespannt ist. Sie ist als Mensch lockerer geworden und das steht ihr wirklich gut.

,,Klar, sehr gerne. Ich möchte aber vorher noch zum Friedhof gehen'', bittet sie mich.

Ich starte den Motor und wir fahren los. Bald haben wir den Parkplatz des Friedhofs erreicht. Hand in Hand begeben wir uns als Erstes zum Grab ihres Vaters. Ich hätte Oliver zu gerne kennengelernt. Ich bin mir sicher, dass wir uns gut verstanden hätten. Durch Lillys Erzählungen kann ich mir so gut vorstellen, was für ein toller Vater er gewesen sein muss. Ich würde alles dafür geben, dass sie ihn zurückhaben könnte, doch ich weiß, dass das nicht geht. Ich bin überzeugt, dass er stolz von oben im Himmel auf seine Tochter herabblickt. Ich habe ihm mein Versprechen gegeben, dass ich gut auf sie aufpassen werde.

Nachdem Lilly die alten Blumen entfernt und durch frische ausgetauscht hat, geht es weiter zu Antonia. Ich breche nicht mehr in Tränen aus, als wir vor ihrem letzten Ort der Ruhe stehen. In meinem Herzen spüre ich nur tiefe Dankbarkeit für die gemeinsame doch viel zu kurze Zeit. Das Schicksal muss sich etwas dabei gedacht haben, dass Lilly und ich lernen mussten, dass das Leben vergänglich ist. Vielleicht genießen wir es dadurch umso mehr.

,,Ich habe gestern etwas für Antonia gekauft'', sagt Lilly und greift zu ihrer Tasche. In ihren Händen hält sie einen kleinen weißen Engel aus Porzellan. Ich bin gerührt von ihrer Geste und nehme ihn in meine Hand, um ihn besser ansehen zu können.

,,Ich habe mir gedacht, dass sie einen Schutzengel gebrauchen könnte, der auf sie aufpasst.''

Lilly legt einen Arm auf meine Schulter und ich lege meinen rechten Arm um ihre.

,,Der ist wirklich schön. Danke, Lilly. Er wird sicherlich gut auf Antonia aufpassen.''

Ich suche nach einem geeigneten Platz und stelle ihn zu den gelben Tulpen, die Antonias Grab schmücken. Von jemanden Abschied zu nehmen, bedeutet nicht, die Person zu vergessen. Man wird an den Verstorbenen an jedem Geburtstag, Weihnachten oder in besonderen Momenten denken müssen. Das wird sich niemals ändern. Was wir tun können, ist unser Leben zu leben und neue, schöne Erinnerungen zu kreieren. Wir können daran glauben, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Wir sind niemals allein, weder auf der Welt noch im Universum.

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