Die Existenz dieser Geschichte

... ist der Titel dieses Pseudo-Essays, der eigentlich das Vorwort hätte sein sollen. Aber da ich keinen ewig langen Klotz den Einstieg in die Geschichte vermiesen lassen wollte und ich nicht jeden Leser in die Flucht schlagen will, füge ich das wohl hinten an. Irgendwann zumindest.

Brace yourselves, my dear readers, denn die nächsten Abschnitte werden wohl voll sein von meinen Meinungen und einer gehörigen Prise Pathos.

Nachdem ich in den Genuss von einigen eloquent formulierten Facharbeiten -allgemeinhin auch als Rant bekannt- zum momentanen Stand des Histo-Genres gekommen bin, habe ich ohnehin mit dem Gedanken gespielt, eine leicht ironische, sehr queere Parodie diverser Histo-Tropes zu schreiben.
Zu diesem Thema empfehle ich der geneigten Leserschaft gerne "Mein Problem mit historischen Romanen" aus dem Meisterwerk "Sorry, not sorry" von InkofInspiration.
(Wobei ich doch hoffe, dass anders als bei diversen Familiensagas diese Story hier wenigstens etwas Plot hat.)
Deswegen kann auch der leicht pathetische Titel "Die Vergessenen" ironisch gelesen werden, obwohl mir ja auch noch immer Alternativtitel ganz im Saga- Stil ans Herz gewachsen ist, namely : "Der Psychologe von Berlin aus Polen zu Besuch im Junkerland und Sohn des Adlers, Blaublut und glühende Herz - Brüder im Herzen, die große Polit-SEEEEEX-Skandal Familiensaga"
Ja, ein Titel.
Leider hat da nicht mehr der "Blablala"-Hof/Fabrik/Manufaktur hereingepasst :'C
Und auch nicht mein geliebter Titel "Slaves of Gay".

Wahrscheinlich wäre es auch bei dieser fixen Idee geblieben, die irgendwo in den Untiefen meines Speichers versunken wäre.

Aber dann fiel mir ein Buch in die Hand (Oder eher ein E-Book, um genauer zu sein) und die Trotzreaktion von mir war wohl, nun diese Geschichte zu schreiben.
Ich möchte hier keine Namen nennen oder die Autorin irgendwie diskreditieren, gerade, da ich das Buch größtenteils total grandios fand und innerhalb weniger Tage damit fertig geworden bin. Ich war sogar erst richtig aus dem Häuschen, dass man endlich einmal die Harden-Eulenburg-Affäre anspricht und bekannter macht.

Bis jetzt wurde die in einem anderen Histo-Roman nur angedeutet und schon da grauenhaft umgesetzt:

Die Liebenberger Tafelrunde wurde zwar nicht namentlich erwähnt, es wurde nur von "Homosexuellen" um den Kaiser gesprochen und mich hatte da extrem enttäuscht, dass das Gespräch nur darauf kam, weil einer der Nebencharaktere fiktiver Teil des Liebenberger-Kreises war und das wohl größte Ekelpaket des Ganzen Buchs - und der einzige Homosexuelle. Das muss man sich mal reinziehen - der Graf/Kerl ist verantwortlich für den Tod der Schwester der Protagonistin, säuft wie ein Loch, verprasst an jeder Ecke Geld und die Kaution, die die Familie bezahlen muss, um ihn zu befreien, nachdem er wegen seiner Homosexualität verhaftet wurde, ist der Grund, warum die Familie pleite geht und das Palais verkaufen muss, das unheimlich emotionale Wichtigkeit hatte. Auch wird seine Schwester in den Knast gesteckt, weil sie für ihren Bruder Meineid geleistet hat, die danach auch mehr Mitleid kassiert als er.
Nett ist auch, dass er dann irgendwann besoffen offscreen in einer Hütte stirbt, weil er von irgendeinem Wildtier zerfleddert wurde.
Summa summarum: Der Schwule ist schuld an allem Schlechten, das der Familie passiert. Naja, wenigstens war er nicht der Dude, der die Prota vergewaltigt hat, wäre aber wohl auch ein bisschen schwer geworden.
Und ja, selbst mein vierzehnjähriges Ich damals hat da gemerkt, dass das dieser Umgang mit Homosexuellen...fragwürdig ist.

Und nur, um kurz einen Kontext zu der Harden-Eulenburg Affäre zu geben, die nun wirklich nicht gerade durch ihren Bekanntheitsgrad auffällt:
Philipp zu Eulenburg war der BFF des Kaisers und versuchte, diesen durch seine Vertrauensposition dahingehend zu beeinflussen, die Beziehung mit Frankreich zu verbessern, sich auszusöhnen und die eigenen Kolonien abzugeben.
Harden gefiel das nicht, da er Eulenburg als " ungewählte Nebenregierung"/Kamarilla sah und dachte, er würde Willi zwo "verweichlichen". Seine Lösung? Öffentliches Outing von Eulenburg als homosexuell.

Gut, nun aber zu dem Buch, das mein Blut eigentlich in Wallung gebracht hatte:
Meine Messlatte war also niedrig. Sehr niedrig - und ich wurde trotzdem enttäuscht.
Ich würde nicht sagen, dass besagtes Buch so schlimm war wie das oben genannte Beispiel.
Klar, es gab einige unangenehme Stereotype wie den Vater, der später wieder einer der bösen Alkoholiker wird (generell sind Väter und Alkoholiker in diesem Genre ja Schuld an allem), die selbstverliebte Adelige (eine reale Person sogar), der eine Geschichte angedichtet wird, wie sie bereit ist, das Leben ihrer Gouvernante zu zerstören, um sich vor ein bisschen elterliches Geschimpfe zu schützen, dazu noch die total bööööse Konkurrentin der Prota (die natürlich hässlicher, inkompetent, fieser und generell schlechter ist als unser main girl und die in Band 2 sogar slutshaming abbekommt) und vor allem,dass alle Charaktere homophob sind unter dem Deckmäntelchen der Historischen Authentizität.

Es ist mir aber nur so wirklich krass aufgestoßen, weil der Rest eigentlich in jedem anderen Aspekt so modern war.
Es würden sogar wichtige Themen angeschnitten:
Die Dienstboten hinterfragen das Klassensystem und schaffen es irgendwie, eine geheime Gewerkschaft zu gründen und über den Adel zu sprechen, als hätten sie alle gerade "Das Kapital" oder "Das kommunistische Manifest" gefressen - oder bei einer Séance Marx und Engels beschworen. Natürlich sind alle Protagonistinnen Feministen, der Jüdin gibt man den Raum, sich über Antisemitismus beschweren und wird dabei sogar unterstützt, die Sozialdemokraten bekommen Mitleid, selbst die in einer wilden Ehe lebende Gouvernante bekommt ein "Liebe ist Liebe"(direktes Zitat) gesagt, von der selben Person, die keine zwei Seiten später Eulenburgs Homosexualität verteufelt.
Ist ja nicht so, als gäbe es nicht damals schon Magnus Hirschfeld und somit auch eine Homosexuellenbewegung oder so :'D Oder dass -le gasp- es auch queere Menschen in der Dienerschaft gibt, und nicht nur als dekadente Dudes um den Kaiser.

Versteht mich nicht falsch, es ist wichtig, dass man noch immer über solche Themen spricht und es ist interessant, aus der Sicht der Diener zu lesen. Und ja, natürlich muss man durch die Charaktere zeigen, dass eine Gesellschaft homophob ist, indem sich so ein Skandal überhaupt entwickeln kann. Und ja, es ist auch schädlich, dass die intoleranten Charaktere irgendwelche Cartoon-Bösewichte sind, die sich ihren Kaiser-Wilhelm II.-Schnurrbart zwirbeln, weil sich gerade historische Marginalisierung nicht in "Da gab es ein paar unfreundliche Leute, die in jederlei Hinsicht schlecht waren " erklären lässt, sondern ein gesamgesellschaftliches Problem ist, das auch "gute" Menschen intolerant machen kann. Aber dass wirklich jeder Charakter homophob ist, in jeder anderen Hinsicht aber überraschend modern, obwohl die Mehrheit der Gesellschaft in dieser Hinsicht nicht mal halb so progressiv war wie die POV Charaktere und dass am Ende die Prota schwört, Rache an der Fürstenfamilie zu nehmen, weil die Fürstin sich geweigert haben, ihrer random Mutter einen Arzt zu schicken und die darauf gestorben ist.
Und dann sieht es noch stark danach aus, dass unsere geliebte Prota in Band 2 und 3 die Rache umsetzt, indem sie den Fürst von Eulenburg mit seiner Homosexualität erpresst? Und Beweismaterial an fucking Maximilian Harden gibt?

Man muss sich mal hereinziehen, dass im 21. Jahrhundert eine -von der Autorin durchaus positiv gezeichnete- Protagonistin ein Buch damit verbringt, einen Homosexuellen zu erpressen.

Die ist dann noch die Gute, die "leider viel zu spät bemerkt, dass auch die Fürstenfamilie das Opfer von Intrigen ist"? Überspitzt formuliert, was kommt als nächstes? Der SS-Standartenführer, der viel zu spät bemerkt, dass Genozid vielleicht doch nicht so cool ist?
Klassenkampf gegen die Homosexuellen oder was?
Marginalisierte gegeneinander aufhetzen?
Und scheinbar teilen sich auch alle 60 Millionen Einwohner des deutschen Kaiserreich genau die gleiche Meinung und sexuelle Moralverstellung....

Am schlimmsten fand ich ja fast noch, als im Nachwort (von einer modernen Autorin) geschrieben stand, Achtung, ich zitiere:

"Doch was machten sie [die Homosexuellen]? Wollte man der Strafe entgehen, musste man eine Neigung verstecken oder unterdrücken. Das waren die einzigen Möglichkeiten. War man aber nun reich, berühmt, aus einer Klasse kommend,in der man alle Rechte genoss, über 99 Prozent der Bevölkerung stand, und konnte per se alles machen, was man wollte, dann könnte man diesen Umstand gelegentlich aus den Augen verlieren: Dass man seine homosexuellen Neigungen besser versteckte."
Ah, ich verstehe. Dass Eulenburg öffentlich gedemütigt, kurzzeitig verhaftet und als gebrochener, schwer kranker Mann starb, lag nur daran, dass er als aristokratisches Arschloch es gewagt hatte, eine glückliche Beziehung mit seinem Freund führen zu wollen? Hätte er bloß lieber seine Identität verleugnet und wäre nicht so frech gewesen, sich der damaligen Moral zu widersetzen... Außer die Protagonistinnen sämtlicher Histo-Romane, die dürfen natürlich die Gesellschaft hinterfragen und unerhört Dinge tun wie studieren oder feministische Thesen ala 2022 schwingen. Dafür werden die sogar von den Lesern gefeiert.
Mal ganz abgesehen davon, dass es queere Subkultur in Berlin nicht erst seit den 1920ern gab. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet Carl Heinrich Ulrich von geheimen Bällen in Berlin, wo LGBT-Personen ihre Identität glücklich ausleben.

"Letztendlich war dieses Konstrukt des Gottesgnadentum zum Scheitern verurteilt. Beschleunigt wurde der Prozess durch das Erstarken der Presse. Nicht zufällig war es ein Journalist, der die Moral öffentlich in Frage stellte, und nicht etwa ein Politiker oder einer der vielen Offiziere des preußischen Heeres."

Geil, also ist Hardens Sensationsjournalismus und soziale Ermordung mehrerer Männer voll gut für Demokratie und Pressefreiheit gewesen... nicht. Die Harden-Eulenburg Affäre war kein "Hinterfragen der Moral", es war eine widerliche Schmierkampagne gegen einen Mann, der weitere Kriege verhindern wollte und die "Erbfeindschaft" zu Frankreich versuchte abzumildern. Durch Eulenburg galt Wilhelm II. mal als "Der Friedfertige" (dieser eine New York Times Artikel von 1913, der ihn als "Chief Peacemaker" betitelt hat, will never be not funny to me. Gaslight, gatekeep, Wilhelminismus). Und Harden fand im Gegensatz die Idee eines Präventivkriegs gegen Frankreich voll knorke. Der, der für die Hinterfragung der Moral gefeiert wird, ist ein Kriegstreiber gewesen. Der war in manchen Bereichen zumindest teilweise konservativer als besagtes Offizierskorps. Und selbst das war teilweise (aus heutiger Perspektive) extrem abgefuckt.

Die Krönung war jedoch, wie das Buch teilweise beworben wurde.
Ganz nach dem Motto "Endlich wird einmal etwas aus der Sicht der Dienstboten geschildert, die im Genre total unterrepräsentiert und ignoriert werden, obwohl sie die gesellschaftlichen Verlierer der damaligen Zeit waren".
Das ist ja eigentlich ein sehr löblicher Versuch, aber wisst ihr, auf welche Personengruppe das auch zutrifft? Die dann auch noch zuzüglich die Kriminalisierung der eigenen Identität erleben darf?🙃
Vielleicht-und da wage ich mich wirklich aus dem Fenster- sollte eine "Saga", die sich um einen Skandal dreht, der sich hauptsächlich auf homosexuelle Männer der Oberschicht fokussiert, sich auch wirklich auf... homosexuelle Männer der Oberschicht fokussieren? Und vielleicht deren Sichtweise auf das ganze, weil das in dem Moment die Hauptopfer der ganzen Geschichte waren? Über die Außenstehende schon mehr als genug Senf abgegeben haben?
Naja, stattdessen kann man sich mit dem Drama von irgendwelchen (in diesem Moment zumindest) recht Unbetroffenen zufriedengeben.
Wäre es so schwer gewesen, etwas über Dienstboten zu schreiben, ohne dafür dieses Ereignis zu wählen und somit den damals Betroffenen(die in diesem Fall mal dringend notwendige) Sichtweise auf ihre eigene Geschichte zu nehmen? Trotzdem lässt sich die Autorin gleichzeitig dafür feiern, den Stimmenlosen endlich mal eine Stimme zu geben, obwohl man der eigentlich betroffenen Personengruppe gerade die Stimme raubt, um sie stattdessen durch die Dienstboten noch weiter zu diffamieren.

Stößt das alles nur mir so bitter auf? Reagiere ich hier gerade über? Oder warum haben solche Bücher nur lobende Bewertungen? Oder interpretiere ich einfach nur zu viel herein?
Vielleicht bin ich in dieser Sache wirklich etwas kleinkariert.

Ich bezweifle, dass meine Bücher die beste Repräsentation beinhalten, die Minderheiten je gesehen haben. Vielleicht habe ich selbst sogar einige blöde Fehler in dieser Geschichte gemacht, aber ich möchte wenigstens versuchen, dass solche Bücher nicht das einzige sind, was man zu diesem Skandal zu lesen bekommt.
Und diesmal auch aus der Sicht der Betroffenen und Opfer dieser ganzen Schlammschlacht.

Denn bei denen muss ich mich wenigstens nicht rechtfertigen, warum die nicht "historisch korrekt" homophob sind.

Und ja, irgendwann werde ich den Anforderungen des Genres Folge leisten und über ein weiteres #girlboss schreiben. Aber jetzt werden wir uns wohl mit Paweł und August zufriedengeben müssen.

Ein finaler Dank geht auch raus an all die fragwürdigen, dezent verstörenden WELT-Artikel von der Geschichtsredaktion. Ihr habt mir quasi das Buch durchgesponsort :') Küsschen geht raus.

Und somit verlasse ich diesen rant mit dieser Stimmung:

[Und ja, ich hab Band 2 gelesen. Und ja, der Rant über Band 2 ist noch schlimmer und mehr unhinged als dieser hier]

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