𝟓. - 𝐃𝐢𝐞 𝐥𝐞𝐞𝐫𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭
„Wach auf, du! Wir haben ein Problem!"
Riu stöhnte gequält, als Nox mit voller Kraft an seinen Haaren zog. Er rappelte sich auf und sein Körper verkrampfte sich stark im selben Moment. Es tat weh. Überall. „Warum hast du mir nicht vorher gesagt, dass es ... dass es so sein wird?"
„Hast du denn gefragt?" Die Krähe erhob sich ruhelos in die Luft. „Wir haben ein Problem", wiederholte sie und Riu runzelte die Stirn. Erst jetzt fiel ihm auf, wie starr die Gegend war, in der er sich nun befand. Die Erde war ausgedörrt, kahl und der Hitze völlig ausgeliefert. Kein einziger Baum. Kein Grashalm. Gar nichts. Augenblicklich vergaß Riu seine Müdigkeit; große Verzweiflung nahm ihren Platz ein.
Eine unheimliche, stille Dämmerung lag über der leeren Welt; sie schien sich an seiner Energie zu laben, denn auf einmal fühlte er sich so schlapp wie ein gelähmtes Kaninchen. Nicht einmal eine Sonne gab es, dafür aber zwei Monde. Beide in Blutrot schimmernd machten sie den Eindruck, als wären sie zwei riesige Augen, die auf ihn herabschauten. Es gab unfassbar viel Raum um ihn und doch fühlte sich Riu eingesperrt. Allein gelassen mit dem Leuchten der wilden Monde.
„Was für ein Problem? Wo sind wir hier überhaupt?", fragte der Dieb und versuchte, sich seine wachsende Panik nicht anmerken zu lassen. Ihm war es nicht ganz geheuer und er musste zugeben, dass er sich fürchtete. So sehr, wie er es noch nie getan hatte.
„Gut, ich erkläre es dir, schließlich bin ich vernünftig." Nox warf ihm einen interessierten Blick aus ihren tiefgründigen Augen zu. „Nur beruhige dich, dein Puls rast ja so schnell, dass der Allwissende uns gleich hören könnte ... na ja, eigentlich weiß er bestimmt scho ..."
„Kannst du mich jetzt bitte schneller aufklären? Wer ist dieser Allwissende? Wo steckt die Hexe? Wie kommen wir hier wieder raus?" Seine Stimme zitterte verräterisch und Riu spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Er konnte jetzt nicht weinen. Er durfte nicht.
„Wenn du mich noch einmal unterbrichst, erzähle ich dir gar nichts mehr!" Unruhig flog die Krähe hin und her. Ihr pechschwarzes Gewand so wunderschön und absonderlich wie zuvor. „Ich fange am besten von vorn an und fasse alles stark zusammen ... Nun, in unserem Universum gibt es mehrere Welten, manche so klein wie eine Hütte, andere unendlich groß. Diese hier zählt zu den Letzteren. Sie ist jedoch besonders, denn sie wurde erschaffen. Von einem Wesen, das nur einmal in der Natur vertreten ist. Das so alt und weise ist wie die Zeit. Über diese Bestie weiß man kaum etwas, während sie sich über alles im Klaren ist, was in allen Welten geschehen war und noch immer geschieht. Man kennt nicht ihren Namen oder ihr Geschlecht, aber man nennt sie Allwissender und man hat Angst vor ihr. Und du solltest es auch haben."
Riu schluckte hart und versuchte die Informationen zu verarbeiten. Es klang nicht gut. Gar nicht gut. Denn er hasste es, wenn man alles über ihn wusste; wenn er der Dumme, der Ängstliche war.
„Irgendwann, früher, war der Allwissende vielleicht ein netter Kerl, aber jetzt ..." Die Krähe sah sich unruhig um und fuhr dann flüsternd fort, „jetzt ist er genervt von uns. Weil die Weltreisenden, solche wie meine Dhara, zu häufig um Antworten gebeten haben. Vor einer Woche wollte unsere Hexe herkommen, da sie dringend eine Antwort auf irgendeine Frage gebraucht hatte. Und unser Problem ist jetzt, dass ich Dharas Anwesenheit hier nicht spüren kann. Sie war hier, so weit ist klar. Aber sie muss weitergereist sein."
„Dann lass uns nach Lornir zurückkehren!"
„Geht nicht. Wir haben keinen Teleporter-Trank dabei, weil ich eigentlich gedacht habe, wir würden hier auf Dhara treffen."
Der Dieb ballte seine Hände zu Fäusten. Tiefer Schock brachte seinen Leib zum Zittern. Er wollte schreien. So laut, dass alle seine Verzweiflung zu Ohren bekamen. Aber es ging nicht. Weil er kein Feigling war und ihn ohnehin niemand an diesem Ort hören würde. „Wir sind hier eingesperrt." Riu hob die Augen und sah geradewegs zu den roten Monden hinauf. Sie wirkten boshaft; schienen ihn zu necken und zu verspotten. „Aber irgendwas müssen wir doch tun können. Irgendetwas!" Es klang mutlos, beinahe flehend.
„Wir könnten zum Allwissenden gehen. Er weiß bestimmt ganz genau, wo Dhara hin ist. Aber auch wenn er heute gute Laune hat und antwortet, kommen wir hier nicht weg. Wir könnten ihn einschüchtern, damit er uns einen Teleporter zaubert, aber das einzige Mittel gegen den Kerl sind Streichhölzer und an die habe ich irgendwie nicht gedacht."
Frustriert vergrub Riu das Gesicht in den Händen. Das war's also. Er saß in der Falle wie eine dämliche kleine Maus. In einer fremden, trostlosen Welt mit irgendeiner allwissenden Bestie und einer schlauen Krähe, die ihm nicht weiter von Nutzen war. Er würde sterben, noch ehe er die Dorfhexe zu Gesicht bekommen würde. Wie lächerlich.
„Nox? Meine Allerwerteste, was tust du hier? Und wer ist dieser Junge?" Riu sprang auf die Beine, als eine zärtliche Stimme seine Ohrmuscheln berührte. Eine junge Frau stand vor ihnen. Sie war hübsch, wirkte fast schon zerbrechlich. Eine dunkle Haarpracht umhüllte ihre zarte Figur wie das grünliche Gewand, das sie darüber trug. Sie erinnerte Riu an eine blühende kleine Birke.
„Du bist nicht meine Gesellin!" Nox gab einen unklaren, wütenden Ton von sich, ehe sie sich beschützerisch auf die Schulter des Diebes niederließ. Ihre Krallen bohrten sich scharf in seine Haut, als würde die Krähe selbst nach Halt suchen. In diesem Augenblick dachte Riu nicht einmal daran, sie zu verscheuchen. Er war wie erstarrt.
Die Hexe - Dhara - lächelte, doch das schiefe Grinsen erreichte ihre Augen nicht. Aber in weniger als einer Sekunde, einem Moment, war da keine Hexe mehr - dort stand ein Knabe. Dann wurde dieser zu einem riesigen, ein Meter dicken Wurm. Danach zu einem Wesen, das in etwa wie ein Wolf mit zwei Hörnern aussah. Er hatte bläuliches Fell und Augen in der scheußlichen Farbe der zwei Monde über ihnen.
„Ach, erlaube mir doch ein bisschen Spaß! Amüsiert dich etwa nicht die erblasste Miene unseres Diebes?" Der Allwissende lachte wieder. Seine Stimme klang nun wie ein entferntes Echo, das Riu in den Wahnsinn trieb und ihn zugleich betäubte. „Hm, wie interessant! Nox, die Vertraute der Hexe, und Riu, der Dieb, der nie gemordet hat, wollen beide voneinander profitieren und sich dann fallen lassen! Spannend, spannend!"
„Halt dich raus aus unseren Leben!" Das Kreischen der Krähe klang unerwartet leise und ratlos. Der Wolf lachte abermals, als sich Rius Pupillen weiteten.
„Na schön, aber seid so nett, verlasst selbstständig meine Welt. Stellt euch vor, ich möchte noch eine Weile meine Ruhe genießen. Das ist wohl nicht zu viel verlangt. Doch wenn ihr nicht geht, dann müsste ich das auf eine deutlich unangenehmere Art und Weise lösen." Spätestens dann wusste der Dieb, dass der Allwissende sie nicht verschonen würde. Zu gelangweilt war seine Stimme und zu genervt der versteckte Funke im tiefen Blutrot.
Doch dann war da etwas. Ein dunkler Blitz. Ein Fauchen ... Etwas sprang den Wolf an und bohrte ihm seine Krallen in das blaue Fell. Es war Tenebris.
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