𝟑. - 𝐕𝐨𝐧 𝐊𝐫𝐚̈𝐡𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐝 𝐏𝐚𝐧𝐭𝐡𝐞𝐫𝐧
Riu hüllte sich in seine ausgefranste Jacke ein, doch die Winde, die in jeder Ecke heulten, ließen ihn weiterhin frösteln. Er stampfte einen Steig hinauf, den leuchtenden Sonnenaufgang im Rücken. Diese Kälte ... Diese dämonische Kälte ließ seine Knochen vibrieren und den Körper taub werden, als wäre er im hohen Fieber.
Das alles schien nicht von dieser Welt zu sein. Ihn schüttelte es gänzlich und je näher er dem Häuschen der Alten kam, desto schlimmer wurde es. Die hartnäckige Brise machte ihm wahrlich zu schaffen; sie spielte mit seinen dunkelblonden Haarsträhnen und ließ Blätter und Zweige herumwirbeln wie bunter Schnee. Oft hinderten sie seine Sicht und brachten ihn zum Stolpern, da sich seine Knöcheln in den Baumwurzeln verfingen.
Aber trotz allem schritt er nach vorn, das Kinn leicht angehoben und die klappernden Zähne zusammengepresst. Er fühlte sich wie ein mutiger Prinz, ein Held, der einen Drachen zu bekämpfen hatte. Doch Riu erinnerte sich schnell wieder daran, dass er kein Märchenprinz war. Bloß ein einsamer kleiner Dieb. Und seine Laune war dahin.
Der Wind ging so plötzlich wie er gekommen war. Überrascht sah der Waisenjunge hoch und entdeckte das Haus der Hexe vor sich. Gerade eben noch war ihm die Strecke sehr lang vorgekommen und jetzt schon stand er da, allein und verloren vor dem kleinen Gebäude am Dorfrand ... Magie. Das war die Antwort darauf. Die Alte musste den Weg zu ihrem Hause verhext haben. Ein müdes Lächeln stahl sich auf die Lippen des Diebes. Die Tatsache, dass er noch lebte, schenkte ihm eine kleine Hoffnung. Etwas, wofür er weiterkämpfen sollte.
Laub raschelte unter seinen Schuhen, als er den Vorgarten betrat. Er war etwas größer im Vergleich zu den anderen in seinem Dorf; die Bäume ragten hoch in den Himmel empor, sie trugen bereits Früchte und boten Schatten für die Kräuter unter deren Kronen am Boden. Das Gras war grün und wie frisch gemäht; der Himmel viel blauer, als es Riu von ihm gewohnt war. Dem Dieb schien, der Ort sei dazu bestimmt – ein wenig besser zu sein als alle anderen.
Ein schrilles Geräusch schallte durch den Vorgarten, ehe Riu sich umdrehte und geradewegs in die Augen eines pechschwarzen Vogels starrte. Er saß auf einem Ast einer jungen Eiche und kein Licht wurde von seinen Federn reflektiert, als würde die Dunkelheit seines Gefieders jegliches Sonnenlicht verschlucken. Ein Rabe. Vielleicht auch eine Krähe. Rius Ansicht nach sahen Vögel sowieso alle gleich aus. Doch der junge Mann wunderte sich kurz über die Klugheit, die die Augen des Raben ausstrahlten. Sie wirkten menschlich.
Riu schüttelte das Haupt, um seine kranken Gedanken zu verjagen und schlich wieder zum Haus der Hexe. Er hatte schon einen Plan. Er würde die Alte dazu überreden, ihm einen Schlafplatz darzubieten, und würde ihr dann bei tiefster Nacht das Leben nehmen. Er lachte in sich hinein. Es hörte sich zu einfach an, um glatt zu laufen.
Der Dieb klopfte an die Tür, doch als einzige Antwort vernahm er ein langes Schweigen. Er klopfte ein zweites Mal, dann ein drittes. Stille ... Riu nahm all seinen Mut zusammen und stieß die alte Holztür auf. Sein Herz blieb still stehen, um gleich darauf nur noch schneller zu pumpen. Nichts. Gar nichts. Bloß ein Korridor, der stinknormal ausschaute und den Dieb sofort zu Tode langweilte. Vielleicht hatte er die Adresse verwechselt?
„Ist hier jemand?" Seine Frage blieb unbeantwortet.
Zögernd trat Riu über die Schwelle. Die innere Stimme flüsterte ihm zu: Etwas stimmte hier nicht. Doch er ignorierte sie, wie er es immer tat, und bereute es im selben Moment. Da war etwas. Er nahm es mit einem Seitenblick wahr, ehe es ihn ansprang und ihm seine Krallen in das Hemd schlug. Es war dunkel und warm und schwer. Er wirbelte fieberhaft herum und schrie, bis ihm die Kehle brannte. Alles vergeblich.
Er schmiss sich auf den Boden in der Hoffnung, das Ding loszuwerden, schlug um sich und jaulte immer wieder vor Panik, gleich einem verletzten Hund. Ein Luftzug wehte herein und Riu verharrte, noch immer mit dem Gesicht zu dem Boden gewandt. Auch sein Gegner hielt inne und stieg von ihm ab.
Ein Krächzen. Ein Flügelschlag. So betäubend, dass es ihm die Sprache verschlug. So betäubend, dass ihm glatt eine Gänsehaut die Arme hochkroch. „Ihr seid Dümmlinge. Alle beide!"
Riu sprang auf, doch hatte er Mühe, sich weiterhin aufrecht zu halten. Es war der Vogel. Der pechschwarze Vogel mit den Augen eines Menschen. Und er hatte geredet. Der Dieb lachte hysterisch auf. Er hatte tatsächlich geredet! Der weibliche Rabe, oder was auch immer es für ein Tier sein mochte, hielt sich mit regelmäßigen, mühelosen Flügelschlägen in der Luft. So majestätisch. So leicht. So wunderschön.
„Halt den Schnabel, du blödes Federvieh! Ich hätte dich schon längst verspeisen müssen!", zischte es von unten her. Rius Blick folgte der Stimme. Ein großer fetter Kater. Und von dem hatte er sich einschüchtern lassen? Riu schluckte und unterdrückte den Drang, sich fest gegen die Stirn zu schlagen. Wie beschämend!
„Oh, und warum hast du es denn immer noch nicht getan? Vielleicht, hmm, weil du mich auf deinen kurzen Pfoten nicht kriegst?" Es hörte sich wie ein Lachen an. Ein schallend helles und unmenschliches Lachen. Riu rührte sich nicht. Zu viel auf einmal. Zu viele Stimmen. Zu viele Federn und Fell. Alles zu viel für einen wie ihn. Alles abseits seiner Vorstellungskraft.
Es zischte wieder. „Lass deine Angeberei sein, du alberne Krähe, oder ich reiße dir irgendwann deine Flügel vom Leib! Du lebst nur, weil ich dich Dhara zuliebe nicht anrühre!" Der Kater bog seinen Rücken durch und zischte abermals. Sein Knurren hatte etwas Wildes an sich. Etwas Beängstigendes und Verzweifeltes zugleich. In seinem Blick loderte ein gelbliches Feuer.
„Du ... du bist eine schwarze Katze!", rief Riu, als es ihm endlich auffiel und er stolperte ein paar Schritte rückwärts. Eigentlich waren sie doch längst ausgestorben. Unglücksbringer, die gejagt und im Namen der großen Göttin und des ewigen Friedens getötet wurden.
„Ich bin keine armselige Katze, du dummes, dummes Menschenkind! Oder hast du schon mal solche dunklen Miezen wie mich gesehen?" Die Empörung in der Stimme der Katze wuchs mit Rius rasendem Herzschlag. „Ich bin Tenebris, genannt zur Ehre meiner kriegerischen Artgenossen. Ich bin ein Panther!"
„Ah." Riu nickte verständnisvoll und wich vorsichtshalber noch einen Schritt zurück. Lieber fragte er nicht nach, was dieses „Panther" bedeutete. Schließlich reichte ihm schon sein zerfetztes Hemd und die Kratzer an den Armen, die immer noch höllisch brannten. Ihm schien, als würde ein falsches Wort die verrückte Katze erneut zum Zuschnappen bewegen. Darauf konnte er garantiert verzichten. Stattdessen hatte der Dieb ja noch seine Aufgabe zu erfüllen. „Ihr wisst nicht zufällig, wo die Hexe ist?"
Kurz darauf wurde es still. Irgendwo fiel eine Stecknadel zu Boden. In einem anderen Zimmer tickte besonnen die Uhr.
„Sie ist vor einer Woche gegangen; in die Welt des Allwissenden, glaube ich. Meinte nur, sie würde bereits am nächsten Tag zurück sein. Ist sie immer noch nicht." Eine Note Sorge tränkte das Krächzen der Krähe. Der Panther Tenebris stieß einen zutiefst traurigen Seufzer aus und leckte über seine Vorderpfote. Er wirkte verloren und einsam, wenn er schwieg.
Riu gefror derzeit das Blut in den Adern. Den Schwur konnte niemand zurücksetzen. Auch nicht das Dorfoberhaupt, wenn er ihm erklären würde, dass die Alte verschollen war. Es ging einfach nicht. Nicht mit dem ewigen Schwur. Auch war kein Verlass darauf, dass die Dorfhexe rechtzeitig zurück sein würde. Also blieb ihm nur eins. Ein kalter Schauer lief dem jungen Mann über den Rücken. Er musste der Hexe folgen.
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