𝟐𝟎. - 𝐃𝐢𝐞 𝐥𝐞𝐭𝐳𝐭𝐞𝐧 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠𝐞𝐧
„Hast du vor, deinen Vertrauten von deinem Alptraum zu erzählen?", fragte Riu die Hexe. Sie befanden sich wieder auf der Kugel, umgeben von den vertrauten Betonhäusern, die sie zu erdrücken schienen und Riu kaum Raum ließen, klar zu denken. Obwohl er erleichtert war, endlich die Welt der Träume verlassen zu haben, fühlte er sich dennoch unwohl. Tenebris hingegen schien die Erde zu genießen; er rannte voraus und jagte Insekten und Schmetterlingen nach, wirkte eher wie ein verspieltes junges Tier als der grimmige Panther, den die anderen stets gekannt hatten.
Während Nox in der Luft Kunststücke vollführte und alle abgelenkt waren, gelang es Riu mühelos, mit der Hexe ein vertrauliches Gespräch zu führen. „Ich finde, sie verdienen es, die Wahrheit zu erfahren, nachdem sie sich bis ans Ende des Universums geschleppt haben, um dich da rauszuholen", flüsterte er ihr zu.
Dharas Mundwinkel hob sich leicht an. „Vielleicht, irgendwann. Vielleicht aber auch nie. Die Zeit wird es entscheiden. Doch sie scheinen nicht danach zu fragen, und wenn ich ehrlich bin, möchte ich das Ganze einfach in meinen Erinnerungen ruhen lassen."
Der Dieb kratzte sich verlegen am Nacken. Es schien ihm falsch, so zu tun, als wären die zahlreichen Albträume längst vergangen, als wären der Schmerz und die Verluste nichts weiter als Nichtigkeiten, die man besser vergessen sollte. Sicher, es war schmerzhaft, die Kruste von den Wunden zu reißen, aber manchmal war es von entscheidender Bedeutung, über etwas zu sprechen, das einem beinahe das Leben gekostet hatte.
„Ich möchte nur kurz ... mich bei dir entschuldigen, Junge. Ich dachte wirklich, ich sei mächtig genug, meinen Alptraum zu zerstören und unverletzt heim zu kehren. Weißt du, er hat mir jede Nacht den Schlaf genommen und mich leiden lassen. Ich wollte ihn einfach nur loswerden! Aber ... aber ich habe Somnia unterschätzt. Und ... ich habe dich unterschätzt." Sie schluckte hart und wandte ihren Blick ab, verbarg die Tränen, die sich darin sammelten. Er wusste, was sie fühlte. Wusste, wie hart es sein konnte, seine eigenen Fehler einzugestehen. Es schien ihm, als kenne er die Hexe schon sein ganzes Leben lang, da sie genauso dachte wie er; stets genauso falsch verstanden wurde.
Riu wurde sich bewusst, dass er nun lieber sich als die Hexe umbringen würde. Doch tief in seinem für einen Dieb zu großen Herzen wusste er auch, dass er es schon immer gewusst hatte. Es schmerzte nur noch mehr, dass er der Einzige von ihnen war, der nie die Wahrheit preisgegeben hatte. Er war ein Lügner und dies würde wahrscheinlich auf ewig so bleiben.
Aber wer war schon perfekt? Wer war fehlerfrei? Die junge, einsame Hexe, die ihre Kräfte überschätzt hatte und stets mit Vorurteilen konfrontiert wurde? Oder der scheinbar aufrichtige Dorfoberhaupt, der diese Vorurteile unterstützt hatte? Vielleicht der Kater, der schon immer geträumt hatte, etwas Größeres zu sein, als er war? Die schlaue Krähe, welche sich auch Fehler, Dummheiten erlaubte? Waren sie nicht alle gut, so wie sie waren – so vollkommen makelhaft, so menschlich?
„Ich möchte dich auch etwas fragen", begann Dhara und augenblicklich spannten sich Rius Muskeln an. „Du hast mich gesucht, warst sogar mutig genug, nach Somnia zu gehen. Wieso? Wieso hast du das getan? Warum wolltest du mich so unbedingt sehen?"
Der Dieb presste die Zähne fest aufeinander, lenkte seine Augen in eine andere Richtung, bloß um die Hexe nicht anzusehen; mühevoll tat er so, als würde er die grauen Mauern der Betonhäuser interessanter finden als sie oder das Gespräch mit ihr. „Ich habe eine Gabe, die mich verwu ..."
„Erzähl mir keinen Unsinn", sagte sie und lächelte beinahe gerührt, als Riu sie mit großen Augen anstarrte. Er hatte diese Geschichte schon mehrmals erzählt und immer wurde sie ihm abgekauft. Doch Dhara hatte sich als klüger erwiesen. „Würdest du deine Magie hassen, sie gar loswerden wollen, würdest du wohl kaum zu einer Hexe gehen – genauso wie jemand, der sich vor der Finsternis fürchtet, nie freiwillig in einen dunklen Raum gehen würde, bloß weil er denkt, dort jemanden zu finden, der ihm diese Angst nimmt."
Riu hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Er hatte keine alternative Geschichte, die er nun erzählen könnte; keine weitere Lüge parat. Was blieb ihm also sonst noch, außer die Wahrheit?
„Ich ... also ... es ist so ..." Riu zögerte, seine Gedanken wirbelten durcheinander. Was würde die Hexe tun, wenn er alles hier und jetzt aussprach? Was würde sie denken? Aber wenn er es nicht tat, es verschwieg – was würde sie dann von ihm halten? Doch jetzt war der richtige Augenblick, um etwas zu beweisen. Nein, nicht den anderen, sondern sich selbst. Er wollte sich zeigen, dass er mehr war als nur ein Dieb, mehr sogar als ein Lügner.
„Nun, natürlich stört mich meine Gabe, aber ... aber ich habe nicht deshalb nach dir gesucht, sondern ..." Um dich zu jagen, zu kriegen, zu töten. „Um mein Leben zu retten." Indem ich deines nehme. „Indem ich ... indem ich ... "
Der junge Mann rang nach Worten, doch sie entwichen ihm wie vor kurzem noch, als die Illusion seines Vaters vor ihm gestanden hatte. Er konnte das nicht aussprechen, es schien unmöglich. Dennoch gab er nach unter dem aufmerksamen Blick der Hexe, fing alles von vorn an und erzählte ihr seine Geschichte. Sie hörte zu, unterbrach nicht und als er fertig war, lag kein Hass auf ihren Gesichtszügen; nichts, was man als Abneigung oder Angst deuten könnte.
Nicht, weil sie glaubte, er wäre dazu nicht in der Lage, zu töten, sondern weil sie ihm vertraute. Weil er sie und Tenebris gerettet hatte, anstatt sie sterben zu lassen. Weil er sich schlussendlich geopfert hatte. Weil er die Wahrheit gesagt hatte. Weil er mehr war, als er von sich gehalten hatte.
„Nun, da du mir die Wahrheit gesagt hast, kann ich dich beruhigen: Der ewige Schwur existiert nicht."
Riu blieb abrupt stehen, ebenso wie die Hexe. „Wie meinst du das, er existiert nicht?" Ihre Worte klangen wie ein Bruch in der Realität. Der ewige Schwur war in Lornir mehr als nur ein Versprechen; er war ein unantastbares Prinzip, gefürchtet und vermieden von allen. Wie konnte etwas, an das alle glaubten, eine Lüge sein?
„Der ewige Schwur wurde einst erfunden, vielleicht gab es damals einen Grund dafür, doch seine Ursprünge sind längst vergessen", fuhr die Hexe fort, ihre Stimme gefüllt mit einer Mischung aus Weisheit und Emotion. „Aber die Furcht vor der Magie und einem qualvollen Tod treibt die Menschen dazu, ihre Versprechen zu halten. So bleibt der Schwur bestehen, als Garantie dafür, dass eine Aufgabe erfüllt wird. Man manipuliert euch mit diesem Schwur. Nur wenige kennen die Wahrheit, denn Magie ist weit mehr als bloße Worte, die automatisch wirken, wenn man sie ausspricht. Magie ist Leben, Liebe und Energie; sie durchdringt das Universum und jeden von uns, Riu. Deine Gabe ist ein Teil von dir, ein Ausdruck dieser Magie."
Die Worte der Hexe hallten in Rius Gedanken wider und er spürte, wie etwas Tiefes in ihm erwachte. Die Erkenntnis, dass seine Gabe nicht nur eine Last war, sondern auch eine Verbindung zu etwas Größerem, etwas Göttlichem.
„Na, was steht ihr da wie Statuen? Wandert ihr wieder in eurer Somnia rum?" Tenebris tauchte auf und zog gelangweilt an Rius Hose.
„Oh, bitte sprich das Wort nicht aus, sonst wird mir direkt schlecht!" Der Dieb lachte und spürte eine gewisse Leichtigkeit in sich aufkommen. Endlich war er nicht mehr in seinen Prinzipien gefangen; fühlte sich leicht und frei wie ein Vogel, ganz wie Nox, die sich soeben in den Weiten des Himmels badete.
„Nun gut ... Duuu, Menschending? Dhara? Wo gehen wir eigentlich danach hin?"
„Ich habe mir überlegt, mal wieder auf eine Reise durch die Welten zu gehen, es ist schließlich sehr lange her, dass ich mit euch Lornir verlassen habe. Aber ob Riu ... " Die Hexe stockte, als Tenebris sie unterbrach.
„Ach komm, du Langweiler!"
„Ich weiß nicht, Somnia war schließlich schon genug fürs Er ..."
„Und wenn ich dich ganz stark bitte?"
„Nun ... Okay. Da kann ich nicht nein sagen", gab Riu nach. Er war geschmeichelt davon, wie schnell der Kater ihn liebgewonnen hatte. Zwar hatte er sich nie für Rius Hilfe, seine Rettung bedankt, nie mit dem Beleidigen aufgehört, doch sein Blick sagte alles, was nötig war.
„Gesellen, vergesst aber nicht, dass wir zunächst die Blume bringen sollen, sonst rastet unser weiser Wolf aus. Ihr kennt ja seine Launen. Doch danach ... bin ich auch sofort dabei!" Nox kam lautlos herbeigeflogen und landete sanft auf Dharas Schulter. Sie standen nun da wie ein eingespieltes Team, doch für den Dieb war es weit mehr als eine Freundschaft, die über Welten hinausreichte.
Sie waren für ihn eine echte Familie; ein sicherer Anker im Universum voller Unsicherheiten.
Und in diesem Augenblick, umgeben von Vertrauen und Zusammenhalt, fand er sein Glück.
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