𝟐. - 𝐃𝐞𝐫 𝐞𝐰𝐢𝐠𝐞 𝐒𝐜𝐡𝐰𝐮𝐫
„Am zweiten Vollmond des Frühjahrs brach der Angeklagte, Waise Riu Fjuror, ins Anwesen des Lords Drazhan Amerions ein und ermordete jenen mit einem schnellen Stich dieses Messers." Der Assistent des Dorfoberhaupts hob spitzfingrig die Waffe vom Tisch und verzog dabei eine Grimasse, als wäre die Klinge noch immer unrein vom Blut des Verstorbenen.
Kein Wasser der Welt kann jedoch die dreckigen Fingerabdrücke eines Sündigen abwaschen, hätte der Assistent wohl erwidert, wenn man ihn darauf hingewiesen hätte.
Riu starrte flehend in die Augen des Oberhauptes Arwan. Sie strahlten gelblich im ersten Schein der hellen Morgensonne und seine Gesichtszüge waren hart, sodass keine Emotion darauf erkennbar war. Zuvor hatte das Schicksal ihn und Riu bereits zweimal zueinander geführt und immer hatte sich der Dieb unbehaglich in der Gegenwart seines Gegenübers gefühlt. Sein Blick schien einen förmlich zu durchbohren und nie vermochte man zu sagen, was in ihm vorging. Man konnte das Oberhaupt keineswegs einschätzen und genau das war es, was Riu so beunruhigte. Denn der Waisenjunge mochte es, die Kontrolle bei sich zu haben.
„Dürfte ich etwas zu meiner Verteidigung sagen?", versuchte es Riu schon zum vierten Mal, doch seine Stimme brach, ehe er die Frage hätte zu Ende sprechen können. Er hustete, aber niemand dachte nur daran, ihm etwas Wasser anzubieten.
„Wir sind noch nicht am Ende angelangt", entgegnete der Assistent wie üblich und fuhr gelassen fort. „Der Angeklagte wurde jedoch am Tatort von dem Sohn des Opfers, Lazar Amerion, erwischt ... Sir, wollt Ihr uns Genaueres berichten?"
Der Sohn des Lords, der ebenso anwesend war, warf Riu einen scharfen Blick zu. In seinen Augen lag ein abgrundtiefer Hass. „Dieser Knabe ist durch ein undicht geschlossenes Fenster hereingekommen, einfach so! Und dann hat er ... er ... wie heißt er gleich nochmal?"
„Riu."
„Na seht Ihr? Sein Name ist sogar der eines Teufels! Dieser Rui hat dann ... er hat ... Ihr hättet Vaters Schrei hören müssen!", rief Lazar, während ihm Tränen die Wangen hinunterflossen. Riu verspürte plötzlich ebenfalls den Drang zu weinen, jedoch blieben seine Augen trocken und das Herz gleichgültig.
„Gut. Es reicht fürs Erste, vielen Dank, dass Ihr heute anwesend wart. Ich werde eine gerechte Entscheidung fällen. Jetzt müsst Ihr mich und den Angeklagten aber bitte alleine lassen."
Die rechte Hand des Dorfoberhaupts nickte eifrig und verschwand dann hinter der in Blütenweiß lackierten Holztür. Bald darauf folgte ihm auch der enttäuschte Lazar.
Stille. Schweigen. Ruhe. Und obwohl Riu sehr danach war, brachte er es nicht über sich, als erster das Wort zu ergreifen. Stattdessen tat es der grimmige Arwan ihm gegenüber.
„Du weißt, dass es für dich jetzt ziemlich schwierig sein wird, Dieb?", fragte er, als ob es nötig gewesen wäre. Als ob der Dieb es selbst nicht besser als jeder andere wüsste. Jetzt legte sich auch noch ein sarkastisches Lachen über die Lippen des Oberhaupts und Riu sah erstmals Spott in dessen Augen aufleuchten. Klar und deutlich.
Riu schwieg und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie angespannt er war. Trotzdem verriet ihn ein Schweißtropfen, der seine Stirn hinunterrollte. Er hatte nichts Falsches getan. Bloß das Metall aus dem Leibe des Lords gezogen und die große Göttin darum gebeten, seine Seele zu begleiten. Dennoch musste er nun die Last eines anderen auf den eigenen Schultern tragen und sich für etwas verantworten, wofür er gar nichts konnte. Warum fühlte er sich also auf einmal wie ein schuldiger Junge vor seinem Vater?
„Du bist vor kurzem siebzehn geworden, habe ich recht?" Sie sahen einander an, die Miene des Älteren genauso nichtssagend wie zuvor. „Und dann meinst du noch, so etwas anstellen zu können? Als Volljähriger? Warum habe ich dich denn die letzten Male verschont, wenn du nie Ruhe findest?"
Riu schwieg weiterhin. Es stimmte, er war siebzehn. Er war nun ein Mann, da man in Lornir mit diesem Alter als Erwachsener angesehen wurde. Aber für Riu bedeutete das nichts. Er hatte schon immer allein für sein Leben gekämpft, war stets vernünftig und von anderen unabhängig geblieben. Oh ja, schon lange davor war er erwachsen geworden. Sehr, sehr lange Zeit.
„Ich mag vielleicht ein Dieb sein, aber ich klaue keine Menschenleben!" Er straffte die Schultern, um noch selbstsicherer zu wirken. Um besser verbergen zu können, wie schutzlos er war. Die Lippen seines Gesprächspartners verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Selbst ein Narr hätte inzwischen erkannt, dass das Dorfoberhaupt ihm gar nichts abkaufte. Aber Riu war kein Narr. Und sein Elend wurde ihm somit nur noch bewusster.
Schweigen übernahm abermals die Macht über das Zimmer. Riu nutzte es jedoch zu seinem Vorteil, um den Mann vor sich unauffällig zu mustern. Es hieß, man könne die Gedanken des Feindes lesen, wenn man ihn genau beobachte. Auch wenn der Dieb keine Aberglauben brauchte, um auf dem sicheren Pfad zu bleiben – ihm reichte lediglich eine Berührung. Er biss sich hart auf die Innenseite der Wange. Nein. Er würde aufhören, darüber nachzudenken. Würde aufhören, seine Gabe, wohl eher seinen Fluch, zu benutzen. Magie war verboten. Sie brachte nichts als Ärger und Leid. Genau wie diesmal. Er wäre jetzt nämlich frei wie ein Vogel, hätte ihm die Versuchung, Drazhans Gedanken zu lesen, nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er wäre jetzt dort draußen, hätte den Tag begrüßt, der Licht und Leben mit sich brachte.
Sein Blick wanderte sehnsüchtig über die dünnen, pfirsichgelben Vorhänge hinweg und verharrte erneut auf der Figur des Oberhaupts. Er saß still und ruhig da, wie eine uralte Statue, seine Kiefer angespannt, die Brauen leicht gehoben. Unzählige Ringe ruhten an seinen Fingern, die miteinander verschränkt auf dem Tisch lagen.
„Du kannst es dir ja schönreden, aber es ändert nichts an der Sache. Ich denke, du weißt, womit Mord bestraft wird?"
Rius Pupillen weiteten sich. Nein. So weit durfte es nicht kommen. Er würde um Erbarmen bitten, denn er fühlte sich nicht dazu bereit, seinem eigenen Tod in die Augen zu schauen. Vor allem nicht, nachdem er gesehen hatte, wie das Leben aus den Augen eines anderen gewichen war. Langsam und voller Qual.
„Gibt es einen Ausweg? Ich flehe Euch an, Sir! Ihr seid doch gnädig, ich ... ich würde alles tun ... ich würde ... "
Mit einer Handgeste unterbrach Arwan den jungen Mann. „Es heißt, man bezahlt mit seinem eigenen Leben für das Leben, das man genommen hat. Aber gut, ich mache dir ein Angebot." Man sah ihm an, dass er es eigentlich überhaupt nicht vorgehabt hatte. Aber er musste auch keine Lust haben, den Waisenjungen tot zu sehen.
Riu beugte sich über die Kante des Tisches, sein Körper zum Zerreißen gespannt. Er würde alles für das Überleben tun. Alles.
„Unsere berühmte Dorfhexe Dhara. Kennst du sie?" Das Oberhaupt sah nachdenklich zu der Decke und lachte leise. Riu ahnte Schlimmes. „Jedenfalls gibt es da Gerüchte ... du weißt schon, dass sie uns Menschen hasst und nichts lieber tut, als uns zu jagen und zu töten. Und ... und sie hat Magie!" Das letzte Wort spuckte er wie Gift in den Raum. Der junge Mann erschauderte. Wenn Arwan nur wüsste ... wenn er nur wüsste, dass auch Riu mehr mit Zauberei zu tun hatte, als er preisgeben wollte.
„Ihr glaubt doch nicht an Gerüchte?" Riu biss sich auf die Innenseite der Wange und schmeckte Blut auf seiner Zunge. Er konnte denken, was das Oberhaupt von ihm wollte, doch der Punkt war, dass Riu selbst an Gerüchte glaubte; dass er sich lieber eine Hand abschneiden würde, als der Alten gegenüber zu treten.
„Es spielt keine Rolle. Sie war mir schon immer wie ein Dorn im Auge gewesen!", offenbarte Arwan und lachte wieder. Sein Lachen hallte einsam und unheimlich durch den Raum. „Töte sie! Töte sie und ich verschone dich auch diesmal! Du hast bis zum nächsten Vollmond Zeit!" Seine plötzliche Idee schien Arwan gar erobert zu haben, denn er war wie benommen von ihr.
Riu lächelte unsicher. „Dann soll es so sein. Kann ich gehen?" Doch das Oberhaupt zwinkerte ihm zu und schüttelte den Kopf. Augenblicklich starb Rius Hoffnung und er ballte die Hände zu Fäusten.
„Nicht so schnell. Du glaubst doch nicht, ich lasse dich einfach so gehen! Schwöre, dass du mir das verdammte Herz der Hexe bringst! Schwöre es mit dem ewigen Schwur!"
Jede Farbe verblasste aus dem Gesicht des jungen Mannes. Er beäugte fieberhaft die Wände des Zimmers, in dem Optimismus, dass dort irgendwo eine Lösung geschrieben stehen würde. Doch das war sie nicht. Es gab kein Schlupfloch in dieser mühsam erbauten Falle.
„Ich schwöre im Namen meines Lebens, dass, wenn der nächste Vollmond am Himmel steht, ich das Herz der Hexe an mein Heimatdorf überreichen werde. Breche ich den ewigen Schwur, dann soll es so sein, dass ich peinigend sterbe und niemand mir eine Rettung sein kann. So soll es geschehen und ich gebe mein Versprechen, das ewig hält." Worte. Worte, bei denen er buchstäblich nichts verspürt hatte. Und schon beeinflussten sie sein Leben.
Riu fuhr hoch, als Arwan zufrieden die Hände aufeinander schlug. Der Dieb sah stirnrunzelnd zu Boden, die Gedanken wirr und vage. Nun war er an das magische Versprechen gebunden, das er soeben gegeben hatte. Der ewige Schwur war die einzige Art Magie, die in Lornir immer willkommen geheißen wurde.
Jetzt verstand Riu auch den Grund dafür.
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