𝟏𝟑. - 𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭 (𝟐)

Als auch noch Nox gegangen war, war es auf einmal komplett still geworden. Die Hintergrundgeräusche verschwanden ganz. Es war nichts, außer Rius unruhigen Atem zu vernehmen. Der Dieb schluckte schwer und stolperte vorwärts. Als er sich umsah, wurde ihm übel. Die Welt färbte sich immer weiter in rötliche Farben. Langsam, Schritt für Schritt, wurde auch seine Haut rot, als wäre es Blut, das aus unzähligen Wunden quoll. Er war sich sicher, dass es nur Einbildung war, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass es ihn um den Verstand brachte. Sogar das Gras verfärbte sich in diese Farbe; das saftige Grün verschwand.

Alle schrecklichen Dinge der letzten Zeit waren rot. Rot war das Lebenselixier eines Menschen, die Blume, an die er nur mit Mühe gekommen war, die schrecklichen Augen des Allwissenden und seine beiden Monde. Die gruseligen beiden Monde, die ihn jedes Mal aufs Neue die Luft aus den Lungen getrieben hatten.
Ich hätte es nicht bringen dürfen. Ich hätte in Lornir bleiben sollen. Zuhause, dachte er sich, doch jagte bald diese Gedanken fort. Er hatte kein Zuhause. Nirgendwo. Es machte keinen Unterschied, wo er das Leben ließ.

Je mehr Zweifel in ihm aufkamen, desto schlimmer wurde die Lage. Bäume wuchsen auf seinem Weg, er stolperte über Steine, die zuvor nicht da gewesen waren. Die Welt schien mit ihm zu spielen. Er wusste, dass sie ihn wegschmeißen würde wie ein unbrauchbares Spielzeug, sobald er ihr zu langweilig wurde. Er war höchstens ein Bauer in diesem Schachspiel. Ein weißer ... nein, doch eher ein schwarzer Bauer. Und er spielte gegen die Roten.

Ein Geräusch ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Es klang seltsam, eine Mischung aus Knurren und Zischen. Riu schaute umher, doch obwohl sich seine Sicht mit einem Mal wieder verschärfte, konnte er nichts sichten. Hatte er es sich nur eingebildet? Doch es erklang wieder und im nächsten Moment schlug ihn etwas Hartes fort. Er wurde durch die Luft geschleudert, schrie auf und knallte gegen den Boden. Sofort bekam er den Schmerz zu spüren, der sich langsam und qualvoll in ihm ausbreitete.

Dennoch sprang er auf, aber alles wiederholte sich und sein Körper erlitt dasselbe Schicksal wie noch vor wenigen Sekunden. Was zur Hölle geschah hier? Was war los? Es ist einer meiner Träume. Ich muss mich einfach konzentrieren! Ich weiß, was hier vor sich geht. Ich müsste mich bloß erinnern.

Er hob hastig den Blick, konzentrierte sich auf die Umgebung. Doch da war nichts ... da war gar nichts ... Nein ... doch! Etwas bewegte sich. Es war riesig. Die Äste der Bäume! Sie bewegten sich! Aber war es nicht der Wind, der sie wog? Riu zweifelte. Es dauerte, bis er realisierte, dass Windstille war. Die Bäume – falls sie es überhaupt waren – waren lebendig.

Sie hatten Beine. Rindige, ungelenke, hölzerne Beine. Und sie hatten Gesichter. Ihre Augen – ein pechschwarzer Abgrund. Ihr Mund – eine endlose Leere. Sie waren riesig. So groß wie Bäume eben sein konnten, vielleicht sogar noch etwas größer. Und es waren viele. Unzählbar. Wie ein ganzer Wald aus Gegnern.

Riu rappelte sich auf, sammelte seine Gliedmaßen wie einzelne Puzzlestücke.

Er sprintete, während der Wind in seinen Ohren pfiff – es waren die Äste, die ihn millimeterweise verfehlten.

Er trieb sich vorwärts, weiter und noch weiter, bis ihn eines der Bäume von den Füßen riss. Diesmal versuchte die lästige Riesenpflanze ihn zu erdrücken. Ihre Äste waren überraschend beweglich. Sie umschlossen seinen Körper, versuchten ihn zu zerquetschten, als wäre er nichts weiter als ein Apfel, aus welchem man Saft herauspressen wollte. Der Dieb schrie. Es fühlte sich an wie ein Alptraum. Und das war es ja im Grunde auch.

Nur mit Mühe fand seine bleiche Hand die Jackentasche, ertastete den kalten Griff des Messers. Er hatte ihn mitgenommen, um zu töten; wohl kaum, um seinen eigenen Tod zu vermeiden. Aber jetzt blieben ihm keine anderen Möglichkeiten, keine Wahl. Hier war er das Beutetier, die Rolle des Jägers wurde schon an andere vergeben.

Mit Schwung ließ Riu die Klinge von innen durch die Rinde gleiten. Die Bestie zischte und der Druck wurde schnell geringer. Der junge Mann machte dies erneut, spürte eine klebrige Flüssigkeit an seinem Leib und seiner Kleidung – es war das Blut des Baums, das jedoch nicht im Geringsten rot war, sondern dunkel. Noch dunkler als schwarz. Dunkler als jede Farbe, die er je gekannt hatte.

Als er sich von dem klammernden Griff der Äste und Zweige befreite, war er völlig ausgelaugt. Er lief wieder los, immer schneller, mit der ständigen Angst, dasselbe Vorgehen bald wieder vorführen zu müssen. Seine blutverschmierte Waffe hielt er ab dann stets griffbereit.

Riu kämpfte sich gerade durch das hohe Gras, das ihm bis zur Hüfte wuchs, als seine Schritte immer langsamer wurden. Er hustete, bekam keinen Sauerstoff. Seine Sicht wurde wieder unklar. Bald konnte er nicht einmal gehen – die Bäume hatte er zwar weit hinter sich gelassen, aber ihre Wurzeln wuchsen hier direkt aus der Erde heraus und hielten ihn an seinen Beinen fest. Der Dieb hatte jedoch keine Kraft mehr, sich zu verteidigen. Etwas war mit der Luft ... Sie war schwer. Giftig.

Dann fiel er, krabbelte wie ein armseliges Insekt auf seinen Vieren weiter, trotz der Wurzeln, die schmerzhaft an seinen Klamotten zerrten. Noch ein wenig weiter ... nur ein wenig. Und es wurde immer besser, denn da war Licht. Da war Licht am Himmel! Es war Morgen!

Etwas Unklares verließ Rius Mund, als er einen Freudenruf bringen wollte. Und dann war alles wieder weg. Einfach alles!
Da blieb nur die gleiche Ruhe, die gleiche endlose Wiese wie am Tag. Als wäre die Nacht tatsächlich nur ein schlechter Traum gewesen. Aber Rius Erschöpfung, seine Wunden blieben ...

Der Dieb brauchte nicht lange, bis er am Verabredungsort angekommen war. Er erkannte ihn sofort. Aber da war ein anderes Problem, das ihn erstarren ließ; ein so großes, dass seine übrigen Probleme im Angesicht dessen verschwanden.

Niemand war gekommen.

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