𝟏. - 𝐄𝐢𝐧 𝐓𝐡𝐞𝐚𝐭𝐞𝐫𝐬𝐭𝐮̈𝐜𝐤 𝐝𝐞𝐬 𝐋𝐞𝐛𝐞𝐧𝐬
Riu konnte gar nicht anders, als zuzuschauen, während die dunkle Gestalt den schlafenden Lord tötete. Der Mörder schien das Herz aufgrund der spärlichen Beleuchtung knapp verfehlt zu haben, weshalb das Opfer sofort zu sich kam und einen Schmerzensschrei ausstieß. Er hallte in Rius Ohren nach, immer und immer wieder, als würde man eine Musikschachtel etliche Male von vorn laufen lassen.
Der Mann in Schwarz verschwand durch das geöffnete Fenster so lautlos und flink, als wäre er nie hier gewesen. Nur das ausklingende Stöhnen und Keuchen, das aus der Ecke des Zimmers ertönte, bestätigte Rius Befürchtungen. Das hier ... das hier war gerade wirklich geschehen. Und Lord Drazhan würde in derselben Nacht sterben, in der Riu ihn berauben wollte.
Der junge Dieb schluckte hart und hielt inne. Er bekam kaum Luft, denn diese war auf einmal schwer von dem Gestank nach Blut, das aus der Wunde des Sterbenden quoll. Das Herz donnerte Riu fast schon schmerzhaft gegen die Brust und erinnerte ihn abermals an seine Aufgabe. Er hatte noch all das Wertvolle aus dem Zimmer zu klauen und dann zu verschwinden. So tat er es auch sonst. Still und heimlich, wohl wissend, dass ihn eine weitere Person bei Sonnenaufgang verabscheuen würde. Aber noch nie war es geschehen, dass das Opfer hinterher tot war. Dabei spielte ihm dies doch in die Hände, oder?
Ein weiteres Ächzen erklang und Gänsehaut breitete sich auf dem Rücken des Diebes aus. Sein Atem ging nun fast genauso stockend wie der des Lords und so laut, dass Riu befürchtete, man würde ihn hören. Ihm verging das Verlangen nach Raub und er schaute sehnsüchtig in die Richtung, wo er das geöffnete Fenster erahnte. Die einzige Rettung aus diesem Wahnsinn.
Auf allen vieren kroch der junge Mann aus seinem Versteck heraus. Er hatte sich unter einem großen Tisch aus prächtigem Holz versteckt, der vermutlich ein Dutzend Mal mehr wert war als der Keller, den Riu bezahlte.
Er knirschte mit den Zähnen, als die Beine unter ihm wegsackten und er wieder auf den Händen und Füßen verharrte. Seine Gliedmaßen waren steif, die Ellbogen knickten ständig weg, sodass seine Brust fast den glatten Marmorboden berührte und er Mühe hatte, sich weiter vorwärts zu bewegen.
„Ess ... ess wwar ... Ad ... ddo ... or ... Addorj ..."
Riu zuckte zusammen, als er zwischen Drazhans Stöhnen Worte wahrnahm. Er wusste nicht, was ihn dazu bewegt hatte, doch er sprang auf und stolperte zum Bett des Lords, kniete sich hin, um ihn besser hören zu können.
„Ador ... adorja ... an."
Es war dunkel und doch sah der Dieb, wie trocken die Lippen Drazhans waren und wie feucht seine Stirn. Er spürte den hektischen Atem des Lords auf seinem Gesicht und bemerkte, wie schwer sich seine Brust hob und wie sehr sie sich nach Sauerstoff sehnte. Der Blick des alten Mannes war überall und nirgendwo zugleich, seine Augen fokussierten keine Sekunde lang einen festen Punkt, sondern huschten durch den Raum. Links. Rechts. Oben. Unten. Und wieder von vorn. Die Pupillen groß. Lider panisch aufgerissen.
Riu wagte keinen einzigen Blick auf die Wunde, doch er wusste, dass der Lord es nicht überleben würde. Drazhans Leib zitterte im Angesicht des Todes, als Riu sanft seine Hand berührte. Sie war alles und nichts. Warm und kalt. Verschwitzt und trocken. Als wäre sie noch nicht so sicher, ob sie nun am Leben bleiben oder sterben würde.
Die Sinne des jungen Mannes wurden betäubt. Der Schock ebbte ab. Die Gedanken verschwanden vollständig. Da waren nur Lord Drazhan und sein Leben, das vor Rius Augen quälend langsam vorbeizog. Als würde er alles miterleben. Nein ... als würde er ein Teil des Lords sein. Er spürte zwar nicht den Schmerz, der über den Körper des Sterbenden wanderte, doch dessen Gefühle und Trauer trafen seine Seele noch viel schmerzvoller, als es ein beliebiges Messer je hätte tun können.
Erinnerungen. Da war alles dabei. Szenen, in denen ein kleiner Rotschopf mit seinem Spielzeug spielte. Zank mit dem Bruder. Zweifel, Enttäuschung, Glück, Liebe. Wie ein Theaterstück, das sich Leben nannte.
Mühsam unterbrach Riu die Verbindung, indem er seine Hand von der des Lords löste. Der junge Dieb schloss die Augen und versuchte, das Keuchen Drazhans auszublenden. Nur kurz, aber er brauchte Ruhe. Er brauchte wieder Frieden, der ihm so abrupt genommen wurde.
„Adorr ... rjan", hörte Riu wieder. Er öffnete seine Augen und starrte geradewegs in die Drazhans. Er hatte genug von seinem Leben gesehen, um zu wissen, wer Adorjan war und wie sie zueinander standen.
„Denkt Ihr wirklich, euer Bruder hat Euch das angetan?"
Ein kaum merkliches Nicken. Und dann atmete er nicht mehr.
„Seid gütig, Göttin, und zeigt seiner Seele einen sicheren Pfad zum Paradies", flüsterte Riu, obwohl er sich nicht einmal sicher sein konnte, ob die große Göttin die Bitte eines Diebes erhören würde. Er fühlte sich das erste Mal seit langer Zeit furchtbar einsam. Sonst hatte es ihn noch nie wirklich gestört, dass er keine Gleichgesinnten besaß.
Sein unruhiger Atem war der Einzige, der die bedrückende Stille zerriss. In seinem Hals kratzte es unangenehm. Riu räusperte sich und hoffte, dass das lästige Gefühl dadurch verschwinden würde. Es half nicht. Die Kehle war wie zugeschnürt und der Dieb hatte dazu das Gefühl, er könnte sich jederzeit übergeben.
Seine Beine wackelten, als er sich erhob. Sein wandernder Blick fiel versehentlich auf das Messer, das aus der Brust der Leiche emporragte. Die Klinge steckte bis zur Hälfte im Fleisch des Lords und machte den Anblick nur noch dramatischer.
Er seufzte schwer und zwang sich, die Waffe aus dem Leichnam zu ziehen. In Lornir erzählte man sich, die Seele könne den Körper nicht verlassen, wenn dieser mit Metall in Kontakt stand.
Und genau dann riss jemand die Zimmertür auf. Sofort kniff Riu die Augen zu, da ihn das grelle Licht aus dem Korridor blendete.
„Lass deine Waffe fallen oder ich ersteche dich, du barbarischer Mörder!" In der Stimme lag eine solche Verachtung, dass Riu unwillkürlich zusammenzuckte. Er wurde erwischt. Doch ihm wurde Unrecht getan. Er kämpfte gegen die Tränen an, aber eine einzelne Perle entglitt seiner Kontrolle und rollte seine Wange hinunter.
„Sofort!", knurrte Drazhans Sohn wie ein Hund, der soeben seinen Herrn verloren hatte. Die Spitze seines Schwertes war entschlossen auf den Dieb gerichtet. Er würde nicht zögern, zu töten, wenn es nötig sein würde.
Ein heller Ton erfüllte das Zimmer, als das blutbeschmierte Messer auf dem Marmorboden aufprallte.
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