✩ Kapitel 7 ✩

„Ruby! Geht es dir gut? Sag schon, wie viele Finger siehst du?" Der Heiler ging vor Ruby auf die Hocke und streckte ihm drei Finger vor das Gesicht.
„Zwei und noch einen" Er schien seinen Kiefer gar nicht zu bewegen und doch hörte ich seine Worte klar und deutlich in meinem Kopf. Es war  zu ungewohnt, beinahe schon schmerzhaft.
„Richtig! Und was sind zwei und eins zusammen?"

Verzweifelt sah der Wächter zwischen Kyan und Mary hin und her. Ich konnte es an seinen toten Augen nicht erkennen, doch ich spürte — Ruby war verwirrt. Was für ein Wunder, was gnadenlose, hohe Mathematik bewirken konnte.

Im nächsten Moment geriet plötzlich ich in das Sichtfeld der gruseligen weißen Augäpfel.
„Wer ist sie?"
„Oh, das ist Alya, sie ist ..."
„Ayla"
„Was?"
„Ich heiße Ayla und nicht Alya", korrigierte ich genervt. Oh, wie ich es hasste, wenn man meinen Namen verzerrte!

„Bist du neu, eine von uns?", ohne, dass ich etwas entgegnen konnte, fuhr er fort, „Willkommen in der Fakultät der Absonderlichen! Ich bin Ruby, eurer Wächter!"

Knackende Melodien spielten seine Knochen, als Ruby mit einer unnatürlich schnellen Bewegung sich von dem Sofa erhob. In den Gesichtern der anderen lag eine ernste, emotionslose Ruhe. Kurz, nur für einen Moment, konnte ich mich plötzlich in sie hineinversetzen. Etwas alltägliches, vertrautes spürte ich. Als wäre das leise Aufknacken der Knochen ein Gute-Nacht-Lied.

Ob dieses Lied mir gefiel? Ich wollte mit meiner ganzen Seele „Nein!" schreien, doch das wäre gelogen. Ich fand Vergnügen dran. Vergnügen, das ich nicht deuten konnte, das ganz absurd und anders war, als die ganzen anderen Behagen, die ich zuvor kannte. Doch ehe ich den Grund dafür finden konnte, war das Gefühl wieder verflogen und seine Stelle übernahm die Unruhe.

Wie werde ich hier bloß nur überleben können, zwischen den leeren Fluren der Academy und der Enge meines neuen Zuhauses? Zwischen den Menschen, die ein paar Ligen unter mir waren und sich trotzdem für wichtig hielten?

Genau jetzt nahm ich das Leben nackt und pur wahr, so wie es eben geschaffen und bestimmt wurde. Es war wie ein durchgängiges Überlebensspiel ohne Anfang und Ende, wie ein brutaler Kreislauf, wo jeder ständig umkam und wo es nur Verlierer gab. Wie konnte sich dieses erbarmungsloses Leben nur jahrelang hinter den Samtkleidern und den unbekümmerten Tagen verstecken?

Fast wollten schon die Sorgen mit bitteren Tränen mir aus den Augen fließen, doch ich unterdrückte sie mit meinem letzten Willen. Mir kam der Gedanke, dass es jetzt womöglich besser wäre, mich für einen Augenblick zurückzuziehen, um etwas runterzukommen. Mit der Aussage, dass ich mich vergewissern wollte, ob die ganzen Materialien, welche Yaak in mein Zimmer teleportieren wollte, schon da waren, verließ ich den Raum.

𑁍 𑁍 𑁍

Mein Zimmer mit der niedrigen Decke und hellgrauen, kahlen Wänden, das ich mit Mary gezwungen war zu teilen, war nicht sonderlich groß. Zwei Einzelbetten, zwei kleine Schränke und ein Schreibtisch passten kaum in den dunklen, finsteren Raum. Außerdem müsste es dringend aufgeräumt werden, da Marys Sachen, genauer genommen Bücher, überall herumlagen. Sogar auf ihrem Bett herrschte ein komplettes Chaos aus dicken Lektüren und Heften.

Auf dem anderen Bett ganz links lagen schon das Kissen und die gefaltete Decke in einem Stapel, alles in hellblauen Farben gehalten.
Daneben erblickte ich tatsächlich meine neue Uniform — den langen Umhang in der lila Farbe unserer Fakultät. Darauf war sogar unser Wappen abgebildet, welches einen Höllenhunde-Kopf auf einem violetten Hintergrund darstellte. Die Wahl war bestimmt Rubys wegen auf dieses Tier gefallen, obwohl der Höllenhund auf dem Wappen im Vergleich zu dem Skelett ziemlich lebendig aussah.

Darüber hinaus fand ich ein paar Schreibmaterialien und eine Liste an Schulbüchern, die ich mir in der Bibliothek besorgen sollte. In einem tiefblauen Umschlag entdeckte ich zudem einen Zettel von Yaak, in dem mir berichtet wurde, dass ich schon ab heute den Unterricht besuchen sollte, da ich auch so schon ziemlich viel verpasst hatte. Auch der Stundenplan war schon da, wo ich aber nur ein Blick draufwarf. In der Woche hatte ich mehrere Zaubergrundlagen Stunden, etwas Geschichte und Tierwissen, ein paar gemeinsame Stunden mit den Magiern, Zareyakunde, Schasanisch als Fremdsprache, wenige Einzelstunden mit Nai Fortis und Kampfsport.

Das Letzte störte mich am meisten. Beim besten Willen konnte ich mir keinen Grund überlegen, wo man Körpereinsatz für brauchte, wenn man schon Magie besaß. So nebenbei erinnerte mich meine innere Stimme daran, dass ich sie noch gar nicht hatte. Aber so wirklich zählte das ja auch nicht, da die Schule eigentlich nur für Zauberer mit Gabe vorbestimmt war.

Bevor ich mich wieder zu den anderen gesellte, fiel mir ein, dass ich mich noch umziehen musste. Vajkans übergroßes Hemd hing noch immer an mir und hob nicht gerade günstig meine Figur hervor. Stopp mal ... Yaak hat mich ja auch so erlebt. Verdammt! Er hat mich nicht einmal gefragt, wieso ich das Teil trug. Langsam löste sich in meinem Kopf irgendeine Blockade, sodass mir plötzlich was ganz klar wurde — meine Brandwunden hatte Yaak auch nicht übersehen. War das vielleicht der Grund, warum sich der Direktor am Ende seltsam verhalten hat? Hat er womöglich etwas verstanden, was er eigentlich gar nicht wissen durfte?

Meine Laune sank noch tiefer. Wie hatte ich mich nur vor den Göttern schuldig gemacht, dass ich diese Strafen verdient hatte? Ich hatte mich doch vor allen Leuten hier absolut lächerlich gemacht, ohne es wenigstens zu merken. Und das war das letzte Bisschen.

Mein Ärger war so groß, dass ich in der Lage war, alles um mich herum auf den Boden zu schmeißen und es zu zerstören. Vor Empörung hämmerte ich mit der Faust gegen die Wand. Ein unklarer Ton verließ meine Lippen. Etwas Wildes und Barbarisches lag in ihm, er klang beinahe unmenschlich, wie ein Knurren oder Heulen.

„Alya, ist alles okay bei dir? Wir müssen jetzt los, du willst dich doch auch nicht direkt zum ersten Tag verspäten!", hallte es aus dem Flur. Ich schloss meine Augen und atmete durch. Danach richtete ich mich auf.

Egal wie schlimm es war. Ich durfte keine Schwäche zeigen.

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