✩ Kapitel 6 ✩

Ein Zischen durchbrach die beängstigende Stille. Das Geräusch war so leise gewesen, dass ich mir nicht einmal ganz sicher war, ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte. Fieberhaft sah ich mich immer und immer wieder um, doch da war nichts. Mein sechster Sinn zog sich zurück und schwieg weiterhin hartnäckig auf die ganzen Fragen, die meinen Kopf nahezu überfüllten.

Ich schaute wieder zu der verdorbenen Wand. Die Spuren ließen mir ein Schauer über den Rücken jagen.
„Ach, du liebes Feuer. Was geht hier vor sich?", murmelte ich und lauschte. Draußen, wie in einer ganz anderen Welt, zwitscherten noch die friedlichen Vögel und rauschte das Laub. Ob ich zurückgehen sollte, um Hilfe zu holen? Nein, lieber nicht. Die anderen würden mich dann wohl für völlig verrückt halten. Es war mein erster Tag hier und ich konnte und wollte mich nicht im schlechten Licht zeigen.

Wieder zischte es. Ich hörte ein leises Flüstern. Menschen? „Ist hier jemand?" Als Antwort bekam ich nur das Knarren des Parkettbodens unter meinen Füßen. Ich machte weitere Schritte durch den leeren Flur und betrat dann letztendlich das Wohnzimmer.

Mein unbeeindruckter Blick schweifte über die zu sparsame Möblierung. Ein kleines Sofa, verziert mit altmodischen rot-grauen Mustern, ein Vitrine-Bücherregal und zwei hölzerne Hocker, die hier ganz fehl am Platz in der Mitte des staubigen Raumes standen. Auf einem der Hocker lag ein Buch in einem dunkelblauen Cover. Unwillig stiegen mir Tränen in die Augen.

 Ich wusste noch, ich hatte mal auch so ein ähnliches blaues Märchenbuch gehabt. Jeden Abend hat mir mein Kindermädchen daraus etwas vorgelesen. Dort ging es um Sagen von gruseligen Monstern gewesen und mutigen Helden, die das Böse immer besiegen konnten. Doch die Erinnerungen an diese Zeiten waren alles andere als schön. Sie ließen mich noch sehr viel unwohler und einsamer in diesem scheußlichen alten Haus fühlen, wo ich nach meiner Reise am Ende gelandet bin. Was mich wohl hier erwarten wird ...?

Es zischte direkt hinter mir. Die Haut von meinem Nacken bis hin zu dem Rücken überfiel ein Schwarm an Gänsehaut. Jemand schlug mir die Luft aus den Lungen und im Mund wurde es gar noch trockener als in einer Wüste. Warum mussten Gefahren immer aus der unerwarteten Richtung kommen?

Ich drehte mich ruckartig um und sah direkt in die giftgrünen Augen eines ... verdammt! Wie viel Pech konnte man eigentlich haben?

In Zamis gab es sehr viele Atroxen, so wusste ich genug von ihnen. Nun, vielleicht wäre es besser nichts von diesen Monstern zu wissen, so furchterregend wie sie waren. Jede regenbogenfarbene Schuppe der Biester war hochgiftig, jeder Zahn — spitzer als ein Messer. Sie tranken Blut statt Wasser, drangen mit den Zähnen in die Haut des Opfers ein und saugten gewissermaßen das Leben leer. Doch das, was sie doppelt so gefährlich machte, war die Fähigkeit sich zu teleportieren. Es war also egal, wie schnell ich jetzt laufen würde, mein Leben würde ich damit nicht retten können.
Nur vor Bernstein fürchteten sich die Atroxen, weshalb auch jeder in Zamis Schmuckstücke mit diesem Stein trug. Doch leider hatte ich mir meine Kette damals vor dem Schlafengehen ausgezogen und als wir angegriffen wurden, hatte ich ganz andere Sorgen gehabt.

Genervt schlug der Atrox mit dem langen dornigen Schweif durch die Luft und starrte mir entgegen. Nicht einmal ein Funke an Gnade lag in seinem Blick, nur dickes Eis, welches niemand zu brechen fähig war. Ich zuckte zusammen, trat ein Schritt zurück und stolperte beinahe über einen Hocker, während der Atrox mir immer näher kam.

„Hast du Lust auf einen Bonbon?" Im Unverständnis blieb das Tier stehen und ich nutzte es aus, um die Süßigkeit, welche ich von Vajkan bekommen hatte, mir aus der Hosentasche zu ziehen. „Der ist sogar mit Zitrone!"

Der gefährliche Glanz in seinen Augen wurde plötzlich wieder klarer und heller. Der Atrox erwachte aus seiner kurzen Starre. Ich fühlte meine Beine weicher werden und den Boden unter ihnen wegrutschen. Wenn man noch meine emotionale Überforderung dazu rechnete, konnte man also schätzen, in welch einem schrecklichen Zustand ich war.

„Mary? Du machst ihr Angst, siehst du nicht? Lass das und mache dich bereit — in einer halben Stunde müssen wir schon in der Academy sein", erklang die Stimme meines Retters etwas weiter links. Eine wunderschöne Stimme, musste ich zugeben. So melodisch tief und doch so unnatürlich leicht, wie das Schweben eines Nachtfalters im schwachen Mondlicht.

An der Tür stand ein Junge. Maximal auf 14 würde ich ihn schätzten, vielleicht auf 15. Sein schmales blasses Gesicht und die blutroten Augen strahlten pure kindliche Positivität aus, welche gerade sehr unpassend wirkte. Einen ganzen Kopf, wenn nicht mehr, war er kleiner als ich und trug abgetragene, an manchen Stellen zerrissene Klamotten. Auf seinen Lippen zeichnete sich ein breites Grinsen auf, wobei seine spitzen Reißzähne zur Geltung kamen. Dann war die Zeit der Bewunderung mit einem Mal vorbei. Er war ein Vampir. Ein verdammter Vampir!

„Komm schon, Mary", sprach er wieder zu dem Monster, welches aber in einem Bruchteil der Sekunde nicht mehr da war. Anstatt ihm stand meine Altersgenossin da. Die glatten blonden Haare fielen ihr in einem glänzenden Wasserfall auf die schneeweiße Bluse. Sie hatte ein hübsches rundes Gesicht, welches aber die auffällige dicke Brille an ihrer Nase verhässlichte.

„Ist ja nicht meine Schuld, dass es wieder nicht funktioniert hat. Und wenn es nicht klappt, werde ich immer stinksauer", beschwerte sich Mary.
„Wer sollte es denn diesmal sein?", fragte der Vampir.
„Ein Zarek."
„Na, aber Zarek und Atrox haben ähnliche ... hm... einen ähnlichen Körperbau. Also kannst du trotzdem stolz auf dich sein. "
„Verdammt nochmal, wenn es so weiterläuft, werde ich nie wechseln können. Und meine Prüfung ist doch schon in wenigen Tagen!"

„Kann mich bitte jemand aufklären, worüber ihr gerade redet?", erkundigte ich mich vorsichtig.
„Na klar doch", lächelte mich der untypische Vampir an, „Mary ist eine Gestaltwandlerin, die sich aber jedes Mal in ein komplett anderes Tier verwandelt. Dazu kann sie das gar nicht kontrollieren. Die Prüfung bald entscheidet, ob sie bei uns bleibt oder auf eine andere Fakultät wechselt. Und wer bist du? Noch eine Unglückliche?"
„Sieht wohl so aus. Aber denkt ja nicht, dass ich für immer eine bleibe. Schon bald habe ich meine Gabe und bin hier weg. "

„Und du heißt?"
„Ayla"
„Toller Name. Ich bin Dany, ein ganz lieber Vampir. Mary, willst du dich auch mal vorstellen?"
„Nein", entgegnete diese schroff, während ich schweigend zu akzeptieren versuchte, dass es auf der Welt anscheinend liebe Vampire gab.

Dumpfe Töne aus dem Flur ließen uns alle für einen Moment angespannt die Luft anhalten. Immer deutlicher hörte ich sie ... Schritte. So vornehm und überheblich, wie sie klangen, wusste ich — die Person, die da kam, musste selbstsicher und unerschrocken sein.
Instinktiv spannten sich meine Muskeln an. Die Gangart erinnert mich zu sehr an die, meines Vaters. Er ging genauso übertrieben laut, damit alle im Haus im Voraus erkennen konnten, dass es sich um den Hausherren handelte.

Noch heute konnte ich mich an seinen ständig gehobenes Kinn erinnern, an seine ganz besondere Art zu reden, seinen durchdringenden Blick, den mächtigen Kiefer ... Ich hatte mein Leben lang geglaubt oder viel eher glauben wollen, dass wir uns nahe waren. Dabei war es schon immer das Gegenteil davon gewesen.
Ich ballerte meine Hände zu Fäusten. Ich hatte ihn bewundert und als einen Helden gesehen. Und genau aus dem Grund tat es mir so weh. Ich hatte mich in ihm getäuscht.

„Wer ist die denn?", holte mich eine tiefe Bassstimme wieder in die Gegenwart. Verwundert sah ich hoch und ... sog rasch die Luft ein.

Ich wusste nicht wie und warum, aber ich fühlte mich zu dem vor mir stehenden Jungen angezogen. Er hatte keine besonderen äußerlichen Merkmale, auch war er nicht bildschön, doch etwas fand ich an seinem ernsten Blick und stabilen Art. Ob es nur deswegen so war, weil er mich an meinen Vater erinnerte?
Aufmerksam musterte ich seine lange Wimpern, betrachtete die schokobraunen Haare, welche auf die majestätische hohe Stirn fielen. Nebenbei hörte ich Dany etwas sagen, doch starrte weiterhin auf seine gerade Nase mit den eleganten Nasenflügeln, auf seine Augenlider mit den zahlreichen schattigen kleinen Linien an den Lidfalten und war nicht einmal in der Lage den Blick von ihnen abzuwenden ...

Langsam fiel es den anderen auf, dass ich das Gesicht des Typen zu lange ansah. Eilig ließ ich mein Blick weiter runtergleiten und erstarrte erneut. Oh Mann ... wie blind hatte ich denn sein Profil betrachtet, ohne auf weitere Details zu achten?

In den Händen hielt der Kerl ein Höllenhundeskelett. Als ich die dunklen, beinahe schwarzen Knochen sah, kam in mir ein Übel auf. Vor Schreck wollte ich aufschreien, doch bekam keinen Ton raus. Der Atem kam nur stoßweise bis mich auch noch das Gefühl in den Beinen verließ, sodass ich mich dann auf den Hocker hinter mir niederlassen musste. Ja, ich hatte nichts gegen Höllenhunde, doch von einem Höllenhundeskelett war es nie die Rede gewesen.

Ohne mir auch nur die kleinste Erklärung zu widmen, durchquerte der Typ das Wohnzimmer und ließ das Monster auf das Sofa fallen.
„Was ist denn mit Ruby passiert? Wer war das?" Besorgt kniete sich Dany neben das Skelett.
„Er wollte sich mal wieder mit Schülern anfreunden, der Naive", leise lachte der er auf, „Naia Armilla hat ihn dann mit einem Wassertornado-Zauber angegriffen, dachte wohl, dass Ruby etwas ausrichten könnte"
„So unrecht war sie aber auch nicht,", fügte Mary hinzu, ohne von dem azurblauen Buch aufzublicken, welches sie gerade las, „Ruby kann sehr vieles anrichten, wobei natürlich nicht immer mit Absicht."

„Was zum Calidus ist das für einer? Wie kommt er her? Schaft ihn weg!", stöhnte ich auf und vergrub mein Gesicht in den Händen, um das Skelett nicht mehr ansehen zu müssen.
„Wegschaffen, ja?", antwortete der Braunhaarige verbissen, „Hältst dich wohl für wichtig, was? Wer bist du, um hier herumzukommandieren? Ruby ist der Wächter unserer Fakultät. Ohne ihn sind wir verloren, klar?" Darauf erwiderte ich nichts. Leute, die es nicht verdienten, bekamen von mir üblicherweise auch keine Antwort.

„Reg dich ab, Kyan. Ayla hat weder dir noch Ruby etwas getan."
„Okay, wenn du schon so vernünftig bist, mache doch endlich was Sinnvolles und heile ihn, verdammt nochmal! Wir können auf einen sicheren Abstand gehen und ..."
„Kommt gar nicht infrage! So ein Risiko ist es nicht wert!", schüttelte der 14-jährige beängstigt sein Kopf. Meine Neugierde überwand den Ärger.
„Worüber redet ihr?"

„Über meine Gabe", murmelte Dany, „sie ist der Grund, weshalb ich hier reingeraten bin, ohne die Hoffnung auf eine Wechslung zu einer anderen Fakultät. Wenn ich jemanden heile ... dann sterben alle Personen, die sich in einem bestimmten Radius drumherum befinden."

Heiler und Vampir? Kein Wunder, dass es diese Nachwirkung gab. Trotzdem musste ich zugeben, dass ich neidisch auf Dany war. Schon in so jungen Jahren überhaupt irgendeine Gabe zu bekommen war echt bewundernswert.

„Kann man nichts tun? Hilft dir die Academy denn gar nicht?"
„Zum Teil. Sie hilft mir eben meine Energie in Zaum zu halten, nichts weiter. Wir sind absonderlich, das solltest du nicht vergessen. Uns wird beigebracht, die Gabe zu unterdrücken, um uns selber und die anderen nicht in Gefahr zu bringen."

Und was war mit Mary? Warum wird sie schon bald eine Chance bekommen? Und was noch wichtiger war — was war denn mit mir? Warum wollte wohl Yaak, dass ich ausgerechnet auf diese Fakultät gehe und keine andere? Schließlich musste meine Gabe nicht unterdrückt werden, sondern im Gegenteil — sich zeigen. Bedrückt vor Sorgen holte ich einen großen Atemzug Luft durch den Mund. Hoffentlich wusste der Direktor, was er da tat.

„Schaut, er wacht auf!"

Alle Blicke richteten sich auf das Skelett, welches tatsächlich anfing sich zu rühren.

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