✩ Kapitel 5 ✩
„Shu saruma fesh?"
„Ich verstehe kein Schasanisch, Nai* Fortis", erinnerte ich den Direktor bestimmt schon das vierte Mal an die entscheidende Tatsache. Etwa zehn Minuten seit ich aus dem Portal gekommen war, hatten wir uns unterhalten und waren kein bisschen weiter gekommen, da der niedrige pummelige Mann ständig auf seine Muttersprache gewechselt hatte.
„Oh, famila! Tatsächlich! Nun ja. Diese Schule nur für Waves mit Gabe, weißt du nicht?" Er schmunzelte leicht. Nachdenklich musterte ich, vielleicht sogar zu auffällig, sein freundliches rundes Gesicht und die Röte auf seinen Wangen. Die kurzen roten Haare standen in alle Richtungen und die hellblauen funkelnden Augen, welche die gleiche Farbe wie sein Wave-Mantel besaßen, waren erwartungsvoll auf mich gerichtet.
Ich unterdrückte ein Lächeln. So hatte ich mir den Direktor der Bright-Water Academy ganz bestimmt nicht vorgestellt. In meinen Einbildungen war er immer ein starker, ernster, muskulöser und ein verdammt gut aussehender Mann, der beste Magier im ganzen Lande gewesen. Jetzt ergaben meine Vorstellungen keinen Sinn mehr. Der etwas naive, aber zweifellos liebenswürdige Mann erinnerte mich zu sehr an einen lachenden, runden Luftballon.
„Dies ist mir bewusst, Nai Fortis. Aber, hm, unter bestimmten Umständen musste ich etwas eher herkommen" Nervös klammerte ich mich noch fester an mein Hocker. Dass mein Zuhause verbrannt wurde und ich keine andere Wahl hatte, würde ich echt nur ungern zugeben.„Vajkan, der Kutscher, hat mich hergebracht. Kennen Sie ihn?"
„Vajkan,sagst du?" Gedankenversunken kratze er sich am Hinterkopf, bis sich sein Blick wieder erhellte, „Sasche! Natürlich doch! Lange ich kenne ihn. Zwanzig Jahr! Dreißig! Damals, waren wir shassi äzosha li, wie sagt man das: Freunde fürs Leben." Erleichtert nickte ich, „Oh ja, gute Kerl, der Vajkan. Gutmütig, warmherzig. Perfectio! Unzertrennlich waren wir, sage ich dir. Unzertrennlich! Leider war die Schicksal nicht allzu gnädig mit ihm, grauenvoll sogar. Und jetzt? Gesund, der Gute?"
Seine letzte Frage holte mich ruckartig aus dem Zustand „entspannen und zuhören". Zig unterschiedliche Antworten flogen mir durch den Kopf, doch keine davon war gut genug und die Wahrheit zu sagen traute ich mich einfach nicht. Wer wusste, vielleicht würde Nai Fortis dann zu enttäuscht sein, um mich in der Academy aufzunehmen? Sowas könnte mein Ende bedeuten.
„Oh, ja. Ich denke schon", wagte ich mir endlich über die Lippen, „Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er kerngesund" Das war sogar die pure Wahrheit gewesen. Ich hatte ihn nur schreien hören, aber nicht sterben sehen. Zum Glück.
„Ideallio! Freut mich sehr, die schöne Nachricht, wirklich toll! Und nun? Wo sind wir stehen geblieben? Sasche, ach ja, wo du hin musst, ohne die Gabe. Welche Fakultät, nu? Zurück schicken geht nicht. Diese Portal arbeitet nur eine Richtung."
Ich warf dem Spiegel, der immer noch rechts von mir an der Wand hing, einen skeptischen Seitenblick zu. Der silberne Glanz, dieselben Steine und Verzierungen am Rahmen ... all das war mir schon bekannt. Doch dieser Spiegel war ganz anders als sein Zwilling. Dieses Portal hatte keinen geringsten Einfluss auf mich. Er war harm- und machtlos.
„Nai Fortis ..."
„Oh, nein! Keine Förmlichkeiten mehr. Du kennst den Vajkan, also auch wir sind Freunde, ja! Nenne mich einfach Yaak. Kein Nai. Shieq!"
„Na gut, Yaak. Könnte es denn passieren, dass die Flames sich mithilfe des Spiegels hierher teleportieren?", fragte ich aufgeregt und hielt die Luft an. Die Antwort auf die Frage würde für mich lebenswichtig sein.
„Nein! Ein Wave-Spiegel ist das. Uralt! Nicht für Leute mit Feuer Gabe!"
„Gut. Was ist jetzt mit der Fakultät?"
„Eine Magierin, das spüre ich in dir. " Dieser Fakt ließ mich unbeeindruckt. Schließlich waren meine Eltern beide Wave-Magier gewesen, ich musste also die Gabe geerbt haben.
„Allerdings" Er hob betonend sein Finger in die Luft, „Ist deine Kraft anders. Viel intensiv, ich muss sagen, und ... grob." Verlegen kniff ich die Augenbrauen zusammen.
„Komme ich jetzt in die Magier-Fakultät oder ...?"
„Nein." Verärgert biss ich mir auf die Unterlippe, während Yaak weiterhin die richtigen Worte suchte, „Ohne Gabe kein gewöhnliche Fakultät erlaubt. Du kannst nur zu Fakultät der Absonderlichen. Viele nette Schüler dort, wird dir gefallen."
Bitte was? Es gab doch nur vier Fakultäten: der Wave-Magier, der Artefaktoren, der Gestaltwandler und der Heiler. Von den Absonderlichen hörte ich das allererste Mal!
„Habe ich keine andere Wahl?", vergewisserte ich mich vorsichtig.
„Shieq, Mädchen. Tut mir leid. Erst, wenn sich die Kraft zeigt, kannst du zu den Mageria wechseln."
Also wenn ich das richtig verstanden hatte und „Mageria" tatsächlich „Magier" bedeuten sollte, musste ich also einfach nur abwarten, bis sich meine Gabe zeigte?
„Ich bin einverstanden"
„Perfectio, sehr schön! Und jetzt — Wui shasharima sel? Was ist deine Name, junge Lady?"
„Ich ..." Weiter kam ich nicht mehr, da die Tür mit einem Ruck aufschlug. Ein schlankes Mädchen, etwa in meinem Alter, stand schwer atmend an der Tür.
„Onkel! Hast du Skelett in Fluren gesehen, nu? Naia Armilla ist wieder vosshema, verzweifelt. Braucht Hilfe, sagt sie. Von dir, Onkel". Neugierig zog ich sie mehr in Betracht. Gewellte, zu einem hohen Zopf geflochtene rote Haare, kleine blaue Augen, leichter Akzent — alles sprach dafür, dass es sich hier um eine Fortis handelte. Sie besaß ein ganz kleines sommersprossiges Puppengesicht mit einer spitzen Nase und eine wendige, hastige Art sich zu bewegen. Wenn ich die Fortis ansah, kamen in mir Erinnerungen an das Märchen von dem kleinen Flink auf — einem winzigen Waldtier, welches sich nie von Jägern erwischen ließ und sich jedes Mal schlauer als sie erwies.
„Ah, Soraya! Arialtisharo! Lange dich nicht gesehen!" Ich lenkte meinen Blick wieder auf Yaak, der offen und fröhlich grinste und erwischte mich dabei, wie auch meine Mundwinkel kurz in die Höhe zuckten. Yaaks Lächeln war nun einmal verdammt ansteckend, „Naia Armilla schafft schon allein. Keine Zeit für Skelette, weißt du? Habe hier, hm, wie nochmal ist deine Name?"
„Ayla Mare", fasste ich mich kurz und sah vorsichtig zu der rothaarigen Flink. Diese schmunzelte leicht und streifte sich eine Strähne aus dem Gesicht, welche an ihrer durchgeschwitzten Stirn geklebt hatte.
„Perfectio! Die Ayla habe ich hier. Shashie zhu ävi eshupi shire?"
Danach folgte ein echt komplizierter Dialog zwischen Flink und Yaak, welchen ich erst gar nicht zu verstehen versuchte. Schasanisch war eine komplette Reptiliensprache, da sie fast ganz nur aus Zischgeräuschen bestand. In Zareya wurde sie jedoch nicht selten gesprochen, da viele Zareyaner aus Schasan, einer großen Stadt im Süden, stammten.
„Ayla, hörst du? Meine Nichte zeigt, wo wirst du wohnen. Nettes Häuschen, ist es. Sehr schick! Sasche, nicht vergessen — ich schicke Sachen, die du brauchst in deine Zimmer. Uniform und Stundenplan, alles schicke dir!" Bescheiden bedankte ich mich und folgte Flink zum Ausgang.
In meinem Inneren war die Hölle los. Ich mochte es, meine Gefühle genaustens zu analysieren, um mich selber zu verstehen, doch seit Kurzem konnte ich meine Empfindungen gar nicht mehr nachvollziehen. Leere und absolutes Chaos wechselten sich in einer mir unbekannten Reihenfolgen ab. Sie waren Synonyme und Gegensätze zugleich und ließen sich nicht kontrollieren, was mich am meisten ärgerte.
„Ayla? Shisse. Noch etwas.", stoppte mich der Direktor, bevor ich die Tür geschlossen hatte.
„Ja?" Fragend blickte ich zu Yaak, der wieder an seinem Schreibtisch saß und etwas in seinem Heft schrieb.
„Asshemashu sushra soche - alles wird sich zum Guten wenden. Wunden heilen, auch im Herz. Und nun — bis bald", folgte nach einer kurzen Schweigepause.
„Bis bald", zuckte ich mit den Schultern, bis ich das Gesprochene gänzlich realisierte. „Alles wird sich zum Guten wenden" — hatte das nicht Vajkan gesagt bevor er ... Ich presste erschrocken die Lippen zusammen. Schwachsinn. Nai Fortis konnte das doch gar nicht wissen.
„Ist etwas?", meldete sich Flink ungeduldig auf der Stelle tappend, nachdem ich endlich die Tür abgeschlossen hatte und mich in einem langen, mit Licht gefülltem Flur wiedergefunden hatte.
„Nein, alles gut."
„Sicher? Siehst schrecklich aus! Blass am ganzen Gesicht bist du, wie eine Gespenst!" Richtig nett. Danke auch.
„Gehen wir, nu?" Ich nickte und folgte Flink durch die Flure. Obgleich „folgen" nicht so ganz passte. Ich musste fast rennen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Flink hingegen flog mühelos durch die Gänge, nur der feuerrote Zopf wehte zurück, wie ein kleiner Feuerpfeil.
Dabei schaffte Flink es irgendwie noch, mir die ganzen aktuellen Informationen zu erzählen. Das meiste davon war total unwichtig, doch ein paar der Sachen merkte ich mir. Zum Beispiel, dass es bis jetzt insgesamt nur vier Absonderlichen gegeben hatte und sie hier anscheinend als hoffnungslose Fälle galten, weshalb sie allein in einem kleinen Haus außerhalb der Academy leben mussten. Nein, Flink wollte mich nicht ernüchtern, das wusste ich. Sie war nur verdammt ehrlich von Natur aus und konnte einfach nicht wissen, dass es die anderen vielleicht falsch verstehen konnten.
Überraschanderweise waren die endlosen Fluren leer gewesen, was mich zum Teil auch beunruhigte. Mir schien, als würde die Academy trotz ihrer Beleuchtung und der riesigen Fenster ein Käfig sein oder ein grausamer schlafender Drache, der nur einmal in hundert Jahr' aufwachte, um sich ein neues Opfer zu schnappen und wieder im langen Schlaf zu verfallen.
Draußen aber herrschte zweifellos das Leben. Kleine Vögel tanzten im frischen Wind, welcher die Baumkronen zum Wiegen brachte. Die Sonnenstrahlen erleuchteten ihre auch ohnehin gelben Blätter und ließen sie gar aus Gold gestrickt wirken. Dieses magisches Licht küsste meine Haut, so behutsam wie noch niemand zuvor und ich streckte mich ihm entgegen, vertraute dieser hellen Magie. Wie ein mächtiger Zauber verdrängte sie meine Sorgen und jagte die letzten Ängste fort. Meine Lungen füllten sich mit der Luft und nahmen mit jedem Atemzug auch noch mein Entsetzen. Das alles, das war eine pure Harmonie. Das war Frieden. Das war das, was ich jetzt so sehr brauchte.
„Fuzshu! - Du bist langsam! Komm schon, kleine Gespenst!", rief mir Flink zu und verschwand hinter den Büschen. Das war aber gerade vollkommen überflüssig. Früher, wagte es niemand im Haus mich so zu beleidigen. „Kleine Gespenst"! Einfach nur unfassbar! Und egal, dass ich für die junge Soraya Fortis auch einen Spitznamen ausgedacht hatte, das war was ganz anderes! Schließlich hatte ich ihn ihr noch nicht verraten und außerdem war ich die zukünftige Gräfin ... gewesen. Jetzt war ich tatsächlich niemand mehr. Trotzdem änderte das nichts an meinem Stolz!
Genervt folgte ich Flink durch die Gebüsche. Ich werde nie mehr mit ihr reden, das war ganz sicher. Sie würde sich lange entschuldigen müssen, um das wiedergutzumachen.
„Und da sind wir. Haus von Absonderlichen", mit einer Handbewegung deutete die Fortis auf einHolzhäuschen, das in der Näher des Waldrandes stand. Vor Schreck weiteten sich meine Augen. Das Haus, es war ... hässlich. Was hatte da Yaak gesagt, „sehr schick"? Das war wohl die Übertreibung des Jahrhunderts gewesen.
„Wann wurde hier das letzte Mal renoviert?", fragte ich ein wenig frustriert. Mein Entschluss Flink zu ignorieren schien mir jetzt wie etwas ganz kleines und unwichtiges zu sein.
„Shieq. Gar nicht renoviert. Aber schöne Haus, wie ich finde. Und du?" Ich schluckte und nickte stumm. Sah nicht so aus, als würde sich Flink über mich lustig machen, zumindest ihrer Stimme nach. Sie legte ihren Kopf schief und musterte das alte Gebäude .
Wie ich auf den ersten Blick erkennen konnte, war mein neues Zuhause aus dem billigsten Holz gemacht worden. Überall, an dem Dach und Wänden klebte Moos, die kleinen Fenster standen kahl, ohne jeglicher Vorhänge, was das Bauwerk leblos und verlassen wirken ließ. Das, was mich aber am meisten bestürzte, war der Fakt, dass dieses Häuschen mindestens fünfmal in mein altes Zuhause passen würde. Wie ich in diesem Moment mein vorheriges Zimmer in Zamis vermisste! Wie glücklich ich doch damals gewesen sein musste, warum hatte ich mir denn deswegen noch nie Gedanken gemacht?
„Gehst du, nu?"
„Ja, danke dir ... wir sehen uns."
„Sasche!" In einer Sekunde war Flink auch schon auf und davon, während ich mich mit rasendem Herzen dem Haus näherte.
Nach zwei Klopfern hatte sich immer noch niemand die Mühe gemacht, mir die Tür zu öffnen. Verbissen stand ich nun albern da und hatte keine Ahnung, was zu tun war. Doch wovor hatte ich wieder Angst? Was hielt mich zurück? Ich trat energisch gegen die Tür, was einen hellenden lauten Laut hervorbrachte. Die Tür öffnete sich von selbst, ohne nur einen leisesten Ton von sich zu geben.
Zweifelnd trat ich ein.
Das Erste, was ich zu sehen bekam, waren dicke Kratzspuren an der grau gestrichenen Wand.
𑁍 𑁍 𑁍
*Nai/Naia — Personen in Zareya werden anstatt mit Herr/Frau mit Nai/Naia angeredet.
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