✩ Kapitel 11 ✩
„Was ist los, nu? Mary ist schon längst gegangen und du bist immer noch ganz vosschema" Flink setzte sich auf den freien Stuhl daneben und versuchte mit mir ins Gespräch zu kommen, anstatt einmal leise zu sein und sich um ihr Essen zu kümmern.
„Ich bin verzweifelt, sagst du? Das ist doch Quatsch!", schnaubte ich, „ ich vermisse Mary, das bestreite ich nicht, aber so richtige Sorgen mache ich mir nicht mehr darüber." Misstrauisch kniff Flink ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Sie glaubte mir kein Wort. Verständlich. Ich würde mir auch nie etwas glauben.
„Du musst dich ein wenig ausruhen, kleine Gespenst. Gehe spazieren im Wald oder fahre zur „Höhle". Die kennst du doch bestimmt, oder nicht? Jack ist u ideallie Gastgeber", schlug Flink gelassen vor und wendete sich endlich ihrem Essen zu.
„Dafür habe ich leider keine Zeit. Du weißt schon - ich muss üben."
Missgelaunt rührte ich meine Suppe um und versuchte wieder etwas zu essen, doch von meinem Appetit war schon nichts mehr übrig geblieben.
„Nichts üben! Du kannst nicht immer vor der Kerze sitzen und hoffen, dass deine Gabe irgendwann kommt. Zheshe - das ist schrecklich! Du musst endlich leben. Leben, wie eine Mensch!"
𑁍 𑁍 𑁍
Nach dem Mittagessen machte ich mich auf den Weg zum nächsten Unterrichtsraum. Mein Kopf war leergefegt. Kein Gedanke oder Gefühl verbarg sich noch darin, nur die ätzende Gleichgültigkeit.
Mir war egal, wie es weiterging, da mein jämmerliches Leben nun viel mehr einer Existenz glich. So sehr hätte ich mir gewünscht, wieder in die Vergangenheit zurückzukehren. Wieder zu meinen verräterischen Eltern und den fragwürdigen Freunden, die mich nur aufgrund des Geldes mochten, zurückzukommen. Wieder die Augen auf die reale brutale Welt zu schließen und mit meinem früheren kummerlosen Weltbild weiterzuleben. Manchmal war es einfach besser, Lügen für die Wahrheit zu halten, anstatt sich Tag für Tag durch jede Sekunde zu quälen.
„Ayla? Warte mal kurz" Jemand fasste mich an der Schulter und brachte damit zum Stehen, „Können wir reden? Es wird nicht lange dauern."
Ich drehte mich um und sah Mary. Zwar hatten wir uns nur seit wenigen Tagen nicht gesehen und doch wirkte sie so anders. So fremd. Als wäre diese Mary mit dem Wandler-Wappen auf der Brust eine ganz andere Person, als unsere genervte und doch so vertraute Mary.
„Ja. Ist etwas passiert?"
Nur die Götter wussten, wie es mir gelungen war, die Ruhe in der Stimme zu behalten. Ich wollte Mary um den Hals fallen und mich gleichzeitig heulend an einem sicheren Rückzugsort verstecken.
Ich hatte die Angst, dass Mary mir jede Zeit die Frage, wieso ich nicht zu ihrer Prüfung gekommen war, stellen würde. Die Sache war nämlich die, dass ich keine vernünftige Antwort darauf hatte. Keine Lüge würde je mein Fehler rechtfertigen oder wiedergutmachen können.
Vielleicht hatte ich ja das Versprechen nicht mit Absicht gebrochen, aber dafür vergessen, dass ich es überhaupt gegeben hatte. Hier musste man sich jedoch noch Gedanken machen, was davon schlimmer war ...
Beschämt versuchte ich Marys Blick auszuweichen. Wenn sie wüsste, was ich getan hatte, würde sie wahrscheinlich nie wieder mit mir reden wollen. Statt pünktlich am Stadion zu sein, hatte ich nämlich einen völlig unbekannten Typen gedatet. Ich Idiotin.
„So kann man es sagen. Du weißt ja noch die Sache mit dem Artefakt, welche Kyan so verrückt gemacht hat?" Bevor ich schließlich ein Nicken von mir gab, biss ich mir fassungslos auf die Unterlippe. Das Thema kam recht unerwartet.
„Gestern nach der Pause bin ich hingegangen. Zu diesem einen verschlossenen Raum, meine ich. Ich wollte mich kurz vergewissern, dass Kyan sich alles nur eingebildet hat. Und da war so ein Schlüsselloch in der Tür, ein ganz kleines. Ich musste lange rumprobieren, bis ich mich in ein Insekt, das winzig genug war, verwandelt habe."
„Du bist ernsthaft da rein gegangen? Ist das nicht verboten? Wer bist du und was hast du mit Mary gemacht?", murmelte ich vor mich hin. Den Fakt, dass sich die Gestaltwandlerin getraut hatte und sich überhaupt noch an Kyans Fantasien erinnerte, konnte mein Verstand einfach nicht akzeptieren. „Nun sag schon endlich - was war da?"
„Psst, rede leiser", ermahnte mich Mary, sah sich hastig im leeren Gang um und fuhr dann im Flüsterton fort, „Es war ein Spiegel. Ein Flame-Spiegel. So ein starkes Feuer-Artefakt ist zu gefährlich, um sich in der Schule zu befinden. Ich befürchte, jemand hat es heimlich hergebracht, ein Verräter. Ich wollte gestern direkt Nai Fortis Bescheid geben, aber da dachte ich mir, dass du es für mich übernehmen könntest. Du hast ja sowieso Einzelunterricht mit ihm."
„Okay, ich werde morgen mit Nai Fortis reden", gab ich nach einer kurzen Überlegung nach. Nie im Leben hätte ich das gemacht, wäre da nicht das Schuldgefühl zu Mary.
„Danke dir. Wirklich vielen Dank. Hätte nicht gedacht, dass du das für mich machst."
„Ach was, das Portal kann ja gefährlich für alle werden. Außerdem sind wir ja Freundinnen", meinte ich und erschreckte mich sofort vor meiner plötzlichen Kühnheit. Falls heute aber ein besonderer Tag sein sollte, wollte ich dann aber komplett ehrlich sein. Also traute ich mich, „Mary? Bevor du gehst — ich wollte mich noch entschuldigen."
„Du?" Mary riss überrascht die Augen auf „Hätte ich nicht von dir erwartet."
„Die Academy hat mich verändert."
„Nicht nur dich. Es geht uns allen so."
Mit diesen Worten verschwand Mary aus meinem Sichtfeld. Mit ihr ging meine Entschlossenheit. Ob es wirklich so eine gute Idee war, mit Yaak zu reden? Einerseits blieb mir nichts anderes übrig — ich hatte Mary schon ein Versprechen gegeben und dieses werde ich auf gar kein Fall nochmal brechen dürfen. Zudem könnte sich wirklich ein Verräter in der Schule aufhalten, wovon der Direktor unbedingt wissen sollte. Aber andererseits ...
Was, wenn er mich fragen würde, woher ich überhaupt etwas von dem verdammten Portal wusste? Ich konnte doch nicht eiskalt zugeben, dass Kyan und Mary auf dem verbotenen Flur gewesen waren! Wo habe ich mich da nur eingelassen?
Voller Zweifel, der mich beinahe erwürgte, machte ich kehrt und verließ in wenigen Minuten schließlich das Schulgebäude. Eigentlich hätte ich heute noch Geschichte, doch war zu erschöpft, um die Stunde zu besuchen.
Flink hatte recht gehabt. Ich brauchte Entspannung. Vielleicht war der Vorschlag mit „Jacks Höhle" also doch gar nicht so übel?
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