026. Der Geist der Weihnacht
𝓉𝒽𝒾𝓈 𝓅𝓁𝒶𝒸ℯ,𝒾𝓉'𝓈 𝒸𝓊𝓇𝓈ℯ𝒹
Mrs. Pettigrew war eine rundliche Frau mit einem liebenswerten und fülligen Gesicht, die Peter bei dessen Ankunft am Bahnhof so fest gedrückt hatte, dass es Euphemia Potters Umarmung beinahe hatte blass aussehen lassen. Doch schon in dem Moment, als Peter die Schwelle der kleinen Wohnungstür überschritten hatte, war ihm jegliche Freude, Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen, aus dem Gesicht gewichen.
Die Zwillinge, Wilma und Simon, setzten gerade die Sternspitze auf den fertig geschmückten Baum und grinsten ihm mit ihren neuen Zahnlücken frech entgegen, als Peter überrumpelt feststellen musste, dass das ganze Haus schon festlich geschmückt worden war.
Überall hingen Christbaumkugeln und kleine Sterne, seine Geschwister hatten ohne ihn die Fenster mit Schneeflocken bemalt, Tannenäste in der gesamten Wohnung verteilt und Mistelzweige über die Türrahmen und an die Lampen gehängt. Die Heizungsrohre war mit einer dicken Lamettagirlande geschmückt und unter dem Fernseher hingen schon die Weihnachtsstrümpfe.
Es war ein Winterwunderland.
Und Peter drehte sich der Magen um.
»Ihr habt alles allein geschmückt?«, fragte er seine Mutter kleinlaut, welche ihm bloß herzlich zuzwinkerte und ihm in die Wangen kniff.
»Aber natürlich, Petey! Du würdest nach Hause kommen und alles sollte perfekt sein. Wilma und Simon haben mir so tatkräftig geholfen. Du musst wissen, es war ihre Idee, dich hiermit zu überraschen. Das hast du den beiden zu verdanken.«
Überglücklich, dass die Überraschung gelungen schien - Mrs. Pettigrew glaubte, Peters Sprachlosigkeit rühre allein von schierer Dankbarkeit her und nicht, weil er zwanghaft versuchte, die Tränen zurück zu kämpfen -, drückte sie ihren Sohn an sich und daraufhin ihre anderen beiden Kinder. »Ach Petey, ich bin so froh, dich wieder zu Hause zu haben! Warte nur, bis dein Vater kommt, Liebes - er hat dich genauso vermisst!«
Mrs. Pettigrew verschwand in der Küche und Wilma stieg von Simons Schultern, den Schabernack geschrieben in beide ihrer Gesichter.
»Gefällt dir die Wohnung, Petey?«, fragte Wilma zuckersüß, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, tänzelte sie in ihrem weinroten Samtkleid und der weißen Strumpfhose auf ihn zu. Das Zucken ihrer Mundwinkel verriet sie, sie hätte auch eine 666 auf der Stirn tragen können.
Simon lachte: »Es hat nicht einen einzigen Nachmittag gebraucht, Mum und Dad zu überzeugen, dass wir dich hiermit bei deiner Rückkehr überraschen könnten. Wir wussten ja, wie sehr du dich darüber freuen würdest...«
Er griff sich einen der großen Schokoladenriegel, die in einer Schüssel auf dem Kaffeetisch standen, und schob ihn sich zwischen die Zähne. Kauend stellte er sich neben seine Zwillingsschwester.
Peters Hände begannen zu zittern. Ein brennendes Ziehen tobte in seiner Magengegend. Wie gerne hätte er Simon die Schokolade aus der Hand gerissen.
Sich die Tränen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen wollten, nicht eingestehend (er würde es den Zwillingen nicht auch noch gönnen, vor ihnen zu heulen), biss Peter sich auf die Unterlippe und deutete durch das Zimmer.
»Ihr wisst, wie gerne ich beim Schmücken helfe. Das haben wir immer zusammen gemacht.«
»Oh Petey, das wussten wir gar nicht!«, Wilma sah ihn aus großen Augen an. »Wir dachten eigentlich, die Bewegung wäre nichts für dich.« Mit einem Grinsen vollführte sie einen Knicks und hüpfte um ihn herum.
»Du warst so lange weg«, meinte Simon bitter, »wir haben das wohl vergessen... nächstes Jahr wieder.« Lässig zuckte er mit den Schultern, doch einen Moment, einen winzig kleinen Moment glaubte Peter so etwas wie Wut in Simons Augen aufblitzen zu sehen, dann blinzelte er und die Zwillinge lachten und feixten wieder.
Dass Simon und Wilma alles daran setzten, ihren großen Bruder dazu zu bringen, die Fassung zu verlieren, war nichts Neues. So wie sie auch immer großen Wert darauf legten, ihn bei jeder Gelegenheit zu demütigen, doch nie hatte Peter sich ihnen so gegenübergesellt gefunden. Nie waren sie so offen feindselig gewesen, wenn ihre Mutter nur ein Zimmer weiter ein Festessen zubereitete und jeden Augenblick durch die Tür spazieren konnte.
Irgendwie hatte Peter wohl einfach gehofft, dass die Streitereien, die schlechten Witze und Streiche auf seine Kosten, die Hänseleien und das Provozieren mit seinem Fortgang nach Hogwarts ein Ende finden würden. Er hatte gehofft, dass Wilma und Simon ihn - vielleicht nicht vermisst haben, aber schon - fröhlich Willkommen heißen würden, dass sie ein paar schöne Tage miteinander verbringen könnten, bevor er wieder zurück musste.
Er hatte nicht geglaubt, dass es schlimmer werden könnte.
»Ihr habt das mit Absicht gemacht«, raunte Peter.
»Gar nicht wahr!«, protestierte Simon in eben jenem Moment, in dem Wilma »Wie willst du das beweisen?« flötete.
Peter war für gewöhnlich kein Freund von Konfrontationen, er ging Konflikten aus dem Weg, ließ die anderen einfach machen und kehrte am Schluss das, was noch übrig war, einfach wieder zusammen. Er wehrte sich nicht, nie...
Doch etwas an dem Frust, die letzten Tage schon allein gewesen zu sein und sich nun in seinem eigenen zu Hause noch schlechter zu fühlen, ließ ihn durchdrehen.
So wie Sirius und James den Verstand verloren hatten, konnte Peter sich nun selbst als absolut wahnsinnig bezeichnen. Erschrocken von dem Ausdruck in seinen Augen sprangen Wilma und Simon aus dem Weg, als er einfach losrannte - zu ihrem Glück. Statt gegen die beiden prallte er mit seinem gesamten Gewicht gegen den Weihnachtsbaum.
Für einen Moment war es vollkommen still... dann brach die Hölle los.
Der Baum fiel, Tannennadeln verteilten sich überall im Zimmer, die Christbaumkugeln zersprangen und platzten, verteilten die hauchdünnen Glas- und Keramikstücke auf dem Boden, Lametta flog durch die Luft und die Kabel der Lichterketten rissen aus den Steckdosen.
Es tat einen Schlag und Wilma und Simon schrien.
Peter rollte vom Baum herunter. Tannengrün säumte seine Kleidung und eine Schnittwunde oberhalb seiner Augenbraue blutete. Mit hochrotem Kopf sah er sich plötzlich seiner Mutter gegenüber, die wegen des Krachs aus der Küche gestürmt gekommen war.
Sie sah zwischen ihren Kindern hin und her.
In eben jenem Moment öffnete sich natürlich auch die Haustür.
Mr. Pettigrew war von der Arbeit zurückgekehrt und unwissend in dieses Chaos gestolpert.
Recht klein und nicht wirklich schlank, mit schütterem Haar und wässrigen Augen, sah er seinem ältesten Sohn sehr ähnlich. Erschrocken stolperte er zwei Schritte zurück ins Treppenhaus, als er die Lage endlich erfasst hatte - er versuchte sichtlich die Fassung zu wahren, nickte bloß und warf seiner Frau einen bedeutungsschweren Blick zu, dann wandte er sich, ohne die Schuhe abzustreifen oder den Mantel abzulegen, dem langen Flur zu.
»Ich bin in meinem Studierzimmer«, war alles, was er sagte. Und mit dem Knallen seiner Bürotür war das auch das Letzte, was Peter von seinem Vater über die Feiertage zu hören bekommen würde...
Die folgende Stille blieb nicht lange ungenutzt. Wilma setzte alles auf eine Karte und präsentierte ihr verheultes Gesicht, Simon spielte mit.
»Peter hat unseren Baum kaputt gemacht!« Sie deuteten auf die Zerstörung. »Alles für ihn... wieso Petey? Du bist so undankbar!«
»Wir haben das nur für dich gemacht!«, ergänze Simon, auch er kämpfte mit den Tränen.
Peter rappelte sich auf, noch immer eine schuldbewusste Miene im Gesicht. »Das war nur euretwegen! Wenn ihr nicht-«
Mrs. Pettigrew hob drohend den Kochlöffel, den sie noch in der Hand hielt. »Wag es nicht, deinen Geschwistern die Schuld in die Schuhe zu schieben!«
Peter zuckte zurück.
»Wilma und Simon wollten dir eine Freude bereiten! Wo ist der anständige Junge, den wir erzogen haben?«
Beschämt schüttelte er den Kopf, seine Mutter ließ den Kochlöffel sinken, enttäuscht blickte sie ihren Sohn durchdringend an. »Wieso, Peter?«
Er hatte keine Antwort darauf, die sie hören wollte.
»Ab in eure Zimmer...«, hauchte Mrs. Pettigrew. Mit ihrem Zauberstab begann sie das Durcheinander so gut es eben ging wieder zu richten.
Peter hätte sich nicht schlechter fühlen können. Wilma und Simon grinsten.
Das konnten ja nur tolle Ferien werden...
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08:27.
08:31.
08:46.
Es fühlte sich an, als wären schon Stunden seit seinem Aufwachen vergangen, dabei strichen die Sekunden so kläglich vorbei, als würden sich die Zeiger durch Honig hindurch kämpfen und mit jedem Tick langsamer werden.
Allein in seinem Zimmer wartete Peter auf die untergehende Sonne, dabei war sie vor wenigen Minuten erst gänzlich aufgegangen.
Der Zug zurück nach Hogwarts konnte nicht früh genug kommen und seine Vorfreude auf Weihnachten war verflogen.
Seine Mutter war enttäuscht, sein Vater bequemte sich nicht aus seinem Büro und Simon und Wilma tobten draußen auf dem Rasen im Schnee und waren so glücklich, dass es Peter den Magen umdrehte.
Beim Frühstück hatte er nicht einen Bissen hinunterbekommen und nun er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich aus dieser Wohnung zu verschwinden.
So sehr er sich auch gefreut hatte, hier zu sein, so sehr verabscheute er jetzt jeden wachen Augenblick.
Wenn Theodore, sein letzten Sommer verstorbenes Meerschweinchen, doch noch immer hier wäre, dann hätte Peter wenigstens einen Freund in diesem Haus gehabt, der sich über seine Anwesenheit freuen würde, doch der Käfig und das Laufrad standen nur noch unbenutzt in der Ecke seines Zimmers und dienten bloß dem Staub, der sich auf ihnen niederlassen konnte und eine kleine Decke bildete.
Der Nager war an Einsamkeit gestorben, das hatte der Tierarzt gesagt und Peter und seine Eltern über artgerechte Haltung belehrt, während sie noch in Trauer waren.
Artgerechte Haltung... pff - Peter rollte noch immer mit den Augen, wenn er an den Mann im weißen Kittel dachte, wie der ihn zurechtgewiesen hatte.
Peter würde auch an Einsamkeit sterben, wenn sich nicht bald etwas ändern würde...
Wie kannst du so etwas nur denken!, rief James' Stimme tadelnd in seinem Kopf. Der Arzt hatte recht und du verhältst dich-
Peter schüttelte den Kopf. Er würde sich nicht von einer von seinem Unterbewusstsein imaginierten Version von James' zurechtweisen lassen, wenn der echte James zwei Wochen lang fast kein Wort mit ihm gewechselt hatte, nur weil er wegen Sirius deprimiert gewesen war.
Also waren Wollmäuse die einzige Gesellschaft, die Peter im Augenblick blieb.
Konnte es etwas Kläglicheres geben?
08:52.
Tief seufzend warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster. Simon lachte lauthals über etwas, das Wilma gesagt hatte und bewarf sie mit einem Schneeball.
Peter zog einen Pergamentbogen und eins der Bücher für seinen Aufsatz in Verteidigung gegen die Dunklen Künste hervor, kuschelte sich tiefer mit dem Rücken in die Kissen und machte seine Schreibfeder bereit.
Tinte tropfte auf das Papier...
Seit Wochen und Monaten zermarterte Peter sich das Hirn über ein geeignetes Thema. Und als er zu Halloween geglaubt hatte, in der Heulenden Hütte endlich ein perfektes Subjekt gefunden zu haben, hatte Sirius es ihm vor der Nase weggeschnappt - wortwörtlich.
Nun, wo sie nicht mehr miteinander befreundet waren, wäre es da so verwerflich, wenn er doch darüber schrieb? Der Schrecken Hogsmeades...
Von Draußen dröhnte ein weiteres Kichern zu ihm herein und sein Blick fiel auf die weiteren Häuser im Ort, die zwölfte und dreizehnte Straße hinauf, bis sie an einem alten Haus hängen blieben, das am Ende einer Kreuzung auf einer kleinen Hochlage stand.
Verwittert, bewachsen, zerstört. Heimgesucht.
08:58...
08:59...
Er setzte die Feder auf das Pergament und schrieb: Das Gambol-Haus; packte seine Sachen und verschwand aus der Tür.
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Es waren über zwei Jahre vergangen, seit Peter das letzte Mal am Ende der dreizehnten Straße gestanden, und mit Ehrfurcht und reinster Panik zu dem alten Haus hinaufgeblickt hatte.
Nach dem Halloween Streich von '69 hatte er immer einen besonders großen Bogen um diesen Teil der Stadt gemacht, heute hielt er direkt darauf zu.
Er würde sich seiner Angst stellen, er würde den besten Aufsatz schreiben, den Professor Thorburn jemals gelesen hatte und er würde Simon und Wilma ein für allemal beweisen, dass er kein jämmerlicher Feigling war, der vor der kleinsten Gefahr davonlief wie ein verschrecktes Nagetier.
Kalter Wind brauste um Peters gerötete Pausbacken, als er den Schal enger zog und die Finger in den Handschuhen spreizte. Sein Zauberstab steckte in seiner Hosentasche (nur zur Sicherheit), der Pergamentbogen im Hosenbund. Er war bereit.
»Nur keine Panik«, flüsterte er sich selbst zu und setzte seinen Fuß auf die morsche Treppe der Veranda.
Kinderlachen ertönte und Peter riss den Kopf herum.
Erleichtert atmete er aus, es waren nur zwei Mädchen, die mit Geschenkpapierrollen in den Händen zu Fechten schienen.
Über sich selbst lachend, wandte sich Peter wieder dem verlassenen Haus zu, nur um erneut innezuhalten. Sein Puls beschleunigte und seine Handflächen begannen in den Fäustlingen zu schwitzen.
Die Eingangstür stand plötzlich offen.
»Nur keine Panik«, wiederholte Peter.
War die Tür schon die ganze Zeit offen gewesen? Hatte er sich vielleicht nur eingebildet, dass sie zugezogen war? Durch die zerbrochenen Fensterscheiben ragten Äste, Glas sprenkelte das Holz der Veranda und der eisige Wind brauste an diesem Wintermorgen mit ordentlicher Kraft.
Vielleicht war es der Durchzug gewesen, der die Tür aufgestoßen hatte. Still und Heimlich...
Er nahm Pergamentbogen und Feder zur Hand und begann sich Notizen zu machen. Beschrieb den Verfall, die Ruine selbst, die Natur, die sich krampfhaft dieses Stückchen Land zurückzuholen versuchte.
Dann sammelte er all seinen Mut zusammen und trat über die Schwelle.
Mit dem ersten Atemzug saugte den Dreck des letzten Jahrhunderts ein, er hustete und prustete, doch der Geschmack von Verwesung blieb.
»Lecker«, krächzte Peter, während er sich mit den Fingern über die Zunge kratzte und würgte.
Möbel standen kaum noch welche im Haus, es war vor einigen Jahren von einem Unternehmen zur Hälfte leer geräumt worden, bevor die Möbelpacker panisch ihre Arbeit hatten liegen lassen und wie von der Tarantel gestochen verschwunden und nie zurückgekehrt waren.
Das, was von dem Mobiliar noch übrig geblieben war, lag begraben unter Staubschichten und Planen.
Ein altes Sofa, bei dessen Musterung Peter sich nicht sicher war, ob es gewollt oder eingetrocknete Flecken waren. Alte Lampenschirme lagen verteilt auf den Holzdielen, große verzierte Eichenschränke säumten die Wände des Wohnzimmers.
Der Boden unter seinen Füßen knarzte bei jedem Schritt, während er sich, die Hand aufgrund des Gestanks vor das Gesicht haltend, weiter vor bewegte.
Irgendwo in diesem Haus sollte ein Geist leben - er würde ihn finden, er würde wie mit dem Fast kopflosen Nick mit ihm sprechen, ihn interviewen und den besten Aufsatz des ganzen Jahrgangs abgeben.
Da würden James und die anderen gucken... nie würden sie ihm so etwas zutrauen, aber wenn er das hier konnte, dann konnte er auch James und Sirius ins Gewissen reden und sie zur Vernunft bringen, ihre Gruppe wäre wieder vereint und James würde endlich erkennen, was für einen tollen Freund er in Peter gefunden hatte, war für eine Nummer Eins da in ihm steckte...
Das, was einmal die Küche gewesen war, entpuppte sich bloß noch als gefliester Raum mit offenen Anschlüssen, die aus den Wänden ragten und einem kleinen Fenster, dessen Spitzengardinen man vergessen hatte, zu entfernen.
Von hier konnte man den Hintergarten beobachten, die kleine Kirche hinter den morschen Apfelbäumen.
Das Gambol Haus musste einmal ein wirklich schönes Familienhaus gewesen sein, nun war es der Albtraum dieser Stadt, ein Schandfleck und Heim aller Gruselgeschichten, die sich die Kinder im Ort nur hatten ausdenken können.
Aber das waren eben nur Geschichten.
Peter lachte laut. Wovor hatte er eigentlich so große Angst? Er war hier allein, es gab hier keinen Geist - es war ein altes, verlassenes Haus und kein Spukschloss.
Mit den Schuhen befreite er den Fliesenboden der einstigen Küche von den Wollmäusen und setzte sich mit dem Rücken gegen die sandgelb gemusterte Tapete, breitete das Pergament aus und begann seine Beobachtungen weiter zu dokumentieren.
Dann gab es hier eben keinen Geist. Na und?
Was hatte James noch gesagt? Irgendetwas über kreative Freiheit? Peter musste ja nicht lügen, er beschrieb einfach genau das, was sich seit Jahrzehnten schon über diesen Ort erzählt wurde.
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Besteck kratzte über das Porzellan, Gläser klirrten, während im Hintergrund leise das Muggelradio vor sich her musizierte und ein Weihnachtslied nach dem anderen ertönte. Gesprochen wurde nur wenig.
Präsentiert auf einer hübschen Anrichte stand der Festtruthahn, brutzelnd und braun, angerichtet mit bunten Salaten, Plumpudding und einer Vielzahl von Soßen.
Peter hatte nach wie vor keinen Hunger. Den ganzen Tag hatte er im alten Gambol-Haus verbracht und kein Geist war ihm erschienen, stattdessen hatte er einen passablen Aufsatz formuliert, der Professor Thorburn aus seinem magentafarbenen Umhang hauen würde.
Sobald er jedoch wieder in die Wohnung gekommen war, hatten Simon und Wilma schon auf ihn mit ihren Hänseleien gewartet, um ihm den nächsten Tag in Folge den Appetit zu ruinieren.
Unbeteiligt stocherte Peter also mit seiner Gabel im Essen herum, schob den Teller schlussendlich einfach von sich, ohne auch nur einen Bissen probiert zu haben. Er würde heute ganz sicher nichts herunterwürgen können.
Mrs. Pettigrew bemerkte davon nichts. Ihr Augenmerk galt dem leeren Stuhl an der Kopfseite des Tisches zu ihrer Linken.
Das Essen war vor etwas mehr als einer Stunde aufgetischt worden und Mr. Pettigrew saß noch immer in seinem Büro, machte keine Anstalten das Zimmer zu verlassen und sich zu seiner Familie zu gesellen.
Peter hätte gerne mit ihm getauscht.
Das war das Schöne an dem verlassenen Anwesen; die Ruhe, zu wissen, dass Wilma und Simon sich nie in seine Nähe trauen würden - oder ihn überhaupt dort vermuten würden; fernab von den verurteilenden Blicken seiner Eltern. Dort war er einfach Peter.
Und das war - wie Sirius sagen würde - verdammt fetzig!
Wilma und Simon tuschelten ihm gegenüber schon seit Beginn des Abends, immer wieder warfen sie ihm vorwurfsvolle Blicke zu und zogen hässliche Grimassen, um ihn zu veralbern. Was hatte er ihnen nur getan, dass sie ihren großen Bruder so erbarmungslos hassten?
Als sich Peter, ungeschickt wie er nun einmal war, mit der Bratensoße im Schoß bekleckert hatte, war Simon vor Lachen beinahe vom Stuhl gefallen und Wilma hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. Doch ihr Gelächter war in der kläglichen Stille, die den Raum erfüllte, schnell verebbt und sie hatten sich damit zufrieden gegeben, ihn nur noch im Stillen zu verachten.
Die Reste wurden abgeräumt und wie es die Tradition verlangte, versammelte sich die gesamte Familie Pettigrew - ohne Peters Vater - auf dem Sofa, um einen Weihnachtsklassiker zu schauen.
Die ersten Töne von Richard Williams Version von A Christmas Carol nach Charles Dickens erklangen, dann wurde das Bild unterbrochen.
Es rauschte einen Moment, das Bild kehrte zurück, doch statt dem Zeichentrickfilm flimmerte das Nachrichtenlogo auf.
»Was soll das?«, rief Simon aufgebracht.
»Ich wollte Scrooge sehen!«, jammerte Wilma.
Ernst blickte der Nachrichtensprecher in die Kamera, seine Haare zerzaust, als wäre er nicht vorbereitet gewesen, jetzt eine Aufnahme machen zu müssen.
»Eilmeldung!«, sagte er, die Stimme kratzig und belegt, »Ganze sechs Monate lang gab es keine Spur vom sogenannten Rattenfänger von London, wie ihn die Medien benannt hatten, nachdem die ersten Kinder verschwunden waren, doch vor etwa einer Stunde gab es neue Hinweise auf den möglichen Aufenthaltsort des Entführers, nachdem er«, der Sprecher stockte, »Nachdem der Sohn des britischen Premierministers heute Abend aus seinem eigenen Haus entführt worden ist. Jetzt meldet sich der Rattenfänger in einer Botschaft an die britische Krone und alle Bürgerinnen und Bürger dieses Königreiches...«
Ein Bild einer Hauswand wurde eingeblendet. Es brauchte Peter einige Sekunden, um zu realisieren, dass es sich um den Buckingham Palace handelte...
Auf die hellen Steine stand in roter Farbe - in Blut - geschrieben:
𝐈𝐜𝐡 𝐰𝐢𝐥𝐥 𝐞𝐮𝐜𝐡 𝐚𝐮𝐟 𝐊𝐧𝐢𝐞𝐧 𝐛𝐞𝐭𝐭𝐞𝐥𝐧 𝐬𝐞𝐡𝐞𝐧!
𝐎𝐝𝐞𝐫 𝐞𝐮𝐫𝐞 𝐊𝐢𝐧𝐝𝐞𝐫 𝐠𝐞𝐡𝐨̈𝐫𝐞𝐧 𝐦𝐢𝐫.
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Die Botschaft an Heiligabend hatte selbstverständlich alle tief getroffen.
Ausgangssperren wurden verhängt, Eltern ließen ihre Kinder kaum noch aus den Augen, geschweige denn das Haus verlassen.
Wilma und Simon verbrachten nun den ganzen Tag in ihrem Zimmer, spielten mit ihren Puppen und Spielautos und Peter verbrachte seine Zeit damit, so zu tun, als würde er genauso gehorsam in seinen vier Wänden bleiben, lesen und Hausaufgaben machen...
In Wirklichkeit schlich er jeden Morgen aus der Wohnung und jeden Abend wieder hinein, die Tage verbrachte er im alten Gambol-Haus, feilte an seinem Aufsatz und genoss die Ruhe.
Ohne die Zwillinge und ohne seine gehetzte Mutter, seinen abwesenden Vater, hatte Peter das Gefühl, endlich einmal durchatmen zu können - Staub hin oder her.
So auch heute, dem 31. Dezember.
Es war lustig, manchmal hatte er die wahnwitzige Vorstellung, dass sich die Möbelstücke über Nacht neu anordneten, wenn eine der bauchigen Tischlampen auf einmal auf dem linken Schrank stand, wenn er doch hätte schwören können, dass sie gestern noch rechts gegen die eingestaubten Bücher gelehnt hatte.
Seit ein paar Tagen flackerten hin und wieder die Lichter. Zunächst hatte sich Peter maßlos erschrocken, nun blendete er das Lichtspiel einfach aus.
Das Anwesen war eben alt, natürlich gab es ein paar Macken.
Wie immer saß er gegen die Wand gelehnt in der Küche, vorgestern hatte er sich eines der Sofakissen geholt, um es bequemer zu haben. Der Pergamentbogen lag ausrollt über seinen Beinen, die Schreibfeder klemmte ihm zwischen den Zähnen, während er überlegte, welche Gruselgeschichte er noch nicht in seinem Aufsatz erwähnt hatte.
Mittlerweile waren seine Zähne ganz blau durch die Tinte, doch ihm war das egal.
Die Lichter flackerten. Peter lächelte, es war ihm fast schon zu einer Melodie geworden, die er lieb gewonnen hatte... eine...
Da war eine echte Melodie.
Er runzelte die Stirn, erhob sich und stapfte über die knarzenden Holzdielen zurück ins Wohnzimmer, wo der Flügel stand.
Weiße und schwarze Tasten, die sich ohne menschliches Zutun herabsenkten und spielten... ein Lied, das Peter kannte.
Auld Lang Syne - Längst vergangene Zeit.
»Oh«, sagte Peter, seine Finger zogen sich enger um das Pergament zusammen. Natürlich gab es auch hierfür eine Erklärung... seine Knie schlotterten.
Wind kam auf, schlug eins der Fenster zu, zerbrach ein zweites. Die Schränke begannen zu wackeln, rüttelten gegeneinander und gegen die Wände - das Geschirr klirrte in den Vitrinen, der Flügel spielte schneller, härter.
Peter war wie erstarrt. Es gab hier keinen Geist, er war allein, er war wirklich allein! Aber...
Ein Gewicht legte sich auf seine Schulter wie eine Hand. Erschrocken riss er den Kopf herum, doch da war niemand. Nichts.
»N-n-n-nein! Ich bin al-lein!«, schrie er verzweifelt, stolperte zurück Richtung Eingang, blieb mit dem Fuß an einem Tischbein hängen und landete auf dem Holzboden. Er schluchzte und die Tränen fielen.
»Ich bin allein! Ich b- was ist das?!«
Grünlicher Rauch waberte um seine Knöchel, schlängelte sich seine Beine hinauf, er schüttelte ihn ab, rappelte sich auf und stürmte hinaus.
Nicht einen Blick warf er zurück, auch nicht, als er bemerkte, dass er Pergament und Feder verloren hatte. Es war egal.
Er schlug die Tür zu und rannte nach Hause.
Wäre er nicht so aufgelöst gewesen, wäre ihm womöglich aufgefallen, dass die Tür nicht mit einem Krachen ins Schloss fiel, stattdessen umgriff eine knochige Hand das Holz und streichelte mit den langgliedrigen Fingern darüber.
»KLONK!«, ertönte ein Schlag.
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026. Der Geist der Weihnacht
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