023. Sternengucker
𝓎ℴ𝓊𝓃𝑔 𝒶𝓉 𝒶𝑔ℯ ℴ𝓁𝒹 𝒶𝓉 𝓈ℴ𝓊𝓁
Während sich alle Schüler schon auf Weihnachten und die damit einhergehenden Ferien freuten, hatte der November ganz andere Pläne für sie parat.
Er wollte einfach kein Ende nehmen.
Die Lehrer überhäuften sie im Hinblick auf den Semesterwechsel mit Hausaufgaben und Tests. Ob ellenlange Aufsätze, mehrere Dutzend Seiten in ihren Schulbüchern oder viel zu umfangreiche Recherche, jeder Professor schien das Konzept von Freizeit völlig vergessen oder falsch verstanden zu haben.
Ganz besonders schlimm für Remus war in all dem Chaos der Astronomieunterricht.
Jeden Mittwoch Abend nach dem Essen mussten die Schüler den höchsten Turm des Schlosses hochsteigen, um sich Mond, Sterne und Planeten anzusehen, sie zu kartografieren und zu studieren.
Wenn es etwas gab, mit dem Remus absolut nichts im Unterricht zu tun haben wollte, dann war es wohl der Mond... denn der verfolgte ihn in seinem Privatleben - und in seinen Albträumen - schon genug.
Zusammen mit den Ravenclaws standen die Schüler in Zweierteams versammelt um ihre Teleskope, richteten sie grob zum Mond hin, stellten die Sucherfernrohre ein und schraubten an den Rädern der Okularauszüge.
Das gleiche Prozedere wie jede Woche.
Teilnahmslos verrichtete Remus neben Peter seine Arbeit, während dieser in seinem Element völlig aufging.
Es war Remus' Glück, dass Peter so eine Begeisterung für das Universum und den Weltraum hegte, womit Remus selbst eigentlich bloß daneben zu stehen brauchte und nur hier und da etwas anmerken musste, wenn sein schusseliger Freund beispielsweise auf seiner Sternkarte mal wieder den Stern Arktur mit der Arktis verwechselt hatte.
Heute war Remus im Vergleich zu anderen Stunden, die näher an einem Vollmond lagen, relativ ausgeruht und entspannt. Zwar prickelte das Mondlicht in seinem Nacken, doch schmerzte es nicht wie sonst, was eine willkommene Abwechslung war.
Er wagte auch selbst einen Blick durch das Teleskop, grinste, als er den Hundsstern erblickte - den hellsten Stern am Nachthimmel; Sirius. Einen Blick über die Schulter wagend, ließ es ihn noch breiter grinsen, denn wie so oft führten James und Sirius ein und die gleiche Diskussion, wenn es Zeit für den Unterricht der Sterne wurde.
»Wozu soll ich das überhaupt lernen, der ganze Mist ist sowieso nach meiner Familie benannt«, beschwerte sich Sirius augenverdrehend.
James raufte sich die Haare. »Sirius, das war andersherum, wie oft noch? Sonst wäre es doch sinnlos.«
»Das macht sowieso keinen Sinn.«
Remus und Peter unterdrückten ihr Lachen und wechselten einen kurzen Blick, bevor Remus einwarf: »James hat Recht, Sirius. Die Sterne und Sternbilder existieren seit über Tausend Jahren.«
Der Black winkte nur ab. »Meine Familie reicht eine ganze Weile zurück, Lupin. So genau werden wir das also nie wissen.«
James sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Die. Sterne. Sind. Nicht. Nach. Euch. Benannt.«
»Ach, halt doch die Klappe, James. Du hast keinerlei Beweise.«
Sirius grinste überlegen und gerade als James etwas erwidern wollte, kam Lily Evans plötzlich die Stufen zum Astronomieturm hochgesprintet, ein von Schamröte glühendes Gesicht hinter ihren Haaren versteckend, und die Worte blieben James' im Halse stecken.
Er fuhr sich durch die verstrubbelten Haare und rief: »Alles klar, Evans?«
»Verschlafen?«, neckte Sirius hinterher.
Die Hexe beachtete sie gar nicht, entschuldigte sich bloß bei der Professorin, bevor sie ebenfalls begann, ihr Teleskop aufzubauen. Allein, ohne Partner.
Ihre Lehrerin, Professor Stella Pluviam, war eine sehr große Frau mit hüftlangen, blonden Haaren und einer ziemlich großen Nase, die ihrer hübschen Erscheinung das gewisse Etwas verlieh.
Mit ihrer glockenhellen Stimme rief sie alle Schüler zur Ruhe, klatschte in die langfingrigen Hände und begann wie jede Stunde mit den gleichen zwei Sätzen: »Die Sterne zeigen uns den Weg, doch erwarten Sie nicht, beim Schauen schon zu sehen. Sehen ist eine Kunst, die erlernt werden muss.«
Es war frustrierend, dass Remus schon hätte mitsprechen können, allerdings sah Peter neben ihm ganz verzückt aus und machte sich eifrig Notizen, als ihre Lehrerin den Monolog über Mars und Venus begann.
Astronomie war eben nicht jedermanns Sache.
Gelangweilt ließ Remus seinen Blick über die Klasse wandern.
Marlene McKinnon saß zusammen mit Maud Rutherford und Grace Shagall um ein Teleskop herum, auch sie sah nicht besonders begeistert aus und gähnte in regelmäßigen Abständen hinter vorgehaltener Hand.
Sirius und James flüsterten auch jetzt noch miteinander und machten ihre Witze. Das schelmische Grinsen des Blacks blitzte im Mondlicht zu Remus hinüber, als er sich die schwarzen Haare, die seit dem Schulstart schon um einige Zentimeter gewachsen waren und ihm nun schon fast bis ans Kinn reichten, aus dem Gesicht strich. Seine silbernen Augen strahlten, wann immer James über seine Worte ein Lachen unterdrücken musste.
Schnell wandte Remus den Blick wieder ab.
Den beiden zuzusehen, wie sie ihre Insider-Späße teilten, wie sie sich gegenseitig mit nur einem Blick zum Lachen bringen konnten, ließen ihn unwohl fühlen. Er war sich selbst nicht sicher, ob es an Sirius' Verhalten lag, seinen deutlichen Vorurteilen gegenüber Muggelstämmigen und der Tatsache, dass James darüber offensichtlich einfach so hinweg sehen konnte, oder ob es verwandt war mit dem nagenden Gefühl in seiner Brust, das ihn fragte, wieso er nicht auch so einen Freund hatte.
Es war ein alberner Gedanke, rügte er sich.
Remus hatte sich schon früh damit abgefunden, dass er nie einen wahren Freund würde haben können, nicht so jedenfalls. Wie auch? Er könnte nie wirklich ehrlich zu ihm sein, denn manche Geheimnisse nahm man mit ins Grab, andernfalls würden diese einen begraben.
Wer wäre schon freiwillig mit einem Werwolf befreundet?
Dagegen wirkten selbst Sirius' Ansichten nur noch halb so schlimm...
Ein weiteres Klatschen ihrer Lehrerin riss Remus aus seinen Gedanken. »Nehmen Sie sich eine leere Sternkarte und beginnen Sie mit dem Zeichnen. Ihr Fokus sollte wie letzte Woche auf der Mondbahn und der damit verbundenen Venus liegen.«
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»Ja Professor, ich komme sofort zurück!«
Remus hechtete - so schnell ihn seine müden Knochen trugen - die Treppen des Astronomieturms wieder hinauf. Oben angekommen, stützte er die Hände erst einmal auf den Oberschenkeln ab, um wieder zu Atem zu kommen. Der kalte Wind wehte ihm um die Knöchel.
Irgendwo hier musste sie liegen... er hatte sie nur einen kurzen Augenblick aus seiner Tasche gezogen und...
Überrascht musste Remus feststellen, dass er entgegen aller Erwartungen nicht allein hier oben war.
Er streckte den Rücken durch, runzelte die Stirn.
»P-professor Pluviam wäre... wäre außer sich, wenn sie wüsste, dass du n-noch hier bist«, keuchte er. »Sie wollte mich... eigentlich überhaupt nicht wieder ho-hochlassen.«
»Wirst du mich verraten?«, fragte Lily heiser.
Sie saß gegen die Brüstung gelehnt, die Knie eng angezogen und zuckte unsicher mit den Schultern. Nasse Spuren glänzten auf ihren Wangen.
»Nein«, antwortete Remus wie automatisch.
Das brachte sie zwar zum Lächeln, doch ihre Augen blieben trüb.
Unbeholfen steckte Remus seine Hände in seine Umhangtaschen, um sie vor der Kälte zu schützen und irgendetwas zu tun zu haben. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, geschweige denn, wie er sie eventuell aufmuntern könnte.
Seine halbe Grundschulzeit hatte Remus zwar in Gegenwart von Mädchen verbracht, weil die Jungen ihn bloß immer nur gehänselt hatten - oder schlimmeres... (»Sei kein Mädchen, Lupin! Wehr dich doch!«, hatten sie gerufen und zugetreten...) Dennoch war er die Nervosität, die ihn überfiel, wenn es dazu kam, mit einem Mädchen zu sprechen, nie losgeworden.
Und Lily war hübsch, das machte es nicht leichter.
»Kannst du mir erklären, was so faszinierend an Astronomie und diesen Gasbällen sein soll?«, fragte er also und hätte sich im selben Moment am liebsten die flache Hand gegen die Stirn geschlagen.
Das war wirklich nicht die Frage, die man einem weinenden Mädchen stellte.
Auch Lily sah überrascht aus, damit hatte sie nun nicht gerechnet... »Oh, nun...«, sie schniefte und wischte sich mit der Hand über die Nase.
Wenn Remus doch nur so ein blödes Taschentuch bei sich tragen würde wie James oder Sirius, aber da hatte sie sich selbst schon eins aus ihrem Umhang gezogen.
Ein schönes Tuch, aus Stoff und sogar bestickt.
»Du meinst, abgesehen davon, dass diese Gasbälle Lichtjahre von uns entfernt sind und einem somit klar wird, wie klein wir im Vergleich zum Universum eigentlich sind?« Sie schmunzelte.
»Und trotzdem gibt es Menschen wie James und Sirius, die glauben, der Mittelpunkt des Kosmos zu sein«, blubberte Remus einfach weiter, doch es schien zu funktionieren. Ihr nächstes Lachen klang warm und nicht mehr hölzern und hohl.
Vielleicht war es das, was ihn schlussendlich dazu brachte, seine nächste Frage zu stellen, oder der eisige Wind, der ihnen beiden um die Ohren pfiff, vielleicht aber auch die reine Neugier.
»Wieso versteckst du dich hier oben?«
Lily zog ihre Knie noch näher an sich heran, malte mit ihren Fingerspitzen kleine Kreise auf den Turmboden. »Allein zu sein, ist manchmal weniger einsam«, flüsterte sie und strich sich eine rote Haarsträhne hinters Ohr.
Remus schluckte. »Das verstehe ich.«
Überrascht sah Lily auf und runzelte die Stirn. »Du hast Potter, Black und Pettigrew«, wandte sie dagegen ein.
Remus schüttelte den Kopf. »Sirius und James haben einander und Peter... Peter wäre einfach gern an Sirius' Stelle.«
»Befreundet seid ihr trotzdem«, sagte Lily, nachdem sie einen Moment über seine Worte nachgedacht hatte.
Unzufrieden rappelte sie sich hoch, umgriff mit beiden Händen die Brüstung und starrte hinaus in die Dunkelheit der Nacht auf den verbotenen Wald, dessen Bäume sich in der eisigen Luft hin und her bogen.
Remus stellte sich an ihre Seite.
»Aber du hast doch auch Sonorus«, sagte er.
Darauf folgte einen Moment Stille.
Dann lachte Lily laut auf, schlug sich direkt danach jedoch die Hand vor den Mund und blickte schuldig drein. »Se-Severus, meinst du?«
Remus' Wangen färbten sich dunkelrot. Er hatte sich schon immer schwer getan, Namen zu lernen. Bis heute war er sich bei den Mädchen in Gryffindor eigentlich nur Lilys Namen sicher.
Er fuhr sich durch die Haare in seinem Nacken und nickte.
Severus, nicht Sonorus - das konnte er sich merken.
Anfangs war er noch davon ausgegangen, Snapes Name wäre tatsächlich ‚Schniefelus', so häufig wie James und Sirius ihn korrigiert hatten, dagegen klang Sonorus in der Welt der Magie noch ganz plausibel... und weniger gemein.
»Servus... ja, richtig.«
»Severus«, korrigierte Lily erneut, ein Schmunzeln zupfte noch immer an ihren Mundwinkeln.
Eventuell wäre es simpler, ihn einfach Snape zu nennen.
»Es ist schwierig, Freundschaften zwischen Häusern zu führen«, sagte Lily. »Aber wir machen das Beste daraus. Einsam wird es erst dann, wenn ich im Gryffindorgemeinschaftsraum sitze und er nicht da ist.«
»Die anderen Mädchen-«
Sie fiel ihm ins Wort. »Sie sind nett, naja - alle bis auf Odessa-, aber sie verstehen mich und Severus nicht. Sie kennen ihn gar nicht und verurteilen ihn bloß, weil er ein Slytherin ist.«
Kennen und akzeptieren seine Freunde denn dich?, wollte Remus schon antworten, doch verkniff sich die Frage. Er wusste es bereits.
Stattdessen wandte er sich ab, ließ den Blick gen Himmel fahren und zuckte zusammen, als die Sichel des Mondes ihm entgegen lächelte.
»Schön, nicht?« Auch Lilys Blick wandte sich dem Nachthimmel zu. »Als ich noch klein war, hat meine Schwester mir erzählt, der Mond würde aus Käse bestehen. Zwei Monate lang habe ich ihr geglaubt.«
Remus unterdrückte ein Schnauben.
»Ich wollte unbedingt Astronautin werden und ganz viele Cracker mit ins All nehmen, um sie mit Mondkäse zu essen. Als wir vor zwei Jahren dann die Mondlandung gesehen haben und weit und breit kein Käse in Sicht war, flammte die Enttäuschung wieder auf, auch wenn ich es da natürlich schon besser wusste.«
»Ich fand Astronautenanzüge immer gruselig«, grinste Remus, »Sich freiwillig in die Hose zu machen, erschien mir immer schon suspekt.«
Lily stieß ihm spielerisch gegen die Schulter, schüttelte belustigt mit dem Kopf, als von unten plötzlich James' Stimme heraufrief: »Remus beeil dich, Professor Pluviam wird ganz zappelig hier unten! Sie gibt dir noch... wie viel Professor? Sie gibt dir noch zwei Minuten, sonst kommt sie dich holen!«
Erschrocken fuhr Remus auf der Stelle herum.
Verflucht, natürlich - das hätte er beinahe vergessen!
Die Karte, der kleine Lageplan, den Remus in den letzten Wochen immer weiter ausgearbeitet hatte, auf die er heute Abend bloß noch den Astronomieturm hatte einzeichnen wollen.
Er hatte sie aus seiner Umhangtasche gezogen und dann vergessen, sie wieder einzustecken.
Panisch blickte er sich auf der steinernen Fläche um. Nichts. Er beugte sich über den Rand des Turms, die kalte Mauer von Moos und Efeu bewachsen, die im Licht des Mondes bläulich schimmerte.
Mit zitternden Fingern hielt er sich an einer der Zinnen fest und spähte hinab auf die im Dunkeln liegenden Ländereien. Ob der raue Wind die Karte da hinunter geweht hatte? Remus hoffe inständig, dass dem nicht so war, wollte nicht glauben, dass die Arbeit, die er die letzten Wochen investiert hatte, die ganze Mühe, völlig umsonst gewesen war.
»Was suchst du denn?«, flüsterte Lily.
Seine geschärften Sinne sprangen an, als er mit zusammengekniffenen Augen versuchte, einen vergilbten Fetzen Pergament auf 200 Meter Entfernung auszumachen. Statt der Karte erhaschte er etwas anderes. Er hörte das Rascheln der Büsche am Rand des verbotenen Waldes, hörte das Geäst knistern, und Stöcke knacken, als würde sich jemand durch das Dickicht kämpfen.
Vielleicht ein Tier, dachte Remus und wollte sich gerade abwenden, als zwischen den dicken Nebelschwaden plötzlich das Mondlicht herausbrach und seinen hellen Schein gen Boden sandte. Ein Strahl streifte die rostroten Blätter der Büsche zwischen denen in eben jenem Moment jemand hervorbrach.
Jemand, nicht etwas.
Remus beugte sich weiter vor, doch eine Wolke hatte sich wieder vor den Mond geschoben und die Grasfläche in undurchdringliche Schwärze getaucht.
Wer hatte um diese Uhrzeit etwas im verbotenen Wald zu suchen?
»Remus, alles okay?«
Remus ignorierte Lilys Fragen und beugte sich noch tiefer über die Zinnen. Der kalte Stein presste sich in sein Fleisch, eisiger Wind peitschte ihm die Haare ins Gesicht.
»Was ist da unten?« Sie beugte sich neben ihm über die Brüstung.
»Da unten war jemand im Wald«, sagte er schließlich.
»Oh, das ist bestimmt Hagrid, ich habe Florence Windsor sagen gehört, dass der Wildhüter die Einhörner und andere Kreaturen füttert.«
»Das war nicht Hagrid«, erwiderte Remus eisern.
Der Wildhüter war dreimal so groß wie ein normaler Mann und wesentlich breiter als die Gestalt, die sich eben durch das Unterholz gekämpft hatte.
Lily hob eine Augenbraue. »Wie willst du das überhaupt gesehen haben? Ich erkenne da unten rein gar nichts.«
Darauf wusste Remus keine plausible Antwort, die der Wahrheit nicht zu nahe kam, also hielt er den Mund, wandte sich stattdessen um und zuckte mit den Achseln. »Vielleicht war es ein Tier.«
Lily gab sich damit zufrieden und fragte erneut: »Was hast du denn gesucht?«
Remus sah sich erneut halbherzig um, die Hoffnung längst aufgegeben.
»Ein Blatt Pergament.«
»Das ist alles?« Augenzwinkernd begann auch sie mit der Suche und stellte sich dabei wesentlich weniger unnütz an als er. Es dauerte keine Minute, da ging sie mit gerunzelter Stirn auf eine Ecke zu, bückte sich und zog einen Bogen Pergament zwischen zwei Steinfiguren hervor.
Strahlend hielt sie es ihm entgegen. »So eins hier?«
Remus, der selbst auf Knien am Boden kauerte, um in den hintersten Winkeln nachzuschauen, hob überrascht den Kopf. Ein breites Grinsen zog sich von einem zum anderen Ohr, er ähnelte dabei beinahe schon Professor Thorburn mit seinem Grinsekatze-Lächeln. »Ja genau! Danke!«
Er riss die Karte aus Lilys Händen und umklammerte sie so fest er konnte. Erleichterung durchströmte jede Faser seines Körpers und alle anderen Sorgen waren auf einen Schlag wie weggeblasen.
»Gern geschehen«, sagte sie in eben jenem Moment, als James' Stimme wieder »REMUS!« rief.
Sie zuckten beide zusammen.
»Du solltest wohl besser wieder runter gehen, sonst bekommt Professor Pluviam noch einen Anfall... und Potter verliert seine Stimme oder die anderen erleiden einen Hörschaden.«
Remus stutzte. »Kommst du nicht mit?« Aber auch ohne eine Antwort verstand er. Sie brauchte noch einen Moment, vielleicht zwei - die kühle Nacht wollte sie noch nicht gehen lassen, hielt sie fest umschlungen in einer warmen, ja fast schon schwesterlichen Umarmung, die den dringend benötigten Trost spendete.
Allein, nicht einsam. Die Sterne und der Mond waren ihre Gesellschaft.
In diesem Augenblick, als sich ihre Blicke verhakten, erkannten sie sich selbst wieder - etwas hatte sich verändert, etwas Gewaltiges.
Er nickte, winkte zum Abschied und stolperte die Stufen wieder hinunter, wo ihn am Fuße eine äußerst rotgesichtige Professorin und seine drei grinsenden Freunde erwarteten.
»Tschuldigung, Professor.«
Ohne darauf groß einzugehen, nickte sie ihm zu, scheuchte die Jungen den Korridor entlang und verabschiedete sich dann an der nächsten Biegung von ihnen, nicht ohne die Tür hinter ihnen mit ihrem Zauberstab zu verschließen.
»Ein einfacher Alohomora kriegt die wieder auf, oder?«, fragte Remus, nachdem die Lehrerin außer Hörweite war. Lily sollte nicht dort oben erfrieren müssen, wenn sie sich irgendwann doch entscheiden würde, zurück in den Gemeinschaftsraum zu kehren.
»Natürlich«, James lachte. »Was hast du vor? Wollen wir uns zurückschleichen? Ich würde ja gerne mal mit meinem Besen vom Astronomieturm springen.«
Peter riss die Augen auf, als hätten sie vorgeschlagen, ihn ohne Besen runterzuschubsen.
»Lieber nicht«, sagte Remus und gemeinsam machten sie sich auf in den Westturm.
Ihre Schritte hallten in der Stille des späten Abends durch das ganze Schloss. Kaum noch ein Schüler war in den Korridoren unterwegs, selbst die Portraits schienen sich bereits bettfertig gemacht zu haben.
Remus grinste, als er eine Hexe erblickte, der ein großer Schnauzbart ins Gesicht gemalt worden war.
»Was hast du da oben eigentlich gesucht?«, fragte Sirius, als sie um die Ecke bogen und die Treppen hinabstiegen, da hatte er ihm die Karte jedoch schon aus der Hand gerissen und aufgefaltet. »Was soll das denn sein? Der Umriss eures Anwesens? Vermisst du dein zu Hause?«
Gereizt griff Remus nach dem Papier, James war schneller, hielt es schon in den Fingern und inspizierte die feinen Tintenlinien.
»Nicht jeder hat ein Anwesen, du alter Snob«, erwiderte Remus mit vor Zorn funkelnden Augen. »Gib das her, James!«
»He, das ist Hogwarts, oder? Das da...«, er wich Remus' ausgestreckter Hand geschickt aus und deutete auf den größten Raum auf der Karte, »... das ist die große Halle, nicht? Ha, und das ist der Krankenflügel! Genial! Hier ist unser Gemeinschaftsraum.«
Sirius verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wozu zeichnest du den Umriss von Hogwarts?«
»Ich erinnere mich!«, rief Peter da aufgeregt. Er hatte Remus schon mehrfach zeichnen sehen. Er kannte den ‚Lageplan'. »Damit wir uns nicht verlaufen... naja, jetzt kennen wir die Wege eigentlich.«
»Genau, es ist also sinnlos, dann kannst du sie mir auch zurückgeben«, Remus versuchte wieder, James die Karte abzunehmen, aber dessen Reflexe waren zu schnell für ihn.
»„Sinnlos" wäre nicht das Wort, das ich gewählt hatte. „Genial" trifft es eher.« Verzückt musterte James sein Werk, dann stahl sich der Schalk in seinen Blick.
Abrupt blieb er am Fuß der Treppe stehen, direkt vor einem weiteren Gemälde mit aufgemaltem Schnurrbart.
»Mein Vater hat mir all die Jahre so viel über Hogwarts erzählt. Über seine Geheimnisse und Rätsel.«
»Du redest wie ein aufgeblasener Kauz«, sagte Peter kichernd.
»Manche Geheimnisse bleiben besser unentdeckt«, sagte Remus. Manche Geheimnisse nahm man mit ins Grab.
»Geheimnisse schweißen zusammen«, erwiderte James sofort. Er klopfte stolz auf den Portraitrahmen, der Zauberer, der darauf abgebildet war - ein alter Mann mit - jetzt - mehr Schnurrbart als Haaren auf dem Kopf -, bedachte ihn mit einem Blick absoluter Abneigung, als könnte er es nicht fassen, dass dieser elfjährige Bube die Dreistigkeit besaß, sein Bild zu berühren, ohne ihm auch nur einen Funken seiner Aufmerksamkeit zu schenken. Der Schnurrbart zitterte vor Wut. »Marlene und ich haben uns immer alles erzählt - also, ich habe ihr nie gesagt, dass ich ganze drei Jahre lang auf ihre Schwester gestanden habe, aber hey - jetzt wisst ihr es. Das verbindet uns.«
»Die Hufflepuff? Ist sie nicht fünfzehn?«, Sirius hob grinsend eine Augenbraue.
Erschrocken schlug Peter sich die Hände über die Augen. »Sie ist doch uralt!«
»Sie ist reifer«, sagte James mit verschränkten Armen und einem dümmlichen Grinsen auf den Lippen. »Und verdammt hübsch.«
»Und was sollte sie dann von einem kleinen Jungspund wie dir wollen?«, lachte Sirius, während er dem Potter mit den Fingern durch die verwuschelten Haare fuhr.
James schubste ihn von sich. »Oi, ich bin ein guter Fang, du alter Knacker! Nur weil du schon zwölf bist!«
Sirius ging erneut in die Offensive, schnappte sich James Hals mit seinem Arm und nahm ihn in den Schwitzkasten gefangen, rubbelte ihm die Knöchel über den Kopf. »Ich bin älter und weiser als ihr alle«, grinste er.
»Das hättest du wohl gerne.« Remus nutzte die Gelegenheit um James die Karte endlich abzunehmen, sie zusammenzufalten und wieder sicher in seiner Manteltasche zu verstauen.
Mit Händen und Füßen wehrte sich James gegen die Gefangenschaft, gab allerdings schmollend auf, als er bemerkte, wie zwecklos seine Versuche waren.
»Lass mich loooooos«, jammerte er. »Remus' Karte wäre die perfekte Möglichkeit, sich zielsicher durch das Schloss zu arbeiten. Versteht ihr nicht, was das bedeutet? Wir könnten alle Geheimgänge finden! Wir könnten die Waschräume, den Heizungskeller und die Küche finden! Die Küche, Remus! Davon träumst du, seit wir an unserem zweiten Tag durch die Kerker gewandert sind!«
Remus hatte die Dämpfe gerochen - all die Leckereien.
»Stellt euch nur vor«, erzählte James weiter, ein verträumter Ausdruck in den Augen, »wir könnten die Hauselfen bitten, uns all die Leckereien zuzubereiten, die es sonst nur zu Festen gibt. Wir könnten in heißer Schokolade und Kürbispasteten baden!«
Schokolade... es klang zu schön, um wahr zu sein.
Remus spürte seine Gedanken wandern, sah sich selbst und die anderen gemütlich im Gemeinschaftsraum auf den roten Samtsesseln um den Kamin gedrängt sitzen, alle mit einer dampfenden Tasse in der einen und einem Teller mit Plätzchen in der anderen Hand. Er konnte die Schokolade riechen, er konnte sie fast schon auf seiner Zunge schmecken. Er hatte so lange keine Schokolade mehr gegessen.
Gibt es morgen Schokotorte zum Frühstück? Morgen ist mein Geburtstag!
»Eine Küchenübernahme klingt nach einem perfekten Plan«, lachte Sirius und ließ James endlich los.
Peter strahlte. »So viel zu Essen wie man sich nur ertäumen kann.«
»Remus?«, James streckte die Hand aus.
Schon seit ihrem ersten Schultag wollte er die Küche finden. Natürlich war er dabei. »Auf in die Schlacht«, er reichte James die Karte zurück.
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Das kommende Wochenende war eins der vielen Hogsmeade-Wochenenden, was bedeutete, dass etwa neunzig Prozent aller Schüler das Schloss geräumt hatten, um das nahegelegene Dorf zu besuchen, Vorräte aufzustocken, Butterbier zu trinken oder der heulenden Hütte einen Besuch abzustatten, die seit ein paar Jahren angeblich von Geistern heimgesucht wurde.
Sirius, der sich endlich festgelegt hatte, worüber er seinen Aufsatz bei Professor Thorburn schreiben wollte, bedauerte, dass McGonagall ihm nicht erlaubt hatte, schon zwei Jahre früher das Dorf für seine „Recherche" zu besuchen.
Eigentlich wollte er die Hütte sowieso nur sehen, um James zu beweisen, dass er keine Angst vor Geistern hatte. Und wäre Remus nicht so erleichtert gewesen, als Sirius ihnen enttäuscht mitgeteilt hatte, wie das Urteil ihrer Hauslehrerin ausgefallen war, hätte er eine ähnliche Gefühlsregung auch den Augen des Blacks entnommen.
Während die anderen also gemütlich in den Drei Besen saßen oder im Honigtopf ihre Taschen füllten (Max McCoy war bestimmt eine Dreiviertelstunde nicht aus dem Schwärmen rausgekommen), nutzten James, Sirius, Peter und Remus die Zeit, nicht um wie die Mädchen ihre Hausaufgaben in Verwandlung und Zauberkunst zu machen, sondern wanderten stattdessen die Korridore entlang, skizzierten auf der Karte die Gänge und Klassenräume ein, die Remus noch nicht hinzugefügt hatte und überlegten sich, wie sie den Geheimgängen und Geheimnissen des Schlosses auf die Schliche kommen konnten.
James erzählte ihnen von den vielen Gängen im Gewölbe unter seinem Familienhaus und wie sein Vater diese immer mit den Korridorsystemen in Hogwarts verglichen hatte. (»Er wollte mir nicht verraten, wo ich die Geheimgänge finde, die er in seiner Zeit entdeckt hat. Dad meinte, das würde den ganzen Spaß zunichte machen.«)
Es war ein mühsames Unterfangen, das die Jungen ganz eindeutig unterschätzt hatten. Und nur weil sie mit den Wegen, die zu ihren Klassenräumen führten, mittlerweile vertraut waren, bedeutete das nicht, dass der Rest des Schlosses kein verzauberter Irrgarten war, der ihnen drohte, den Verstand zu rauben.
»An dieser Toilette sind wir bestimmt schon dreimal vorbeigelaufen«, schnaufte Peter.
»Praktisch. Ich müsste mal meiner natürlichen Notdurft nachkommen«, sagte Sirius und verschwand durch die Tür, nicht ohne Remus zuzugrinsen, der bei seiner hochgestochenen Art nicht anders konnte, als mit den Augen zu rollen.
James lehnte sich über Remus' Schulter, das Kinn in dessen Pullunder gedrückt.
Remus zuckte schon gar nicht mehr zusammen, wenn James das tat. Anfangs hatten ihn diese fast schon beiläufigen Berührungen, die der Potter austeilte wie Begrüßungen oder ein freundliches Lächeln, noch völlig aus dem Konzept gebracht. Natürlich hatte er gesehen, wie James und Sirius miteinander umgingen. Ein Handschlag hier, eine Umarmung dort. Berührten sich nicht ihre Hände oder Schultern, taten es die Beine oder Füße.
Auch mit Peter ging James so um. Sirius nicht, seine Zuneigung begrenzte sich auf James und James allein.
Aber der junge Potter verteilte gerne einen gutgemeinten Schulterklopfer, griff ohne nachzudenken, nach ihren Händen, um sie auf die Füße zu ziehen, verstrubbelte ihnen das Haar, strich den Staub von ihren Umhängen oder zupfte ihre Krawatten zurecht.
Es fiel ihm meistens nicht einmal auf, was er da tat. James sprudelte einfach über vor Liebe, dachte Remus. Er hatte so viel davon zu geben und wusste gar nicht mehr wohin mit ihr, dass seine Hände sich verselbstständigten und überall dort Zärtlichkeiten austeilten, wo ein Mangel davon vorzuherrschen schien.
Es war schön umsorgt zu werden.
Remus lehnte seinen Kopf gegen James' Wange.
»Laut Karte sind wir im dritten Stock, aber ich könnte schwören, dieses Porträt hier hängt im siebten«, James deutete auf die bildliche Landschaft eines in Flammen stehenden Hexenzirkels. Remus war kein Kunstkritiker, doch ihm waren das zu viele nackte Hinterteile. »Außerdem sind wir mindestens schon eine Million Stufen hinaufgestiegen.«
»Vielleicht haben wir uns verzeichnet? Es ist nicht einfach, mehrere Stockwerke auf einem einzelnen Pergamentbogen festzuhalten«, sagte Remus.
»Heißt das, wir müssen alles nochmal machen?«, jammerte Peter.
»Merlin, das wird den ganzen Tag dauern... dann komme ich auch noch einmal „meiner Notdurft" nach - nur zur Sicherheit«, sagte James und lachte, folgte Sirius ins Badezimmer.
Es dauerte nicht den ganzen Tag. Es dauerte länger. Viel länger. Viel zu lange, wenn man Remus fragte.
Das ganze Wochenende stromerten sie durch das Schloss, darauf bedacht weder Filch und seiner Katze noch einem der Lehrer zu begegnen. Sie hatten nicht vor, McGonagall erklären zu müssen, was sie hier veranstalteten.
Natürlich entdeckten die Lehrer sie trotzdem und weil sie keine gute Ausrede parat hatten, weswegen sie an einem Sonntag Nachmittag Skizzen des Hogwarts-Grundrisses anfertigten - abgesehen von James' „wir basteln ein Miniatur-Schloss... wie ein Lebkuchenhaus für Weihnachten", was Flitwick ihnen ganz eindeutig nicht abgekauft hatte - wurden sie zurück in ihren Gemeinschaftsraum geschickt, um Hausaufgaben zu machen.
Der nächste Versuch am Montag zwischen den ersten beiden Unterrichtsstunden wurde von Professor Beery zunichte gemacht, als sie gerade dabei waren, einfach den Westturm einzuzeichnen, was dank der farbwechselnden Türen gar nichts mehr mit „einfach" und nur mit „absolut anstrengend" zu tun hatte.
Dienstag nach dem Mittagessen folgte Remus dem Duft nach Schokolade und gebratenen Kartoffeln - eine Kombination, die die anderen die Nasen rümpfen ließ, ihn aber verzückte - hinab in die Kerker, wo Slughorn sie nach ewigem Hin- und Herlaufen fand und in den Nachmittagsunterricht schickte.
Keiner der Lehrer brummte ihnen Nachsitzen auf, wofür denn auch, Herumstromern brach keine Schulregel, aber eine weitere Erkundungsmission bei Tageslicht war vom Tisch, ehe die Lehrer noch Verdacht schöpfen konnten, was ihnen eigentlich vorschwebte.
McGonagalls Blicken beim Abendessen nach zu urteilen, hatte sie schon die ein oder andere Idee.
»Dann müssen wir eben nachts arbeiten«, sagte Sirius schulterzuckend.
»Das ist gegen die Schulregeln«, sagte Remus, ohne von seinen Verwandlungsnotizen aufzublicken.
»Nur wenn wir erwischt werden«, sagte Peter.
Natürlich würden sie erwischt werden, dachte Remus. Sie konnten sich schließlich nicht einfach in Luft auflösen, wenn der erste Lehrer um die Ecke kam...
»Wir haben es dir ja nicht erzählt! Oi, Remus, das wird dich aus den Socken hauen«, rief James da plötzlich und er sollte Recht behalten.
Wann immer Sirius sich über Remus' Abwesenheit im Krankenflügel in der Nacht zu seinem Geburtstag beschwert hatte, war der Begriff „Tarnumhang" nicht ein einziges Mal über seine Lippen gefallen.
Dieser Holzkopf!
»Ich habe feierlich geschworen!«, verteidigte sich Sirius. »Ich durfte gar nichts verraten!«
»Es überrascht mich aber, dass du dich dran gehalten hast«, grinste James und stieß ihm seinen Ellenbogen spielerisch in die Rippen.
»Frech, Potter. Einfach frech!«
»Du musst auch schwören, Remus«, sagte Peter. »Kannst du das Geheimnis für dich behalten?«
Besser als ihr ahnt, dachte Remus, bevor auch er den feierlichen Schwur ablegte.
Zwei Tage später war es soweit und sie schlichen sich pünktlich zum zwölften Glockenschlag aus dem Gemeinschaftsraum. Die fette Dame schnarchte herzhaft, als James das Porträt wieder zudrückte, den Umhang über sie warf und sie gemeinsam im Dunkel der Korridore verschwanden.
Hätten die Gryffindors keinen Ton von sich gegeben, wäre niemandem, der durch die Gänge von Hogwarts gestiefelt wäre, überhaupt aufgefallen, dass sie außerhalb ihrer Betten unterwegs waren. Egal wie angestrengt er den Gang betrachtet hätte, er hätte sie nicht sehen können.
Denn eng aneinandergepresst stolperten sie unter dem Tarnumhang vorwärts und gaben dabei - meist - keinen Ton von sich.
»Tritt mir nicht auf die Zehen!«
»Shh!«
»Sirius, dein Ellenbogen zerquetscht mir die Milz.«
»Was für ein Ding?«
»Shhh!«
»Oh, Filch erwischt uns bestimmt jeden Moment...«
»Hier entlang!«
»Ach, er darf reden? Kein Geshhe?«
»Sirius?«
»Ja?«
»Halt den Mund.«
Es fiel ihnen schwer, bei der Sache zu bleiben und ernste Gesichter aufrecht zu halten, wenn in Situationen, in denen man sich um jeden Preis ein Lachen verkneifen sollte, alles nur umso lustiger erschien.
Sirius' entrüstete Miene war Anlass genug, dass James vor Lachen beinahe eine der Trickstufen verpasst und volle Kanne hineingetreten wäre, hätte Remus ihn nicht noch zurückgehalten, sie rutschten aus und... landeten als kleines Bündel am Fuße der Treppe, nicht so recht ahnend, wo die Gliedmaßen des einen begannen und des anderen aufhörten.
Bellendes Lachen schallte durch das Treppengewölbe und Peter schlug Sirius die Hand auf den Mund, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, einem Herzinfarkt nicht mehr weit entfernt.
Damit war es auch um Remus geschehen, der sich von James auf die Füße ziehen ließ. Seine Hüfte beschwerte sich, aber es waren nur drei Stufen gewesen. Er würde es überleben.
Die angespannte Stimmung und die Angst, erwischt zu werden, waren verpufft. Ihre Vorsicht vergessend, eilten sie weiter, immer tiefer und tiefer.
Unachtsam streifte James ihnen irgendwann den Umhang von den Köpfen, dass sie sich besser bewegen konnten und ließ mit seinem Zauberstab Licht den Gang durchfluten.
»Was sagt die Karte, Remus? Wo, meintest du, kam der Duft her?«
»Direkt hier, hinter dieser Wand«, sagte Remus und deutete von der kleinen Markierung auf dem Pergament auf die lange Mauer vor ihnen, an der nur ein paar Portraits von berühmten ehemaligen Hufflepuffs und ein Stillleben hingen.
»Und jetzt?«, fragte Peter.
»Wie wärs mit einer schönen Explosion? Einmal ordentlich BUMM!«, grinste Sirius und schlug die Hände zusammen, so dass der Knall von den Mauern widerhallte.
»Subtil«, sagte James.
Sie ließen die Küche nicht in die Luft fliegen. Stattdessen wanderten sie von Porträt zu Porträt und versuchten ihr Glück mit Passwörtern, wie sie es von der fetten Dame gewohnt waren, doch nichts passierte.
»Kochstube. Plätzchen. Gebratener Speck. Brokkoli!«, verzweifelte Remus nach über einer Stunde, als ihm plötzlich etwas rotes und rundes nur Millimeter von seiner Nasenspitze entfernt am Kopf vorbeirauschte.
Die Wasserbombe zerplatze mit einem lauten Knall an den Kellerwänden und versetzte die Jungen in Aufruhr.
»Was war das?«, fiepte Peter ängstlich und schlug die Arme über dem Kopf zusammen.
»Peeves«, sagten James und Sirius gleichzeitig.
Den Tarnumhang im Rennen über ihre Gestalten ziehend, rannten sie lachend zurück in den Gemeinschaftsraum.
Die nächste Nacht gestaltete sich ähnlich. Wieder stolzierten sie die Wand entlang, hin und her, hin und her, hin und her... überlegten fieberhaft, wie sich der Weg in die Küchen für sie öffnen würde.
Als Sirius gerade das Stillleben von der Wand heben wollte, seufzte James: »Wir könnten einen der Hauselfen abfangen, die unsere Wäsche machen und ihn fragen, ob er uns verrät, wie man hinein kommt.«
Das Bild bewegte sich keinen Millimeter, so sehr Sirius auch daran zerrte.
»Das darfst du übernehmen«, sagte er. »Hauselfen hassen mich. Wenn Mutter ihn lassen würde, hätte Kreacher bestimmt mein ganzes Hab und Gut in Brand gesteckt, nachdem ich in den Zug gestiegen bin.«
Am Samstag saßen sie Schulter an Schulter, die Zauberstäbe gezückt und Inkantation um Inkantation murmelnd schon wieder im Korridor, nicht schlauer als die beiden Nächte zuvor, doch „Aufgeben" stand nicht auf ihrer Tagesordnung.
Am Nachmittag hatten sie sich Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen, um jetzt in der dunkelsten Stunde, die Gesichter nur von flackernden Fackeln erleuchtet, Zauber, die sie eigentlich noch nicht kennen und können sollten, loszulassen, in der Hoffnung, ein Spalt à la „Sesam, öffne dich!" würde sich im Stein auftun und ihnen Einlass in das Schlaraffenland gewähren.
Doch jeder Spruch prallte nur unnütz von der Wand ab, als würden die Jungen mit Flummibällen - oder Wattebauschen - werfen. Sinnlos, absolute Zeitverschwendung. Aber das war es nicht. Sie feixten, redeten, vollführten viel zu übertriebene Zauberstabbewegungen, scherzten und lachten bis in die frühen Morgenstunden, als Mrs. Norris zu ihren Füßen auftauchte und ihr Miauen dem Ruf des Raben glich, der Botschaft des Keryx.
Remus kickte Sirius hart gegen das Schienbein, damit dieser aus seinem Halbschlaf schreckte. Sein Kopf, der mal auf James', mal auf Remus' Schulter gesackt war, zuckte hoch.
»Drachendung! Filch dürfte nicht weit sein, wenn sein dreckiges Samtpfötchen hier herumschleicht.« Er trat nach der Katze und sie fauchte. Ihre Lampenaugen fixierten ihn boshaft, ihren natürlichen Feind.
»Verschwinden wir«, sagte James.
»Das schaffen wir nie - ich... ich schaffe das nie«, sagte Remus, als James' ihm aufhalf. So langsam machte seine Hüfte ihm wieder einen Strich durch die Rechnung.
Der November neigte sich endlich dem Ende zu, doch das bedeutete auch...
»Ich lenke Filch ab«, sagte Peter da und zückte eine Stinkbombe aus seinem Umhang. »Von Bilius«, erklärte er auf die überraschten Blicke hin, seine Wangen glühten vor Stolz.
James' Augen leuchteten. »Genial, Pete!«
»Fetzig!« Sirius schlug ihm brüderlich in James-Manier auf die Schulter.
Und Peter zündete das Ding.
Grünlicher Qualm und ein widerwärtiger Duft hüllten Korridor und eine aufgekratzte Mrs Norris ein, bevor Sirius die Führung übernahm und James Remus einen Arm um die Schultern legte, um ihn zu stützen, während sie sich so schnell aus dem Staub machten, wie Remus' fragile Knochen und Gelenke es zuließen. Peter bildete das Schlusslicht, eine zweite Stinkbombe schon in der Hand.
Das würde Filch eine Weile beschäftigen...
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Es brauchte James ganze drei weitere Tage und Nächte, um einen der Hauselfen bei seinen Tätigkeiten zu überraschen, so bedacht sie doch waren, bei ihrer Arbeit James' Unsichtbarkeitsumhang starke Konkurrenz zu machen.
Laut Sirius gehörte es sich für Hauselfen, beinahe mit den Schatten zu verschmelzen. (»Ein Hauself muss sich zu benehmen wissen... Man will ihre Arbeit sehen, nicht sie.«)
Laut James waren Hauselfen Angestellte und Spielkameraden in einem, temperamentvoll und lustig, die laut durch das Haus stampften, wenn man vergessen hatte, sein Geschirr aus dem Zimmer in die Küche zu räumen oder sich weigerte sein Gemüse zu essen. (»Billy ist ein genialer Karaoke-Partner, Polly tanzt lieber. Wann immer sie sich Urlaub nimmt, reist sie mit ihrer Familie in den Süden „wo die gute Musik wartet, Master Jamesie". Sie zwingt Billy manchmal bis zum Morgengrauen mit ihr zu tanzen. Sie arbeitet schon ewig für Mum und Dad, hat ihnen damals ihren Hochzeitstanz beigebracht. Mum zieht Dad manchmal immer noch damit auf, dass Polly eine bessere Tanzpartnerin war als Dad und sie doch lieber Polly geheiratet hätte.«)
Remus wusste nicht, was er glauben sollte. Die Familie Lupin war nie wohlhabend genug gewesen, um Hauselfen zu beschäftigen. Er wusste aber, was er glauben wollte.
James war aufgrund seiner Erfahrungen umso erstaunter gewesen, als der Hauself, der ihnen bloß die frische Wäsche für den nächsten Tag hatte bringen wollen, in ein nervöses Zittern geraten war, als James ihn bei seiner Arbeit überrascht hatte.
Auf die Frage nach der Küche hatte der Elf - Butz - nur kleinlaut irgendetwas von einer Birne gefaselt, bevor er sich mit einem Fingerschnippen in Luft aufgelöst hatte.
Die Jungen konnten sich keinen Reim darauf machen, ihnen war aber klar, dass sie das Stillleben näher in den Blick nehmen würden, wenn sie sich das nächste Mal hinunter in die Kerker trauen würden (sobald Filch nicht mehr jede Nacht nach den Stinkbombenwerfern Ausschau hielt).
»Wir lösen das Birnenrätsel noch, Remus«, sagte James feierlich. »Versprochen!«
Und so sehr sich Remus auf die Küchen und die Süßigkeiten freute... die letzten Nächte mit seinen Freunden waren doch jede Schokotorte der Welt wert.
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Ein weiterer Monat, ein weiterer Mond.
Der Dezember, nach dem sie sich alle so sehr verzehrt hatten kam und die Lebensfreude, die Remus in den letzten Wochen so erfüllt hatte, verging schlagartig.
Schon ganze fünf Tage vorher spannte seine Haut bei jeder Bewegung, brach ihm der Schweiß aus, wenn er nur an die vielen Treppen dachte und konnte er sich nichts anderes als trockenes Toast runterwürgen, ohne seinen Mageninhalt direkt wieder auf seinen Teller zu entleeren.
Es lag am Blaumond, hatte Madam Pomfrey ihm erklärt und Remus mit zwei Zaubertränken, die die Symptome lindern sollten, wieder in seinen Schlafsaal geschickt. Sie hatten nur bedingt geholfen.
Viel schlimmer zu ertragen als die Schmerzen waren jedoch die Gesichter seiner Freunde, als er ihnen eine weitere Lüge präsentierte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Meine Mutter ist krank. Ich bin in ein paar Tagen wieder da.«
Er hatte überlegt, die Geschichte auszuschmücken, damit sie nicht weiter nachfragen würden, doch das hatte er nicht übers Herz gebracht. Auch nicht, als James ihn bat, seiner Mutter eine ‚Gute Besserung' zu wünschen, ihn daran erinnerte, auch auf seine Gesundheit zu achten und ihm einen extra Schal einpackte.
Remus lächelte nur. Versprach es auszurichten und eilte aus dem Gemeinschaftsraum, bevor Sirius und Peter ebenfalls noch irgendwelche gutgemeinten Worte über die Lippen kämen, die ihn sich nur noch schlechter fühlen ließen.
Lügen... Lügen... alles Lügen...
Die Situation, in der er sich befand, war seine eigene Schuld. Sein Vater hatte es ihm gesagt - ihn gewarnt -, bevor er Remus in den Zug hatte steigen lassen... er sollte keine Freunde finden, er durfte nicht.
Es war für Remus nicht schwer gewesen, sich eine Schulzeit ohne Freunde vorzustellen, wo er doch noch nie zuvor jemanden gehabt hatte, den er einen wirklichen Freund hätte nennen können. Von klein auf war er einer der Außenseiter gewesen, ein Sonderling, mit dem die Kinder in seiner Grundschule nichts zu tun haben wollten.
Das war besser gewesen... einfacher.
Keine Freunde - keine Geheimnisse - keine Lügen.
Remus hatte geglaubt, in Hogwarts würde es nicht anders sein.
Dann war da James Potter gewesen. Peter Pettigrew. Auch Sirius Black. Und jetzt... jetzt auch irgendwie Lily Evans und Remus wusste nicht, damit umzugehen.
Er musste lügen und lügen und lügen, denn alles andere wäre die Schere der Schicksalsschwestern im Netz seiner Unwahrheiten. Zerschnitt man den richtigen Faden würde alles zusammenbrechen und ihn unter der Last begraben.
Manche Geheimnisse nahm man mit ins Grab...
Geheimnisse sind immer mit einem Preis verbunden, mein Liebling, hatte Hope Lupin ihm an seinem letzten Morgen zugeflüstert, als er so voller Angst, unter der schweren Last seines Daseins zusammenzubrechen, überlegt hatte, den Zug ohne ihn fahren zu lassen, noch bevor sein Vater überhaupt etwas anderes von ihm hatte verlangen können.
Dein Geheimnis ist groß, und so auch sein Preis...
Vielleicht war der Preis, den Remus zahlen musste, ihre Freundschaft. Und vielleicht war es an der Zeit, ihn zu bezahlen...
Remus bog in den Korridor des Krankenflügels, vorbei an der Ritterrüstung, deren Helm durch eine Nikolausmütze getauscht worden war.
Die Reisetasche als Tarnung über der Schulter, zog er die Türen zum Krankenflügel auf, als Marlene in eben jenem Moment hinausstolperte und gegen ihn krachte.
»'tschuldige!«, murmelte sie und rieb sich die picklige Stirn. Dann kniff sie die Augen zusammen, als hätte sie erst jetzt erkannt, wer vor ihr stand. »Lupin.«
»McKinnon«, nickte Remus.
Sie blinzelte. Verharrte einen Augenblick länger als nötig, so dass er nicht an ihr vorbei konnte. Starrte ihn nur an, dann schüttelte sie den Kopf, als würde sie sich eines Besseren besinnen und lächelte gequält.
»Hast du schon die Astronomiehausaufgaben gemacht? Ich bin furchtbar in Sternenkunde und ich fürchte Professor Pluviam ist soooo«, ihr Daumen und Zeigefinger berührten sich beinahe, »kurz davor, mich vom Astronomieturm zu werfen. Ganz sicher.«
Remus grinste. »Dann sind wir ja schon zwei. Aber Peter ist gut, vielleicht kann er dir helfen. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen.«
Marlene bedankte sich und machte den Weg frei. »Gute Besserung, Lupin«, rief sie noch, bevor die Flügeltüren zufielen und Remus einer weiteren Nacht voll von Folter und Selbstzerstümmelung entgegenblicken durfte.
Lügen... Lügen... Lügen...
»Ah, Mister Lupin. Wie schön Sie zu sehen«, lächelte Madam Pomfrey und legte einen Arm um ihn.
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Kratzen, Heulen, Lechzen und Blut.
Zersplintertes Holz, gebrochene Knochen, der nagende Wahnsinn.
Die Lüge war ein Segen, die Wahrheit war der Tod.
Monster... Monster... Monster...
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023. Sternengucker
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