016. Eine Frage des Blutes

𝓎ℴ𝓊 𝒶𝓇ℯ 𝓂𝒶𝒹ℯ ℴ𝒻 𝓂𝒶𝑔𝒾𝒸

»Schlammblut!«, zischte ihr plötzlich eine Stimme ins Ohr, als Lily nach der Doppelstunde Zauberkunst inmitten der Schülermassen den Korridor Richtung Mittagessen entlang stolperte.

»Schlammblut!«, raunte Asphodelia Greengrass in Verteidigung gegen die dunklen Künste, als sie sich durch Professor Thorburn gezwungen sah, mit Lily den Entwaffnungszauber zu üben.

»Schlammblut!«, war das Wort, welches Sirius Black ihr entgegenwarf, als Lily ihn beim Abendessen aus Versehen angerempelt hatte, nur um sich kurz danach strafend auf die Lippen zu beißen und einen scheuen Blick über die Schulter zu werfen, obwohl niemand außer ihr ihn gehört hatte.

»Schlammblut«, hauchte Lily nun selbst, während sie Buchstabe für Buchstabe in ihr Tagebuch schrieb und den Eintrag mit einem großen Fragezeichen versah.

Lily war nicht dumm.

Die Art und Weise, wie die anderen Schüler das Wort ausspuckten, ließ keinen Zweifel daran, dass es sich in ihren Augen um ein Schimpfwort handelte. Das Problem jedoch war, dass Lily nicht verstand, womit sie sie beschimpften.

Schlammblut - schmutziges Blut - was sollte das denn überhaupt bedeuten?

Als sie Severus bei einem ihrer Spaziergänge um den schwarzen See gefragt hatte, konnte er es ihr nicht sagen.

»Ich weiß nicht, hab das noch nie gehört«, hatte er ausweichend gemurmelt und war zum nächsten Thema übergegangen.

Frustriert zog Lily die Füße auf das Himmelbett und warf den Stift, den sie sich von Olive geborgt hatte, durch den Schlafsaal.

Sie war allein.

Die anderen Mädchen hatten sich schon vor einer halben Stunde zum Abendessen in die große Halle verabschiedet, Lily war zurückgeblieben - wie auch schon die letzten Abende.

Irgendwie fühlte sie sich in dem Zimmer nur dann richtig wohl, wenn sie alleine war. Alice und Olive waren zwar nett aber auch überheblich. Thalia und Valorelle beachteten sie kaum, Odessa dagegen zu sehr, ein nettes Wort war ihr in den vergangenen vier Tagen jedoch nicht dabei über Lippen gekommen.

Seit dem ersten Abend hatten alle Mädchen deutlich gemacht, was sie von Lilys Freundschaft zu Severus hielten und dass sie mit ihm nichts zu tun haben wollten.

Gut, dann wollte Lily eben auch nichts mit ihnen zu tun haben.
Aber das war einfacher gesagt als getan.

Niemanden in ihrem Haus zum Reden zu haben, machte... einsam.

Das war nicht neu für sie.

Ihr Leben lang war Lily schon anders gewesen als ihre Schwester oder die Mädchen in der Cokeworth Primary School. Sie passte nicht dazu.

Nicht etwa, weil sie sich nicht für Mode interessierte - denn das tat sie - oder nicht wusste, welcher Sänger zurzeit angesagt war - denn das wusste sie -, sondern viel mehr, weil sie nicht normal war, wie Petunia es liebend gern ausdrückte.

Wenn ihre Schwester geringschätzig die Nase rümpfte, die Mädchen hinter ihrem Rücken tuschelten oder ihre Eltern verängstigt die Köpfe zusammensteckten, begriff Lily, was es wirklich bedeutete, nicht bloß allein sondern einsam zu sein.

Als Severus ihr dann erzählt hatte, sie wäre eine Hexe, sie wäre etwas Besonderes und würde sich deshalb nicht in die kleine Stadt Cokeworth fügen, in der schon ein ungemähter Rasen zu einer Beschwerde der Nachbarschaftsvereinigung führte, hatte sie ihm geglaubt und gehofft, hier in Hogwarts ein wirkliches zu Hause zu finden.

Doch bislang war sie nur bitter enttäuscht worden.

Für jemanden, die sich ihr Leben lang wie eine Aussetzige gefühlt hatte, weil sie in der Welt der Muggel dem Elefanten im Porzellanladen glich, hatte sich ihr Leben nicht wesentlich verändert, seit sie die Schwelle der Schule für Hexerei und Zauberei übertreten hatte.

Sie war eine unter vielen. Ein Mädchen der Muggel in einer zauberhaften Welt.

Vielleicht wollte Lily aber nicht mehr so sein.
Vielleicht hatte sie es langsam satt, sich ständig einsam zu fühlen.

In Selbstmitleid zu baden, würde sie sich auch nicht besser fühlen lassen. Also klappte sie das Tagebuch zu, stopfte es zurück in ihren Nachtschrank und sprang auf.

Mit vor Aufregung zittrigen Fingern zupfte sie den schwarzen Stoff ihrer Schuluniform zurecht und machte sich auf den Weg aus dem Turm der Gryffindors nach unten zum Abendessen...

Während draußen vor den Schlosstoren der Herbst und die Kälte einherzogen, war es in der großen Halle gemütlich warm.

Das goldene Licht der Sonne fiel durch die spitzzulaufenden Bogenfenster und warf die letzten Strahlen - den Beweis des Tages - auf die Haustische, an denen sich die Schüler für das wie von Zauberhand zubereitete Abendessen versammelt auf den dunklen Holzbänken aneinander reihten.

Die vermischten Stimmen, das Klirren des Geschirrs, das Flackern und Knistern der Flammen in den steinernen Kaminen bündelten sich zu einem stetigen Brummen wie das eines Bienenschwarms, der über ihnen schwebte wie die dunklen Wolken, die das stürmische Gewitter ankündigten und an der Decke der großen Halle bedrohlich vorüberschwebten.

James Potter, Sirius Black und Peter Pettigrew hatten sich nur wenige Sitze von ihr entfernt niedergelassen und veranstalteten ein Wettessen, während ihre Blicke immer wieder zum Eingang huschten, als würden sie erwarten, Remus käme jeden Augenblick durch die Türen gehechtet.

Dieser ließ sich jedoch wohl außerordentlich viel Zeit, wenn selbst Lily vor ihm eingetroffen war. Da war es dann äußerst unwahrscheinlich, dass er noch aufkreuzen würde.

Womöglich hatte er einfach keinen Hunger.

Das konnte Lily verstehen - ihr selbst war der Appetit mit ihrem Eintreten ebenfalls abhanden gekommen.
Der neu gefundene Mut, sich allen zu stellen, war wieder in sich zusammengefallen und am liebsten wäre sie auf dem Absatz umgekehrt und zurück nach oben gerannt.

Automatisch wanderte ihr Blick direkt ans andere Ende der Halle zum Tisch der Slytherins.

Sonst konnte Severus' Anblick sie immer beruhigen.

Heute nicht.

Dort saß er, zwischen Lucius Malfoy und einem anderen Erstklässler, ein halb-verunsichertes halb-überhebliches Grinsen im Gesicht. 
Er sah glücklich aus, zufrieden. Hier gehörte er hin.

Und Lily freute sich für ihn. Einen Moment lang.

Sie hatte schon den ersten Fuß in seine Richtung gesetzt, als ihr einfiel, dass das nicht ging.

Severus hatte es ihr verboten, - nun, nicht verboten, aber die Art und Weise, wie er herumgedruckst hatte, als er ihr hatte erklären wollen, wieso es keine gute Idee wäre, auf diese Seite der großen Halle zu treten, hatte Bände gesprochen. (»Slytherin und Gryffindor... das ist so eine Sache...«)

Mit einem Mal war die Freude einem anderen Gefühl gewichen und Lily hasste sich für das nagende Tier in ihrem Innern, das ihr Herz zerpflückte und ihre Kehle zusammendrückte.

Wieso war Severus angekommen?
Wie hatte er sich einfach so ohne Probleme in sein Haus einfügen können?
Warum war er nicht hier bei ihr an ihrer Seite?

Er hatte Freunde gefunden - weshalb konnte sie das nicht auch?
Wo musste sie hingehen, um einfach zufällig in ihre neue beste Freundin hinein zu stolpern?

Eifersucht war eine widerliche Empfindung...

»Eulendreck!«, rief auf einmal ein Mädchen hinter ihr und stürmte durch das Portal in die große Halle, verfehlte Lily mit dem Arm, der sich gerade in den Ärmel seines Umhangs zwängte, nur um Haaresbreite und rannte sie auch noch beinahe über den Haufen.

»Zu spät, zu spät! Nicht schon wieder, Marlene! - Du bist doch nicht das blöde Kaninchen aus Alice im Wunderland.«

Mit einem dumpfen Knall stießen sie zusammen.

»Oh, entschuldige!«, sagte das Mädchen und rieb sich die Stirn. »Ich habe nicht aufgepasst.«

Alles in allem bot sie einen ziemlich zerstreuten Anblick. Die blau-bronzene Krawatte hing ihr ungebunden um den Hals, sie trug zwei verschieden farbige Socken und statt der schwarzen Schuhe, die zur Schuluniform zählten, trug sie bloß Pantoffeln an den Füßen.

Lily lächelte. »Kein Thema« Da war das Mädchen jedoch schon wieder weiter geeilt, ohne noch einmal zurückzublicken und Lily starrte ihr hinterher.

Alice im Wunderland ist eins meiner Lieblingsbücher, dachte sie, ehe sie sich selbst bespöttelnd den Kopf schüttelte.

»Lily, du bist ja doch gekommen.« Alice Fortescue winkte ihr zu und lenkte damit auch die Aufmerksamkeit der anderen Gryffindor-Erstklässler auf sie, unter deren Blicken sie am liebsten zusammengeschrumpft wäre.

James Potter grinste: »Alles klar, Evans? Schlägst du da Wurzeln?«

Seine Worte, genau das, was sie vor vier Tagen noch zu ihm gesagt hatte, entlockten ihr widerwillig ein Lächeln.

Mit einem Augenrollen ließ sie sich zwischen ihn und Alice auf die Bank fallen.

»Bist du eben erst gekommen?«, fragte Alice.

»Ich hatte dann doch Hunger.«

»Wie schön«, sagte Odessa, wenngleich ihr Tonfall das genaue Gegenteil verriet. Den anderen schien es nicht aufzufallen, vielleicht kümmerte es aber auch einfach niemanden.

»Wenn du bis eben im Gemeinschaftsraum warst, dann weißt du doch bestimmt, ob Lupin da oben noch herumlungert.« Erwartungsvoll hob Sirius die Brauen.

»Remus wollte in die Bibliothek«, wandte James - offenkundig nicht zum ersten Mal - ein.

»Niemand kann gerne so lange umgeben von Büchern sein, ohne sich selbst in Filchs Büro an den Ketten aufhängen zu wollen.«

»Ladys und Gentlemen, darf ich vorstellen: Sirius Black, Gelehrter.«

»Ach, sei still, Potter«, lachte Sirius und drohte an, ihn mit einer Bratkartoffel zu bewerfen.

Die Jungen kabbelten sich weiter, die Mädchen tratschten über die neuesten Gerüchte und Lily saß dazwischen, doch das erste Mal seit ihrer Ankunft in Hogwarts fühlte sie sich an ihrem Haustisch nicht völlig außen vor.

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Valorelle, Odessa und Thalia waren schon vor einer Weile zu Bett gegangen, als Alice sich quer über den Tisch beugte, um Olive gegen die Stirn zu schnipsen.

»He, was soll das?« Verärgert schlug Olive nach Alices Hand und riss damit Lily aus ihrer Starre, die sie die letzten Minuten aufrecht erhalten hatte, während sie James Potter dabei zugesehen hatte, der mit seinem Essen ein erstaunlich realitätsnahes Porträt von Sirius kreierte. Künstlerisch begabt war er ja...

»Schaut mal da«, Alice deutete auf eine Gestalt, die sich rasch aus der Halle bewegte. »Lavinia Zabini. Bertha Jorkins hatte so einiges über sie zu erzählen, sie sind ja im gleichen Jahr.«

Lustlos stocherte Lily weiter in ihrem Braten umher und schüttelte den Kopf. Sie hatte kein Interesse daran, dem Klatsch und Tratsch nachzugehen und schon gar nicht, wenn die Tratschtante Bertha Jorkins war.

Bertha war in der fünften Klasse in Gryffindor und Severus hatte Lily noch an ihrem ersten Schultag im Zug gewarnt, sich nicht in ihre Nähe zu wagen.

Olive hingegen war sogleich Feuer und Flamme für die Gerüchteküche. Interessiert setzte sie beide Ellenbogen auf die Tischplatte, wobei der eine in einer Schüssel Kartoffelbrei landete.

Das schien sie jedoch wenig zu bekümmern.

Alice lächelte verschwörerisch. Sie strich sich den blonden Bob hinter die Ohren, ehe sie fortfuhr: »Lavinia ist ja verlobt mit diesem Wyatt Graves, doch scheinbar hatte sie-«

Mit einem lauten Knall zog Olive beide Arme zurück an ihre Seite, wobei sie die Schale mit Kartoffelbrei und auch Lilys Glas Kürbissaft zu Boden beförderte.

Für einen Schlag wurde es gänzlich ruhig in der gesamten Halle, bevor die einzelnen ihre Gesprächsfetzen wieder aufnahmen, Olive mit hochrotem Gesicht die Schale aufhob und Professor McGonagall vom Lehrertisch aus die Sauerei mit ihrem Zauberstab verschwinden ließ.

»Verlobt?!«

Olives leise Entrüstung ging nicht unbemerkt unter.

Die Jungen warfen ihnen kurz interessierte Blicke zu, nur Sirius sah leicht panisch drein.

Ungläubig musterte auch Lily die Blondine mit offenem Mund. »Ist sie nicht erst fünfzehn?«

»Sie wird nächste Woche sechzehn, aber über die Verlobung wollte ich gar nicht reden, das ist ja ein alter Hexenhut.«

Olive rümpfte angewidert die Nase.

Alice ließ sich davon nicht stören und erzählte fröhlich weiter: »Lavinia ist zwar verlobt, aber das hat sie scheinbar nicht davon abgehalten, eine Beziehung zu führen... und nicht nur mit irgendwem - er ist ein Halbblut! Jetzt wird nicht bloß ihre Keuschheit infrage gestellt, son-«

Wieder unterbrach Olive ihre Freundin mit aufgeregtem Gezappel. Sie verschluckte sich an ihrem Kürbissaft und prustete los.

Auch Lily verkrampfte sich.

Er ist ein Halbblut!

Es spielt keine Rolle, hatte Severus ihr einst gesagt, als sie an ihrem liebsten Platz in Cokeworth unter den Bäumen im Gras gelegen hatten.

Doch er hatte sie auch ermahnt, vorsichtig zu sein und ihre Muggelabstammung wie ein Geheimnis zu hüten.

»Nur weil er ein Halbblut ist, ist er nicht weniger wert«, patzte Olive.

»Natürlich!« Alice hob beschwichtigend die Hände, ihr blasser Hals von roten Flecken übersät. »Ich sehe da natürlich kein Problem, aber die Zabinis... sie stammen zwar nicht aus Großbritannien, deswegen stehen sie nicht auf der Liste der Unantastbaren Achtundzwanzig, aber ihre Meinung weicht nicht von denen der Malfoys oder...«, sie senkte die Stimme, »der Blacks ab.«

Überrascht warf Lily Sirius einen kurzen Blick zu.

Zusammen mit James und Peter verspeisten sie gerade sein Gesicht aus Kartoffeln, Speck und Erbsen. Sie lachten, scherzten...

Schlammblut!, hatte er sie genannt.

Ihr Blick wurde glasig, da erhaschte sie schräg hinter Sirius' Haaren eine Bewegung, die ihr vertrauter war, als alles andere an diesem Ort.

Severus wartete zwischen Tür und Angel mit in die Umhangtaschen gestopften Händen, ein unruhiges Zucken um die Lider, bevor er realisierte, dass sie ihn bemerkt hatte und er in die Schatten zweier Gargoylfiguren zurückwich, in deren Mäulern die Flammen züngelten, als könnten sie tatsächlich mit Feuer spucken.

Lily schob ihren Teller von sich und stand auf, verabschiedete sich mit einem Lächeln.

Sev nickte ihr zu, als sie ihn erreichte und nahm ihre Hand, um sie aus der Halle in eine kleine dunkle Seitennische zu ziehen, wo er ungestört mit ihr reden konnte.

Außerhalb der erhitzten Halle packte Lily ein Kälteschauer, der eine Gänsehaut über ihre Arme und Beine schickte. 

Unverblümt kam er direkt auf den Punkt, als er sich sicher war, außer Hörweite zu sein: »Worüber habt ihr gesprochen?«

»Wie bitte?«

Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, als er fortfuhr: »In Slytherin wissen es schon fast alle. Sie wissen oder glauben zu wissen, dass du ein - dass du von Muggeln abstammst.«

»So wie du?«

Entrüstet trat er einen Schritt zurück. »Meine Mutter ist eine Hexe.«

Bei seinen Worten biss sich Lily auf die Lippen. Sie konnte ihm nicht widersprechen. Wie auch? Er sagte nichts als die Wahrheit und doch störte sie der Umstand, dass er so... bestürzt reagiert hatte.

»Wem hast du es erzählt?«, fragte er.

Lily zuckte mit den Schultern. »Ich, ich weiß nicht. Einige wussten es einfach... James Potter habe ich es erzählt, bevor du mich im Zug gefunden hast.«

Ungläubig über ihre Unbekümmertheit, versetzte ihre Reaktion ihn in Rage. Fassungslos ließ er die ausdruckslose Maske fallen und trat einen Schritt näher, er griff sie bei den Armen und sah ihr eindringlich in die Augen.

»Potter?! Natürlich! Er wird es überall herumerzählt haben. Lily, wie konntest du so dumm sein?«

Lily schnaubte. »James Potter war begeistert, als er erfahren hat, dass meine Familie normale Menschen sind!«

Severus klappte der Mund auf. Wütend zog er die Augenbrauen zusammen und strich sich eine fettige Haarsträhne hinter die Ohren.

Er lachte hohl auf. »Dieser Idiot? Er lacht sich bestimmt hinter deinem Rücken über dich kaputt. Du bist so naiv! Dabei zieht er nur über dich und Petunia her.«

Die Art und Weise, wie er den Namen ihrer Schwester aussprach, ließ Lilys Blut kochen, doch ehe sie etwas einwenden konnte, hatte er schon weitergesprochen.

»Lily, noch haben sie keine Beweise und für dich wäre es besser, wenn das auch so bleibt. Diese Olive Kemp bedeutet Ärger. Hast du nicht mitbekommen, wie sie sich weigert mit der Feder zu schreiben? Schon jeder in Slytherin hat von der dummen Muggel-Erstklässlerin gehört, die-«

Lily unterbrach ihn zornig und riss sich los. »Olive ist sehr nett! Wenn die Leute aus Slytherin so sind, wie du sagst, will ich mit denen auch gar nichts zu tun haben.«

»So werden alle reagieren.«

»Dann werden sie so auch über dich reden! Denn Olive ist ein Halbblut wie du, wie du eben so wichtigtuerisch betonen musstest!«

Das Kinn in die Luft gereckt, eilte sie auf die große Treppe zu, als sie plötzlich Remus Lupins Blick auffing, der gerade das Schloss durch das große Eichenportal verließ.

Die Türen schlugen lautlos zu, ohne jedwede Aufmerksamkeit zu erregen, doch Severus hatte es auch gesehen.

Für einen kurzen Augenblick war ihr Streit vergessen. Reglos sahen sie einander an, die Neugier ins Gesicht geschrieben.

»Das war dieser Lupin«, sagte Severus langsam. »Der hat bestimmt etwas vor...«

»Sei nicht albern«, entgegnete Lily unsicher.

Wieso war er nicht zum Abendessen erschienen und schlich sich nun aus den sicheren Mauern hinaus in die eisige Kälte?

»Vielleicht sollten wir einem Lehrer Bescheid geben«, schlug Lily vor, doch Severus schüttelte den Kopf.

»Wir sollten selbst nachsehen, was er treibt und ihn auf frischer Tat ertappen.«

»Wobei denn ertappen? Also ehrlich, Sev, ich werde Remus nicht hinterher schleichen, wenn er einen Spaziergang machen möchte.«

Severus schien Gefallen daran zu haben, den Gryffindor bei etwas zu erwischen, was ihn in wirkliche Schwierigkeiten bringen könnte.

Lily schüttelte den Kopf. »Es geht uns nichts an, was er da draußen macht. Also lass ihn in Ruhe, er hat dir nichts getan.«

»Er ist mit Potter und Black befreundet und er verbirgt irgendwas. Lily, ich kann seine Gedanken nicht spüren.«

Erschrocken riss sie die Augen auf. »Ich dachte, du machst das nicht mehr! Sev, das ist gruselig und falsch. Du kannst nicht einfach die Gedanken anderer Leute lesen.«

»Du weißt, dass ich es nicht kontrollieren kann! Aber ich sage dir, mit ihm stimmt was nicht und wenn ich nur-«

Nun platzte ihr endgültig der Kragen. »Ich hab gesagt, lass ihn in Ruhe!«

Und sie drehte auf dem Absatz um und eilte davon.

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Noch völlig zerstreut wanderte Lily nach etwa einer halben Stunde noch immer kreuz und quer durch die Gänge und Korridore, nicht recht ahnend, auf welchem Weg sie sich überhaupt befand.

Das System, in dem die Wege durch das Schloss führten, war einfach völlig wahllos und sinnfrei. Bis zu dem Tag, an dem sie endlich dahinter steigen würde, musste sie sich wohl weiter verlaufen und ziellos umherirren.

Lily war sich sicher, den blöden Wandteppich von Anne Boleyn, der zweiten Ehefrau von Heinrich VIII., schon mindestens zweimal passiert zu haben, doch sie hatte keine Ahnung, wo sie falsch abgebogen war.

Hoffnungslos lehnte sie sich gegen die kühle Steinmauer und schloss die Augen. Wäre sie doch bloß den direkten Weg gegangen und hätte sich nicht durch ihre Wut auf Severus leiten lassen.

Er hatte ihr versprochen, mit der Gedankenspielerei aufzuhören, nachdem er Petunia dadurch einmal zum Weinen gebracht hatte, dass sie sich so häufig hatte übergeben müssen, dass Mr. Evans mit ihr ins Krankenhaus gefahren war.

Lily seufzte.

Wenn das so weiterging, würde sie den Gemeinschaftsraum nicht vor dem Morgengrauen erreichen oder vielleicht auch noch dem Hausmeister Mr. Filch und seiner Katze in die Arme laufen... dann würde sie wirklich in Schwierigkeiten stecken.

Plötzlich hallten laute Schritte den Gang entlang. Und wildes Stimmengewirr folgte auf dem Fuße.

»Lavinia, jetzt warte doch!«

Lily blieb wie versteinert stehen.

»Ich will deine jämmerlichen Entschuldigungen nicht hören!«

Die beiden kamen näher, immer weiter auf Lily zu, während diese sich bloß ängstlich gegen die Steinmauer zu pressen wagte, in der Hoffnung, ein Riss würde sich auftun und sie verschlucken.

»Aber es tut mir leid!«

»Bist du taub?! ICH WILL ES NICHT HÖREN!« Ein tiefes Schluchzen erschütterte ihre Schreie, während Lily endlich ihre Bewegungsfähigkeit wiedererlangte und durch eine der vielen Türen in den erstbesten leerstehenden Raum huschte.

Die Tür ließ sie offen, bloß einen Spaltbreit.

Lavinia Zabini rauschte an ihr vorbei, der Junge, der ihr gefolgt war, griff ihr Handgelenk und hielt sie fest, zog sie zu sich zurück.

Lilys Augen weiteten sich, als sie erkannte, wen sie hier vor sich hatte.

Sie erinnerte sich an ihn noch ganz genau, Dumbledore hatte das Schulsprecherpaar schon an ihrem ersten Abend vorgestellt; Everett Radley.

Seine Stimme zitterte, als er weitersprach: »Du hast selbst gesagt, deine Familie würde es nie akzeptieren... du wolltest mich nicht.«

Ungläubig riss Lavinia Zabini sich los.

»Natürlich wollte ich dich! Ich wollte von zu Hause fortlaufen... ich hätte alles... ich hätte alle hinter mir gelassen, nur für dich! Doch dir war ich nicht mal ein paar mickrige Monate wert. Wie lange hat es gebraucht mich zu ersetzen?!«

»Ich-«

»Fahr zur Hölle! Und nimm die Schlampe Florence auch gleich mit!«

»Lavinia, bitte lass mich erklären...«

Die Slytherin ließ den Kopf hängen. Die ganze Kraft schien aus ihren Körper zu weichen, so waren ihre nächsten Worte kaum mehr ein Flüstern. »Es ist vorbei Everett, du und ich - das hätte nie funktioniert. Jetzt lass mich allein, ich... ich hab noch was zu erledigen, ich darf nicht zu spät kommen.«

»Moment... heute ist Vollmond - ihr macht das doch nicht immer noch? Lavinia, ich dachte, du hättest letztes Jahr aufgehört. Das ist gefährlich und Lucius Malfoy ist komplett Irre, dass er euch dazu anstiftet!«

»Du hast kein Recht, dich um mich zu sorgen. Und Narcissa und ich helfen nur, Mädchen sind in seiner sexistischen Weltanschauung nicht würdig genug, also kannst du beruhigt ins Bett gehen und von Schäfchen auf der Wiese träumen.«

»Lav, das sind alte Bräuche, Rituale, die seit Jahrhunderten nicht mehr ausgeführt wurden. Das ist gefährlich - jemand könnte sterben! Du darfst da nicht hingehen!«

Die Wut kehrte in Lavinias Worte zurück: »Du kannst mir gar nichts verbieten! Und wir opfern schließlich keine Jungfrau, also mach dir nicht gleich ins Hemd! Und selbst wenn, da wäre mein Leben wohl kaum in Gefahr...« Ihr spitzer Fingernagel bohrte sich in seine Brust. »Malfoy hat alles unter Kontrolle, also lass uns zufrieden! Endgültig - ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!«

Sie verschwand.

Everett blieb stumm und einsam zurück, ehe auch er in die dunklen Gänge tauchte, während seine Schritte im Nichts verhallten.

Zitternd und noch nicht ganz sicher, was sie soeben miterlebt hatte, verließ Lily ihr Versteck, nur um so schnell sie konnte in die entgegengesetzte Richtung zu rennen, in der die zwei Streithähne verschwunden waren.

Sie rannte durch einen Korridor nach dem nächsten, bog zweimal nach rechts und dreimal nach links, nahm gleich drei Treppenstufen auf einmal, ohne darauf zu achten, wie ihr langsam aber sicher die Luft ausging.

Das war doch einfach nur ein furchtbarer Abend, dachte Lily erschöpft, als sich das nächste Unheil schon über ihr zusammenbraute.

"Miau!"

Lily fuhr zusammen. Der steinerne Gang, in dem sie sich befand war düster, doch aus den Schatten strahlten ihr zwei kleine, gelbe Lampenaugen entgegen, die keiner geringeren gehörten, als dem kleinen Kätzchen von Mr. Filch, dem gemeinen Hausmeister höchst selbst.

Es war kein Geheimnis, dass der pelzige Vierbeiner genauso hinterlistig und gerissen war wie auch sein Herrchen.

Die Angst packte Lily bei den Schultern, aufgeschreckt wie ein scheues Reh, stolperte sie zurück, tiefer in den Korridor, den sie überhaupt nicht hatte aufsuchen wollen.

Sie musste sich beeilen, die Katze könnte Filch jeden Augenblick zu ihr führen... die Konsequenzen wollte sie sich nicht ausmalen. Und sie rannte.

Es wurde immer dunkler um sie herum, die Fackeln an den Wänden spärlicher. Ihre Schritte verhallten, als sie hinter einer Ritterrüstung in Deckung ging.

Wo war sie bloß gelandet?

»ARGH!« Eine dumpfe Stimme hatte aufgebracht losgebrüllt. Lily schreckte zusammen, zog die Knie bis hoch an ihre Brust und schloss die Augen.

Holz brach, als hätte jemand einen Stuhl gegen die Wand geschleudert.

»Zeit! Zeit! Ich brauche mehr Zeit! Ich habe keine Zeit!«

Wie im Wahn wiederholte die unbekannte Stimme die Worte, wieder und wieder - Mehr Stühle krachten, ein Gepolter wie von einer Tafel, die entzwei brach, nahm Lily die Luft zum Atmen.

Ein hohles Lachen erklang und dann füllten tiefe Schluchzer die Stille und hörten nicht mehr auf.

Es dauerte eine Weile, bis auch das Weinen verstummte, als endlich die Tür knarrend aufgeschoben wurde, schmiegte sich Lily enger an die Ritterrüstung, aus Angst, der Mann könnte sie bemerken.

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Lily rührte sich erst, als sie sich sicher war, die Luft wäre wieder rein. Ihre Beine schlotterten nicht bloß vor Kälte, während sie langsamen Schrittes wieder die große Treppe suchte, um doch noch irgendwie in ihren Gemeinschaftsraum zu finden, als ihr plötzlich eine Laterne vors Gesicht gehalten wurde.

»Schön, schön. Na, wen haben wir hier?«

Zu früh gefreut... er hatte sie doch erwischt.

Die Stimme des Hausmeisters lief ihr wie ein eisiger Schauer über den Rücken. Lily stolperte verängstigt zurück, doch da packte Filch sie schon bei den Armen, während sein Kätzchen um ihre Beine wuselte.

»Schleichst dich hier nachts herum, als würdest du etwas aushecken, he? - ja ja... nicht wahr, Mrs. Norris?«

Die Katze schnurrte.

Zu verängstigt, um ihm zu widersprechen, ließ sich Lily einfach mitziehen.

Vier Tage.

Solange hatte sie in diesem Schloss verbringen dürfen, bevor sie nun einfach hinausgeworfen werden würde.

Würde man ihren Zauberstab entzwei brechen?
Was würden ihre Eltern sagen?
Würde Severus sie dann so ansehen, wie er Petunia stets musterte?
Weil sie dann auch bloß noch gewöhnlich wäre?

Sie fand ihre Stimme wieder: »Mr. Filch, ich habe mich verlaufen. Ich konnte meinen Gemeinschaftsraum nicht finden. Ich schwöre Ihnen, ich wollte keine Regeln verletzen.«

Das Schnauben des Hausmeisters war Antwort genug. Er grinste hämisch. »Oh ja... kleine Regelbrecherin, ich lasse dich in Ketten von der Decke baumeln. Die Ketten habe ich noch, liegen bereit in der Schublade.«

Lilys Gesicht nahm die Farbe von Kreide an. »Oh Mr. Filch, bitte! Ich habe nichts getan! Ich habe mich nur verlaufen!«

Heiße Tränen schossen ihr in die Augen.

Der Hausmeister lachte bloß, doch plötzlich - Lily blickte auf, als ein helles Licht, ausgehend von der Spitze eines Zauberstabs auf sie zuschritt.

Mit wehendem magentafarbenen Umhang trat der großgewachsene Mann vor sie. Sein Lächeln so breit wie das der Grinsekatze, während er sich mit der freien Hand unwirsch über den Backenbart fuhr, als wollte er ihn glatt streichen.

»Guten Abend, Mr. Filch. Miss Evans.«

Professor Thorburn sah mit gerunzelter Stirn auf Lily herab, die hoffnungsvoll zu ihm aufblickte.

»Professor«, erwiderte Filch in abwertendem Tonfall. Lily stutzte. Zu den Lehrern war der griesgrämige Mann sonst eigentlich recht freundlich.

Der Lehrer in Verteidigung gegen die Dunklen Künste ließ sich davon jedoch nicht beirren, sein Lächeln blieb und Filch sah sich gezwungen den eisernen Griff um Lilys Arm zu lockern.

»Nun, Lily?«, fragte er, »wieso stromerst du denn noch herum?«

»Sie wollte etwas ausfressen!«, keifte Filch im selben Augenblick, als Lily »Ich habe mich verirrt« antwortete.

Der Professor lachte.

»Nun, Mr. Filch, ich kann Ihnen versichern, die gute Miss Evans, ist keine der Schülerinnen, über die sie sich sorgen bräuchten. Ich übernehme ab hier.«

Grummelnd und vor sich herschimpfend, verschwand der Hausmeister mit seiner Katze, doch nicht ohne Lily vorher noch einen mörderischen Todesblick zuzuwerfen.

Lily sah starr zurück - mit Professor Thorburn an ihrer Seite fühlte sie sich gleich viel mutiger.

Filch war vermutlich nur sauer, weil seine Ketten im Schrank versauern mussten und nicht zum Einsatz gekommen waren, wie er gehofft hatte.

»Danke, Professor«, murmelte Lily schließlich als Filch verschwunden war und nur noch sie beide im Schein des Zauberstabs da standen.

Thorburn grinste und wies ihr die Richtung, eine Hand an ihr Schulterblatt gelegt, so dass er sie mit sanfter Gewalt vorwärts schieben konnte: »Ich werde dich nicht jedes Mal vor einer Strafarbeit retten können, Lily, aber jetzt komm. Ich bringe dich in deinen Gemeinschaftsraum.«

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016. Eine Frage des Blutes

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