007. Ein schweres Erbe

𝒥𝒶𝓂ℯ𝓈 𝒫ℴ𝓉𝓉ℯ𝓇

27.03.1971

Eigentlich hatte sich James Potter den Morgen des 27. März, einem kühlen Samstag, immer ganz bestimmt vorgestellt.

Kaum, dass die Sonne über Godrics Hollow aufgegangen war, hätte der Junge mit den rabenschwarzen Haaren die Augen geöffnet und etwas verwirrt an die verschwommene Zimmerdecke geblinzelt, ehe er sich die Brille mit den runden Gläsern von seinem Nachttisch gefischt und sie sich auf den geraden Nasenrücken geschoben hätte.

Ganz langsam hätte er sich an die immer schärfer werdenden Konturen gewöhnt und den Blick zurück zu dem kleinen Tischchen mit dem Wecker in Form eines goldenen Schnatzes geworfen.

Nicht weit nach 06:00 Uhr in der Früh wäre es gewesen und noch ganz verschlafen, hätte er sich verwirrt am Kopf gekratzt, weil irgendetwas anders gewesen wäre, er wüsste bloß nicht was.

Ruckartig wäre er hochgefahren, wobei er die Dachschräge mit seinem Kopf nur knapp verfehlt hätte - noch fehlten ihm ein paar Zentimeter, um sich zu stoßen - und ganz laut hätte er verkündet:

»Dad! Mum! Heute ist mein Geburtstag!«

Aber nichts davon sollte so eintreffen, denn um Punkt Mitternacht, als James noch seelenruhig und nichts ahnend im Land der Träume schlummerte, öffnete sich seine Zimmertür einen Spalt breit und herein huschte sein Vater, Fleamont Potter, mit einem ganz eigenen Plan...

»James«, flüsterte er.

Doch sein Sohn wäre vermutlich nicht einmal dann aufgewacht, wenn ein Klatscher durch das Fenster gebrochen wäre.

»Jamesie!«, rief Fleamont so laut wie er sich erlaubte, ohne seine Frau eine Etage tiefer ebenfalls aus ihren Schlaf zu reißen und beobachtete erfreut, wie sich der junge Potter von einer auf die andere Seite rollte, quängelnde Geräusche ausstoßend.

»'s war ein Foul«, nuschelte er in sein Kissen, »Isch hab' den Schnatz zuerst gefang'n.«

Fleamont schüttelte lächelnd den Kopf. Natürlich träumte James von nichts anderem als Quidditch.

»Gryffindor gewinnt den Hauspokal!«, rief er und erhielt genau die Reaktion, die er sich gewünscht hatte.

Erschrocken riss James die Augen auf, die Arme in die Luft gestreckt - so weit die Dachschräge es zuließ - und stieß einen Jubelruf aus. »Ich habe gewonnen!?«

Als ihm jedoch auffiel, dass er weder auf einem Besen saß, es dazu noch tiefste Nacht und er auch noch immer kein Gryffindor war, musste er erst einmal ordentlich gähnen und betrachtete seinen grinsenden, im Türrahmen lehnenden Vater, einen schon in die Jahre gekommenen Zauberer mit graumeliertem zerzausten Haar.

Er musste so perplex ausgesehen haben, dass es Fleamont gleich noch ein breiteres Grinsen entlockte und kniff angestrengt die Augen zusammen.

Er wusste, dass er seinen Vater vor sich hatte, auch wenn er ohne Brille das Sehvermögen eines Maulwurfs besaß - was er nicht wusste, war wieso sein Vater mitten in der Nacht in seinem Zimmer auftauchte, um ihm etwas von erfundenen Quidditchpokalen zu erzählen.

»Dad? Was machst du hier?« Blind tastete James auf dem Nachttisch nach seiner Brille und schob sie sich auf die Nase.

»Jamesie, welchen Tag haben wir heute?«

»Es ist Nacht.« Er deutete auf die vor den Fenstern herrschende Dunkelheit. »Stockfinster ist es da draußen, siehst du?«

Fleamont hob abwartend eine Augenbraue. »Jamesie, welchen Tag haben wir heute?«

»Keine Ahnung, Dad! Samstag? Freitag? Das ist deine größte Sorge um diese Uhrzeit? Ehrlich, alter Mann, du solltest schlafen gehen.«

Ein weiterer Gähner übermannte den jungen Potter und ließ ihn sich zurück in die Kissen fallen.

»Jamesie?«

»Was?«

»Welches Datum haben wir heute?«

»Oh, bei Merlin, heute ist der-«, er stockte.

Natürlich. Wie hatte er das vergessen können?

Ruckartig verfrachtete sich James wieder in die Vertikale, er strampelte sich von seiner Decke frei, der rot-goldene Quidditchpyjama mit den kleinen Klatschern, Schnätzen und Quaffeln stand in keinerlei Kontrast zu den sonst ebenfalls rot-goldenen Bettbezügen, den rubinfarbenen Wänden und daran befestigten Quidditchpostern.

James stolperte über seine eigenen Füße, als er sich endlich aus seinem Bett geschält hatte, die Brille rutschte ihm von der Nase und er konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf den Boden geschlagen wäre, rappelte sich wieder hoch und eilte an die Seite seines Vaters.

Jede Faser der Müdigkeit war aus seinem Körper verschwunden und hatte bloß noch ein wandelndes Energiebündel zurückgelassen, das sich kaum noch zügeln konnte vor Vorfreude.

»Dad! Heute ist mein Geburtstag! Heute ist mein elfter Geburtstag!«

Nie hatte ein Kind fröhlicher ausgesehen.

»Ich weiß, kleiner Schnatz. Heute wirst du zum Mann.«

━━━━━━⊱❂⊰━━━━━━

James hatte lautstark protestieren wollen, als sein Vater ihn bis hinab in den Keller von Potter Manor geführt hatte. Es war nun wirklich nicht die Zeit, sich alte Fotos von ihm als kleines Baby im Quaffle und Schnatz - Halloweenkostüm anzusehen, unabhängig davon, wie süß er damals gewesen war, doch ein einziger Blick seitens Fleamont hatte gereicht und James war verstummt.

Dennoch fragte er sich, was sein Vater hier unten vorhatte. Das Kellergewölbe wurde meist nur von Fleamont selbst benutzt, wenn er mal wieder an seinen Zaubertränken und Mixturen arbeitete, und nicht, um gemütlich zusammen eine Geburtstagstorte zu verspeisen.

Besonders da sich die feuchte Luft hier unten so gerne mit dem Geruch von Staub, Keller und den vielen Abgasen, der Zaubertrankstation vermischte. Und es waren wirklich viele Abgase.

Nach all den Jahren, in denen Fleamont den Sleekeazy-Haar-Zaubertrank für Potter's Potions erfunden hatte, konnte er das Rezept noch immer nicht ruhen lassen und musste stets - sehr zu James' und dessen Mutters Bedauern - daran feilen, um ihn zu perfektionieren (und dafür nicht selten ihre Haare als Testobjekt zu missbrauchen).

Egal wie viele Stunden Fleamont deswegen bei schwacher Beleuchtung im modrigen Keller verbringen musste, es war genau das, was er aus Leidenschaft tat. Und die tiefe Etage wurde sein persönlicher Rückzugsort

Wie die Muggel-Männer in ihren Garagen stets an den vierrädrigen Blechkisten herumschraubten, experimentierte Fleamont Potter eben mit seinen Zaubertränken und ließ dabei nicht selten etwas explodieren. Doch das war eben das Risiko, das man einging, um mit einem Zaubertrankmeister verheiratet zu sein, wie James' Mutter Euphemia stets mit einem Lächeln auf den Lippen zu sagen pflegte.

Sie stiegen Stufe um Stufe weiter hinab, noch nie war James der Weg so weit vorgekommen und die Anspannung, was sein Vater wohl geplant haben könnte, stieg ins Unermessliche.

Ihre Schritte hallten durch die Dunkelheit, bevor Fleamont seinen Zauberstab zückte und es Licht werden ließ.

»Lumos!«

Ein heller Schein flutete das Kellergewölbe und offenbarte gleich mehrere verwinkelte Gänge, die in alle möglichen Richtungen führten.

Es war nicht James erster Ausflug hier hinab, um die uralten Gänge dieses Hauses nach Geheimtüren, versteckten Zwischenräumen oder Schatzkammern zu durchsuchen, doch noch nie war er so aufgeregt gewesen, wie an diesem Tag mit seinem Vater an seiner Seite.

»Und welchen Weg möchtest du nehmen«, fragte Fleamont breit lächelnd und deutete auf die sieben verschiedenen Türen, die alle einen anderen Gang offenbarten und - und das wusste James, weil er schon vier von ihnen erkundet hatte - gänzlich unterschiedliche Ziele ansteuerten. Weder kreuzten sich die Gänge, noch konnte man durch angrenzende Räume von einem in den anderen überwechseln.

»Ist das eine Fangfrage?«, lachte James nervös, »Wenn ich den falschen Gang wähle, gibt es keine Überraschung oder was ist dein Plan?«

Fleamonts Augen funkelten. »Such dir eine Tür aus. Wähle mit Intinkt.«

Instinkt, dachte James und rollte innerlich mit den Augen, doch sein Ehrgeiz war geweckt.

Sieben Türen, sieben Gänge, eine Überraschung.

Ohne das er genau darüber nachgedacht hatte, strich er die Türen Eins, Drei, Vier und Sechs automatisch aus seiner Gleichung. Er wollte heute Nacht nicht in einen Gang zurückkehren, den er schon erforscht hatte, als er noch keine elf Jahre alt gewesen war. Heute Nacht sollte alles anders sein, anders werden - sein Vater hatte es gesagt, heute Nacht war er zum Mann geworden - er war jetzt groß, ein richtiger Abenteurer, ein junger Zauberer, der in wenigen Monaten endlich nach Hogwarts aufbrechen durfte.

Und deshalb war ihm klar, welche Tür er öffnen würde.
Er würde sich dem Gang stellen, vor dem er sich schon immer gefürchtet hatte, der Korridor, der Licht verschluckte und jene Kälte ausstrahlte, die ihn immer wieder hatte zurückweichen lassen.

»Diese da.« Mit zitternden Fingern deutete er auf Tür Nummer Fünf und drehte den Knauf.

Sofort kroch ihm die Kälte in die Knochen.

»Ein furchtloser Abenteurer«, kommentierte Fleamont mit einem Lächeln, das so viel Wärme spendete, dass sich James schon gleich viel sicherer fühlte.

Wovor hatte er eigentlich Angst?
Das hier war immerhin sein Dad, mit ihm an seiner Seite brauchte er sich vor nichts und niemandem fürchten, schon gar nicht vor der Dunkelheit.

Fleamont hob den Zauberstab und ging voran, den Kopf leicht gebückt, um ihn sich nicht an der tiefhängenden Kellerdecke zu stoßen.

James folgte ihm immer dicht auf den Fersen, um sich ja nicht aus dem sicheren Lichtkegel zu bewegen, huschte wie Fleamonts Schatten hinter ihm her.

Wie schon so häufig fragte er sich, wie alt dieses Haus mit den riesigen Gewölben und Gängen wohl sein konnte und wie lange es nun schon tatsächlich im Besitz seiner Familie war, doch egal wie oft er seine Eltern auf dieses Thema ansprach, erhielt er nie eine zufriedenstellende Antwort. (»Ach, schon seit Ewigkeiten, Jamesie.« »Sehr lange, mein Schnatz, und jetzt iss endlich dein Gemüse!«)

Sehr lange, stellte James sachlich fest, während er mit den Fingern die steinernen Wände entlangfuhr und dabei Staubschichten aufwirbelte, die Merlin noch persönlich gekannt hatten.

Hustend und prustend stolperte er seinem Vater nach.

»Weißt du wie wichtig die Geschichte ist, James?«, fragte Fleamont nach einer Weile, in der sie stumm dem Gang gefolgt waren.

Überrascht hob sein Sohn den Kopf. »Welche Geschichte? Und bitte, denk dir nicht wieder irgendwelche Geschichten aus, Dad, du bist Zaubertrankmeister und kein Schriftsteller. Von dem Hässchen, das Heiler im Mungos werden wollte, bekomme ich heute noch manchmal Albträume.«

Ein heiseres Lachen entwich Fleamonts Kehle, doch er schüttelte den Kopf.

»Ich spreche von den Märchen von Beedle dem Barden.« Er bückte sich unter einem Rohr hindurch un fuhr fort: »Manche Geschichten sind wichtig James, manche Geschichten muss man bloß hören und manche muss man verstehen.«

James fuhr erneut mit den Fingern über den Staub der Wände und runzelte die Stirn. »Hast du ein paar zu viele Zaubertrankdünste eingeatmet oder veralberst du mich? Das ist nicht nett, ich habe heute Geburtstag.«

Fleamont grinste ihm über die Schulter zu. »Da du ja scheinbar die Weisheit mit Löffeln gegessen hast, erzähl mir doch die Geschichte der Drei Brüder.«

»Wirklich?«

»Ohja.«

»Und du hast doch zu viele Zaubergase eingeatmet«, murmelte James und räusperte sich. Wenn sein Vater die Geschichte hören wollte, dann sollte es ihm recht sein. »Es waren einmal drei Brüder, die wanderten auf einer einsamen, gewundenen Straße in der Abenddämmerung dahin...«

Der Gang machte eine Abzweigung nach rechts und führte gleich darauf wieder nach links. Über den Boden verliefen kleine Rohre wie die Wurzeln eines alten Baumes.

»War es nicht Mitternacht?«, fragte Fleamont und begann fröhlich zu pfeifen.

James rollte mit den haselnussbraunen Augen. »Nein. Aber wenn du weitererzählen willst...«

»Oh nein, du machst das super.«

Mit einem tiefen Seufzer fuhr James fort: »Nach einiger Zeit kamen die Brüder an einen Fluss, der zu tief war, um hindurchwaten und zu gefährlich, um hindurchschwimmen zu können. Aber die Brüder waren Zauberer und ließen einfach eine Brücke über dem tückischen Wasser erscheinen...«

Abrupt hielt James inne, als sein nächster Schritt von einem platschenden Geräusch begleitet wurde.
Blinzelnd betrachtete er den Boden unter sich. Wasser trat aus manchen der Rohre aus und füllte den restlichen Gang soweit der Schein des Zauberstabs reichte.

»Äh, Dad? Haben wir einen Rohrbruch?«

Sein Vater schmunzelte breit. »Es scheint fast so, meinst du nicht?«

Überfordert beobachtete James seine Sneaker, die er sich vor ihrem Ausflug in den Keller noch schnell übergezogen hatte und wie sie immer weiter im Wasser verschwanden.

»Tu was, Dad!«

»Ich?« Beinahe ehrlich überrascht, griff Fleamont sich an die Brust.

»Du hast den Zauberstab, falls du das vergessen haben solltest.«

»Ach, mir ist aber gerade nicht nach Zaubern.«

War sein Vater nun völlig übergeschnappt?
Ob er sich an einer der zu tief hängenden Kellerdecken den Kopf gestoßen hatte? Oder ob er auf seine alten Tage einfach nur senil wurde?

James machte sich eine mentale Notiz, die Feuerwhiskyflaschen von nun an mit Markierungen zu versehen, um ihren Füllstand besser im Auge behalten zu können.

Wasser schwappte über den Rand seiner Schuhe und tränkte seine Socken.

»Dad, jetzt komm schon. Wie lange willst du diese Schnatzjagd noch hinauszögern.«

»Wo ist denn deine Abenteuerlust geblieben?«, säuselte Fleamont.

»Die ist mit meinen Socken baden gegangen.«

Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust und besah sich die auslaufenden Rohre genauer, ehe er aufschaute und fragte: »Was würden die drei Brüder machen?«

»Weglaufen.«

Enttäuscht schüttelte Fleamont den Kopf. »James. Verstehen nicht nur zuhören.«

»Ach komm, sie sind aus Papier, da ist Wasser bestimmt das Letzte, was sie gebrauchen können, so sehr wie sie dem Tod entkommen wollen.«

Er trat gegen die Wassermasse zu seinen Füßen und spritze eine der Wand in einem schönen Bogen nass, dunkel zeichnete sich das Wasser auf der hellen Farbe ab und beinahe wie das Geländer einer kleinen Brücke zogen die Tropfen ihre Spuren über die Steine.

»Eine Brücke«, sagte er.

»Ja?«, fragte sein Vater.

»Die Brüder haben eine Brücke über den Fluss gezaubert, aber, naja, uns wird eine Brücke auch nicht helfen. Das hier ist kein Fluss, das ist ein Rohrbruch.«

»Ein Problem wie das andere. Was wäre eine Lösung?«

»Reparo?« James zuckte mit den Schultern. »Du bist immer noch derjenige mit dem Zauberstab.«

»Ach, das können wir ändern.« Und er reichte James den Stab, augenblicklich erlosch das Licht und hüllte sie in alles einnehmende Dunkelheit.

Das Rauschen des Wassers füllte die anhaltende Stille und die Feuchtigkeit entzog der Umgebung den letzten Rest Wärme.

Sofort schnellte James Hand nach vorne und krallte sich in den Pullover seines Vaters.

Vielleicht war er elf Jahre alt, vielleicht war er nun ein großer Junge, wie seine Mum es gerne nannte, oder ein junger Mann, aber seinen Dad neben sich zu wissen, war ein so beruhigendes Gefühl, dass es James egal war, wie alt er auch sein mochte, er brauchte seinen Dad.

»Ich bin hier, James«, versicherte Fleamont seinem Sohn und legte den Arm um seine Schultern. »Versuch es, sobald du soweit bist.«

Das Wasser stand ihnen nun bis an die Knöchel.

»Aber das ist überhaupt nicht mein Zauberstab, er wird nicht einfach... es wird nicht richtig funktionieren.«

»Er wird sich nicht gegen dich wehren.«

»Und was ist mit dem Erlass zur vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger?«

»Hat dich das je gestört, wenn du hinter unserem Haus mit Marlene Quidditch gespielt hast? Es hat durchaus seine Vorteile in einem Zauberhaushalt aufzuwachsen.«

»Aber, Dad, was wenn-«

»James, versuch es doch einfach. Ich erinnere mich da an einen Jungen, der gar nicht warten konnte, seinen ersten Zauberstab in den Händen zu halten. Was soll schon passieren?«

Kleinlaut gruben sich James' Finger tiefer in den Pullover seines Vaters, während er murmelte: »Nichts... was wenn nichts passiert?«

»Dann versuchst du es eben nochmal. Was ist schlimmer? Zu versagen oder nie die Gelegenheit dazu zu bekommen, weil man es nicht einmal versucht hat?«

James rollte grinsend mit den Augen. »Jetzt rezitierst du Mums Kalendersprüche.«

Fleamont lachte. »Das macht sie nicht weniger wahr.«

Das Wasser leckte gerade an seinen Hosenbeinen, als James die Augen schloss und den Zauberstab fester packte.

Er hatte sich bislang nie vor einer Herausforderung gedrückt, er würde jetzt nicht damit anfangen.

Reparo war einer der einfachsten Zaubersprüche, die die Erstklässler in Hogwarts im Verwandlungsunterricht erlernten. Er kannte ihn gut, hatte seine Eltern schon oft dabei beobachtet, wenn sie ihn gewirkt hatten oder sogar Professor Minerva McGonagall über ihn philosophieren hören, als die Lehrerin der Schule für Hexerei und Zauberei wie so oft auf einen Tee bei seiner Mutter zu Besuch gewesen war.

Er kannte diesen Zauber, er wusste, was er tat.
Und dann schwang er den Zauberstab.

»Reparo

Erst öffnete er ein Auge, dann das zweite, als das Wasser verschwand und den Boden staubtrocken zurückließ.

Zwei Fackeln in den Ecken des Ganges entzündeten sich von selbst. Von den Rohren war nichts mehr zu sehen, stattdessen war genau dort eine Holztür in den Stein eingelassen, wo James die Wasserspritzer verteilt hatte.

Mit offenem Mund wandte er sich an seinen Vater, der stolz zu ihm hinunter blickte. »Das hast du toll gemacht.«

James' Wangen glühten, doch er konnte sich wirklich nicht erklären, wie er das hinbekommen hatte und wo die Tür auf einmal hergekommen war.

Seine Stimme schien die Luft zu durchschneiden, als wäre sie aus Wachs, doch er musste die Frage stellen: »War das wirklich... ich?«

Fleamont lächelte bloß und deutete dann auf die Tür.

»Dann wollen wir mal.«

Er zog ein um seinen Hals hängendes Lederband unter seinem Kragen hervor, an dem ein im Fackellicht schimmernder, kleiner Schlüssel baumelte.

Noch immer wie in Trance beobachtete James seinen Vater dabei, wie sich dieser am Türschloss zu schaffen machte und das alte Holz schließlich mit einem ohrenbetäubenden Knarzen aufschob.

Ein dicker Schwall Staub vermischt mit dem vermoderten Geruch eines sterbenden Doxy-Schwarms wehte ihnen entgegen.

»Merlin!«, rief Mr. Potter erfreut aus, der den naserümpfenden James ignorierte. »Ich bin ewig nicht hier unten gewesen.«

»Wa-was du nicht... nicht sagst...«, hustete sein Sohn, doch als Fleamont mit einem einfachen Schlenker seines Zauberstabs den ganzen Raum erleuchtete, blieben dem jungen Potter die nächsten Worte im Halse stecken.

Ein großes Büro, nein, mehr eine Art Bibliothek - alt und verstaubt zwar, aber nicht weniger gewaltig - lag vor ihnen. James Augen weiteten sich auf die Größe von Untertassen, während er mit offenem Mund eintrat und erstaunt die Regale bewunderte.

Mit seinen Fingern fuhr er die Einbände entlang, runzelte bei einigen der Titel die Stirn, sagte jedoch nichts. Vielleicht war James nie jemand gewesen, der besonders viel Wert auf Bücher gelegt hatte, doch konnte er das überwältigende Gefühl, inmitten von so viel Wissen zu stehen, nicht leugnen.

Dagegen war die Potter-Bibliothek im zweiten Stock mit ihren gerade einmal dreitausend Werken nur ein schlechter Witz.

Die Bücherregale zogen sich in mehreren Reihen durch den Raum entlang, trafen sich schließlich am gegenüberliegenden Ende in einem Torborgen, der den Weg in ein angrenzendes, mit dunkelrotem Samt verkleidetes Zimmer bot, in dessen Mitte ein Drudenstern aus Kerzen gelegt worden war und eine alte metallene Truhe das Zentrum markierte. Noch weitaus mehr Kerzen in verschiedenen Größen und Formen fluteten die Regale, säumten die Wände und schwebten an der tiefhängenden Decke.

»Genial«, hauchte James ehrfürchtig.

Ein Grinsen huschte über Fleamonts Gesicht. »Oh ja, da magst du Recht haben, Jamesie. Trotz der dicken Staubschichten.«

»Aber wofür das Pentagramm und was sollen die vielen Kerzen?«

Er hörte förmlich schon die Stimme seiner Mutter in seinen Ohren schallen, die ihn über die Brandgefahr und Luft zum Atmen belehrte.

»Ach komm, James. Die Etikette muss gewahrt bleiben.« Ein weiterer Schwenker des Zauberstabs und alle Kerzen entflammten. »Ein feierlicher Schwur kann nicht einfach bei Tageslicht gesprochen werden.«

Aufgeregt horchte James auf.

Ein feierlicher Schwur? Damit scherzte man nicht.
Das waren die Versprechen, die niemals gebrochen wurden, die Bekenntnisse, mit denen man sich gänzlich offenbarte.

Sein Vater hatte ihn früh gelehrt, dass man einen feierlichen Schwur, nicht leichtfertig ablegte, er wollte gut überlegt sein.

Vergiss die Unbrechbaren Schwüre, Jamesie, hatte sein Vater immer gesagt, Willst du dir etwas wirklich selbst beweisen, dann schwöre feierlich!

»Und wie ging die Geschichte weiter, James?« Fleamont positionierte seinen Sohn an der Drudenfußspitze und trat selbst an die altertümliche Truhe. Seine alten Knochen knackten, als er sich davor kniete und mit einer leisen Beschwörungsformel das Schloss aufspringen ließ.

James war von dem Schauspiel viel zu verzaubert, als dass er sich wirklich auf die Frage konzentrieren konnte. Die drei Brüder waren ihm völlig egal.

»Was hat das denn hiermit zu tun?«, nörgelte er ungeduldig.

»Wie ging die Geschichte weiter?«, wiederholte Fleamont, ohne auf den Zwischenruf einzugehen.

James stieß heiße Luft zwischen den Zähnen aus. »Der Tod fühlte sich um ihren Tod betrogen. Gerissen jedoch wie er war, spielte er ihnen vor, ihre Zauberkunst belohnen zu wollen.« Seine Mundwinkel zuckten. »Bekomme ich jetzt auch eine Pseudo-Belohnung, die mich eigentlich nur ins Verderben stürzen soll?«

Fleamont grinste. »Was würdest du dir denn an Stelle der Brüder wünschen?«

Einen Moment lang musste er überlegen, doch dann war die Antwort klar: »Die Quidditchweltmeisterschaft. Ich wäre der jüngste Nationalspieler aller Zeiten!«

»Natürlich. Dass ich nicht gleich auf diese Idee gekommen bin, schockiert mich selbst ein wenig.«

»Mach dir nichts draus, Dad. Das passiert den Besten und du hast immerhin die Ausrede steinalt zu sein.«

Echauffiert stützte Fleamont die Hände in die Hüften. »Komm du erst in mein Alter und dann sprechen wir noch einmal darüber, wie steinalt du dann bist.«

»Ich werde niemals alt, Dad! Ich werde höchstens reifer.«

»Wie Käse?«

»Wie edler Elfenwein!«

Sein Vater verkniff sich das Lachen und verschwand hinter dem Deckel der Truhe und langte hinein. Sein ganzer Arm verschwand im dafür viel zu kleinen Inneren. Man hörte ihn herumwühlen, mehrere Bücherstapel umwerfen und Glas zerspringen - sehr zum Missfallen von James' Vater, der angesäuert die Nase rümpfte -. (»Das war edler Elfenwein...«)

Schlussendlich zog Fleamont jedoch einen ziemlich großen Stoffetzen hervor.

»Und wenn du dich für einen der drei Gegenstände aus der Geschichte entscheiden müsstest? Welchen würdest du dir wünschen.«

»Den Umhang natürlich, Dad! Wozu brauche ich den Stein der Auferstehung? Alle Menschen, die mir wichtig sind, sind maximal eine Kaminreise weit weg. Der Zauberstab ist ganz cool, aber viel genutzt, hat er dem ersten Bruder auch nicht.«

James zuckte mit den Schultern.

»In der Geschichte wird deutlich, dass nur einer der Brüder eine gute Wahl getroffen hat. Es wäre ziemlich dumm, sich nicht genauso zu entscheiden. Die Moral von der Geschicht' und so...«

Ein Umhang, der unsichtbar machen konnte: ein Tarnumhang.

Es wäre nicht seine erste Wahl gewesen, wenn James wie in der Geschichte dem Tod persönlich gegenübergestanden hätte. Es war weder der schnellste Rennbesen der Welt noch ein Vertrag für die coolste Quidditchmannschaft aller Zeiten, die Montrose Magpies.

Aber unsichtbar zu sein, bedeutete frei zu sein, frei zu wandern, wohin man wollte, ohne die lästigen Augen der Erwachsenen in seinem Rücken zu spüren.

Der Umhang war ein Freifahrtschein, ein Ticket für unbändige Abenteuer und geheime Expeditionen.
Für einen Entdecker wie James genau richtig.

»Nun, da bin ich aber froh«, sagte Fleamont und schüttelte den Stofffetzen aus.

Im Licht des Kellers schimmerte er, beinahe als bestünde er aus flüssigem Silber, als wäre er aus Wasser gewebt worden.
James musste nicht zweimal überlegen, um zu wissen, um was es sich dabei handelte, doch bei Merlins linkem Hosenbein - das konnte doch nicht sein?

»Dad, das ist-«

»Ein Familienerbstück.« Ein Glucksen fiel seinem Vater über die Lippen. »Weitergereicht von einer Generation an die nächste, bis ein glücklicher Potter in ein gutes Haus einheiratete und dieser Schatz nun dir gehören darf.«

James' Gedanken rasten.

Er wusste genau wie schwierig es war, solch eine Kostbarkeit zu erwerben, selbst für Familien mit einem Vermögen wie dem ihren.

Als er die Worte seines Vaters jedoch begriff, stutzte er.

»Über Generationen? Dann dürfte er aber nicht mehr wirklich gut funktionieren, Dad...«

»Das ist einer der ganz besonderen Sorte«, erwiderte Fleamont stolz, »Und nun gehört er dir, dein eigener Tarnumhang.«

Er erhob sich und faltete den Stoff wieder zusammen, ein belustigtes Funkeln in den Augen.

»Aber jetzt, mein Sohn, musst du mir ein Versprechen geben.« Die Flammen der Kerzen flackerten auf, auch sie machten sich bereit. »Du musst feierlich schwören, dieses Familiengeheimnis zu bewahren, zu ehren und - das war die Bedingung deiner Mutter - nicht zu missbrauchen.«

Das Feuer streckte sich immer höher, färbte sich tiefrot.

James zögerte keine Sekunde. »Ich schwöre feierlich!«

Und mit der letzten Silbe erloschen die Kerzen, das Echo seiner Worte hallte durch die Kellergänge und dann war es dunkel und still.

James trat näher, die Schuhsohlen seiner Sportschuhe gaben auf den klammen Steinfliesen ein knatschiges Geräusch von sich, als würde er über nasses Moosgummi laufen.

Mr. Potter brachte den Kronleuchter an der Decke zum Leuchten.

James griff nach dem kalten Stoff und erschauderte, als seine Finger darüber streiften. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen bis hoch in seinen Nacken aus. »Genial...«

Sein Vater strahlte ihm entgegen.

»Meine Jahre in Hogwarts wurden erst so richtig interessant, nachdem ich dieses Prachtstück von meinem Vater erhalten habe, diese Erfahrung wollte ich dir nicht vorenthalten.«

»Ich dachte, ich soll keinen Blödsinn anstellen?« Belustigt hob James eine Augenbraue.

»Man kann Abenteuer erleben, ohne die Schulregeln zu brechen... oder zumindest, ohne sich erwischen zu lassen.« Ein Augenzwinkern. »Jag also nicht die Schule in die Luft, aber hab viel Spaß, mein Sohn.«

Perplex schüttelte James den Kopf.

Lag er doch noch schlummernd in seinem Bett und all das war bloß ein Traum, zu schön um wahr zu sein?

»Los - jetzt probier den Umhang doch endlich einmal an! Ich will sehen, wie er dir steht!«, rief Fleamont aufgeregt.

Noch immer zögerlich und nun sichtlich irritiert schüttelte James den zusammengefalteten Umhang aus und warf ihn sich über die Schultern. Der Tarnumhang war aus einem bemerkenswert leichten Stoff, als trüge er keinerlei Gewicht.

James sah an sich hinab und stellte zufrieden fest, dass er vom Hals abwärts völlig unsichtbar war.

Bis zu eben diesem Augenblick hatte er wahrhaftig gedacht, sein Vater würde sich vielleicht doch nur einen Spaß erlauben.

Aber nein...

»Und? Wie sehe ich aus?«, fragte James grinsend.

»Auffallend unauffällig!«

»Genial.«

»Jetzt müssen wir aber wieder ab nach oben, ich bin sicher deine Mutter hat den Kuchen für einen...« Fleamont warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, »Ein Uhr morgens - Snack schon bereitgestellt.«

James konnte es nicht fassen. Übersprudelnd vor Glück warf er sich in die Arme seines noch immer lachenden Vaters. »Danke, Dad!«

Dieser drückte ihn noch enger an sich. »Man wird als junger Mann nur einmal elf.«

━━━━━━⊱❂⊰━━━━━━
007. Ein schweres Erbe

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top