𝐈𝐬𝐚

Berlin, 20. November 2085

,,Kennst du das Trolley-Problem?"
,,Das was?"
,,Das Trolley-Problem." Isa nippte an ihrem Glas. Die letzte Pfütze Bier schwappte darin hin und her. ,,Es beschreibt eines der bekanntesten Szenarien der Philosophie."

,,Erspar's mir." Elias' Glas war erst zur Hälfte geleert. Stattdessen hatte er sich mit einer Strickdecke in die Sofaecke gekuschelt, den Kopf im Nacken, halb auf der Lehne. ,,Du bist mir zu philosophisch, wenn du angetrunken bist."

Isa lachte. ,,Und du wirst mürrisch. Also, pass auf: Du bist ein Weichensteller bei der Bahn."
Elias seufzte dramatisch. ,,Da arbeite ich lieber bis ans Ende meines Lebens in der Kanzleramtsverwaltung."

,,Und es kommt ein Zug auf das rechte Gleis zugefahren", fuhr sie unbeirrt fort. ,,Auf dem rechten Gleis liegen fünf Menschen. Auf dem linken einer. Wenn du den Zug fahren lässt, sterben fünf Menschen. Wenn du die Weiche stellst, einer. Stellst du die Weiche?"

Er verzog das Gesicht. ,,Wie kommst du auf so einen Schwachsinn?"
,,Kein Schwachsinn. Eine Frage von Moral. Es sieht zwar erst einfach aus, aber eine richtige Antwort gibt es nicht."
,,Einfach?" Elias zog die Sofadecke enger um seinen Körper. Die Müdigkeit nagte bereits an ihm wie ein Hund an seinem Knochen. ,,Ich weiß nicht. Entweder ich bringe Menschen um, oder... ich bringe Menschen um."

,,Der Zug bringt die Menschen um", korrigierte Isa. ,,Genauer gesagt der Lokführer." Sie saß auf der anderen Seite der Wohnzimmercouch im Schneidersitz, das leere Glas mit den Händen umschlossen.
,,Aber ich stelle die Weiche. Ich spiele Schicksal. Das ist juristisch dasselbe."
,,Wenn du die Weiche stellst, bringst du den Menschen um, würde ich sagen. Aber bei der Menschengruppe ist es unterlassene Hilfeleistung."
,,Im Gericht kommst du dafür auch dran."

Isa winkte ab. ,,Jetzt hör doch mal auf mit deinem Jura-Zeug. Ich will wissen, was du tun würdest."
Was ich tun würde, dachte Elias. Wahrscheinlich gar nichts. Er war nicht der Typ, der Dinge tat. Er war der, der am Rand eines Bolzplatzes stand und zusah, wie sich die Spieler prügelten. Erleichtert, nicht mitten im Getümmel zu stecken. Und wissend, dass sich das Gerangel nicht von selbst lösen würde. Aber er konnte ja nichts tun.

,,Vielleicht... Ach, keine Ahnung." Elias zuckte mit den Schultern, woraufhin die Decke ein wenig rutschte. ,,Vielleicht wollten die Menschen ja auch sterben. Warum sollten sie sich sonst überhaupt auf die Gleise legen?"

Eine halbe Stunde später war er allein in der kleinen Wohnung. Isa war gegangen, nach Hause, nur eine S-Bahn Station entfernt. Nachts war es draußen gefährlicher als sonst, besonders im öffentlichen Nahverkehr, aber keiner von ihnen besaß ein Auto, um längere Strecken zu fahren.

Er hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht, ein richtiges Bett besaß er nicht. Auf den alten Sitzpolstern, zwischen rauen Kissen, ließ es sich genauso gut schlafen. Besonders, wenn man müde war und den Wecker im Hinterkopf hatte, der morgen früh - nein, heute früh - um sechs klingeln würde.

Nur noch fünf Stunden Schlaf. Elias drehte sich um und schloss die Augen. Sein Vorgesetzter wäre nicht begeistert, wenn er übermüdet zur Arbeit erschien. Auch, wenn die Arbeit als Sekretär für das Regierungsgebäude so eintönig war, dass er hin und wieder wirklich fürchtete, einzunicken. Abstempeln, unterschreiben, Fremden den Weg zu Raum 202 oder 051 oder 341 erklären.

Schlaf, ermahnte Elias sich. Und er drehte sich auf die andere Seite.
Niemand achtete wirklich auf Sekretäre. Wenn man mit ihnen zutun hatte, dann hatte man es meist eilig. Doch wenn es nicht den Menschen auffiel, die im Regierungsgebäude ein und aus gingen, dann bemerkte es zumindest sein Chef. Besonders bei Elias. Er misstraute Menschen aus niedrigeren Kasten.

Nur noch fünf Stunden. Du musst schlafen, erinnerte Elias sich. Warum konnte er es nicht, wenn er doch eben noch so müde gewesen war? Nun, da Isa weg war, er nicht mehr draußen herumlaufen konnte und keinerlei Ablenkung von seinen Gedanken hatte, drehte sich alles in seinem Kopf. Wie ein Kinderkarussell, die es in den wohlhabenderen Vierteln noch manchmal gab.

Er dachte an die Arbeit, die er hasste, die Wohnung, die zu klein war und seine Familie, die er in den Slums zurücklassen musste, um Arbeit zu finden und studieren zu gehen. Das war, was er seinem Vater versprochen hatte. Aber die Universitäten waren teuer. Um sich ein Semester finanzieren zu können, würde Elias noch eine ganze Weile lang Stempeln müssen.
Er drehte sich wieder auf den Rücken und starrte nun an die Decke. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Verdammt, er war doch nicht der einzige, dem es so ging. Was hatten sie letztens noch in den Nachrichten gesagt? 80%? 90? Wie auch immer, Zahlen waren noch nie sein Ding gewesen. Der Anteil der Bevölkerung, die sich keine vernünftige Ausbildung mehr leisten konnte, wuchs so oder so stetig. Und wer tat etwas?

,,Niemand", murmelte Elias in sein Kissen, als er sich auf den Bauch drehte und langsam aber sicher doch den Schlaf fühlte, der über ihn hereinbrach. Niemand, und so würde es auch bleiben. Die Menschheit war noch nie gut darin gewesen, die Züge zu erkennen, die auf sie zu rasten, während sie auf den Gleisen lag.

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,,Nächster Halt:..." Der Rest ging in dem Lärm unter, den die Türen der überfüllten S-Bahn beim Öffnen verursachten. Elias schob sich durch das Gedrängel, hinaus auf den Bahnsteig. Mit einiger Verspätung hatte er am Morgen das Grau seines Viertels hinter sich gelassen und war ins Stadtzentrum gefahren.

Der Platz war mit hellem Stein gepflastert, in der Mitte thronte die Statue des aktuellen Machthabers. Früher hatte man den Toten zum Andenken Monumente geschaffen. Heutzutage lebte man im Moment.

Oder existiert zumindest vor sich hin, schoss es Elias durch den Kopf, als er zwei Gestalten unter dem steinernen Plateau kauern sah. Obdachlose. Bettler. Was auch immer. Binnen weniger Minuten würden Ordnungshüter sie verscheuchen.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich einer der Schatten erhob. Und direkt auf ihn zusteuerte.
Schnell wandte Elias seinen Blick ab und beschleunigte seinen Schritt über den kahlen Platz. Zu spät.

,,Eine kleine Spende, der Herr?"

Er zuckte zusammen. Das Gesicht, das ihm gerötet von der Kälte unter dem riesigen Tuch entgegenblickte, war das eines Kindes. Noch dürrer als er selbst, matte Augen. Diese Augen hatten noch nie Wärme und Geborgenheit gesehen.
,,Nein, sorry." Elias konnte sich ja selbst kaum über Wasser halten.

Der hoffnungsvolle Ausdruck des Kindes erstarb. Es kehrte wieder um.
Vielleicht verhungert es jetzt, dachte er. Ist das die Weiche, die ich gestellt habe?
Seine Geldbörse lag nun doppelt so schwer in seiner Jackentasche.

Es ist die Verantwortung der Regierung, erinnerte er sich. Der Machthaber schafft es nicht, sein Volk zu ernähren. Seine Aufgabe, nicht meine. Das wiederholte er wie ein Mantra.

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