➣Prolog
Die Nacht legte sich wie ein schwarzes Tuch aus Samt über das Land. Die blassen Sterne zeichneten sich dunkel vom Himmel ab und auch die schimmernde Sichel des Mondes warf ihr fahles Licht auf die Stadt. Überall sprenkelten goldene Lichter die Schatten und durch die röhrenden Maschinen wurde das Schweigen der Nacht zerrissen, wieder und wieder. Finstere Gestalten huschten von einem düsteren Ort zum nächsten, sprangen von Schatten zu Schatten. Denn jetzt, wenn die Menschen schliefen und langsam der Lärm erstarb, erwachten die Geschöpfe, die tagsüber verborgen blieben.
In einer schmalen Gasse, verborgen in den Schatten zweier ockerbrauner Häuser, lag eine dürre Windhündin. Die Haut spannte sich nur über ein Gestell aus Knochen, die Rippen stachen unter ihrem gestromten Fell hervor und doch leuchtete Liebe in ihrem braunen Blick. Liebe für die fünf kleinen Fellbündel, die sich zappelnd und winselnd an ihren Bauch drängten und die kühle Luft mit dem warmen Duft von Milch erfüllten.
Sie hatte sich schützend um die Welpen geschlungen, ihre Augen huschten wachsam von den kleinen Wesen zur Lücke zwischen den Gebäuden und wieder zurück. Nun mischte sich Sorge in ihren Blick und beschattete ihr Gesicht; mit der Schnauze schob sie die Welpen enger an ihren Bauch und stieß ein leises Fiepen aus.
Aus der Dunkelheit schälte sich ein zweiter Hund, ebenso drahtig und mager wie die Windhündin und mit derselben Angst im Blick. Ein Rüde, der aus der Finsternis der Gasse heraustappte und der ersten Hündin beruhigend das Fell hinter den Ohren leckte.
»Mach dir keine Sorgen, Niebla. Unsere Welpen werden sie nicht finden, das schwöre ich dir.«
Seine Stimme zitterte leicht bei seinen Worten wie ein Blatt in der Nachtbrise, doch in den Augen des Galgos funkelte Entschlossenheit - und Liebe. Als er sich über die Welpen beugte, entblößte er eine lange, dicke Narbe, die sich rund um seinen Hals zog und auf der nie wieder Fell sprießen würde. Eine Narbe, die eine lange Geschichte mit sich trug und den Windhund nie vergessen lassen würde, was er durchgemacht hatte.
Die Hündin nickte tapfer und richtete den Blick wieder auf die kleinen Welpen. Einer davon war ein kräftiger kleiner Rüde, ein Ebenbild seines Vaters mit dem silberweißen Fell, nur, dass es makellos und nicht von Narbenwulsten entstellt war.
Die Zweitgeborene hatte nachtschwarzes Fell, nur an der Brust einen kleinen Fleck, und schon jetzt die kräftigen Beine eines Jagdhundes. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Eltern oder Geschwistern und fügte sich doch so selbstverständlich in das idyllische Bild ein.
Zwei Rüden folgten, beide mit dem graubraun gestromten Fell ihrer Mutter und auch sonst sahen sie sich so ähnlich, dass man sie nur daran unterscheiden konnte, dass der eine minimal größer war.
Die Letztgeborene und auch die kleinste unter den Welpen trug unscheinbares, braun gestromtes Fell mit einem kleinen Fleck auf der Brust wie bei ihrer schwarzen Schwester.
»Du hast recht. Sie werden frei sein. Für immer«, schwor Niebla mit einem entschlossenen Funkeln in den braunen Augen. Ein Feuer leuchtete darin, eines, das niemals erlischen würde, solange dieses Welpen in Sicherheit waren.
»Sie haben ihre Augen geöffnet, bis auf die Kleine. Meinst du, es ist Zeit?«
Tatsächlich, vier der Welpen hatten ihre Augen geöffnet, allesamt noch milchig blau.
»Es ist nie zu früh. Und keine Sorge, bevor du fragst, du wirst ihnen schon keine Angst damit machen.«
Der Rüde zog sich wieder in die Schatten zurück, denn diese Tradition war etwas von der Mutter zu den Welpen, schon seit die ersten Straßenhunde die Gassen bewohnten.
Sie nickte erst und erhob dann die Stimme, ein klares, sanftes Geräusch, das die Stille der Nacht durchschnitt. Niebla zog die Welpen noch näher an ihren Bauch, schleckte ihnen das noch flauschige Kopffell glatt und begann, zu erzählen.
»Hört gut zu, meine Kleinen. Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die bis in die Zeit von Eis und Feuer zurückreicht. Eine, die meine Mutter mir erzählt hat und ihre Mutter und immer so weiter, bis in eine Zeit vor unserer Zeit, als die Welt noch wild war.
Denn in dieser Zeit gab es noch keine Hunde, Füchse und Wölfe - verflucht seien diese Bestien - nein, es gab nur die Canidae. Eine Familie, die alles einte, was uns heute trennt, und die in Frieden auf den Ebenen und in den Wäldern auf die Jagd ging. Sie waren loyal und ehrlich und die edelsten Wesen, die jemals über dieses Land geherrscht hatten. Unbesiegbar im Kampf, schneller als die Blitze, die heute noch über den Himmel zucken und doch liebevoll, als wäre jeder von ihnen eine Mutter von Welpen gewesen.
Doch auch die Menschen gab es schon - ehrgeizige Geschöpfe, die sich nie mit dem zufriedengeben, was sie hatten. Sie machten sich Feuer, Holz und Gestein Untertan und begannen, auch einige der Tiere zu jagen und ihrer Freiheit zu berauben. So erstarb das Hufgetrappel wilder Pferde auf den Ebenen, die Rufe der Schafherden, denn die Menschen, die gierigsten aller Wesen, pferchten sie ein und behandelten sie wie minderwertige Kreaturen. Und bis heute leben Pferde, Schafe und Rinder unter den Menschen, so wie zahllose andere Tiere, die ihr vielleicht nie zu Gesicht bekommen werdet...«
Einer der gestromten Welpen, der größte von ihnen, riss die milchigen Augen weit auf, als wäre er ganz stolz, das schon zu können.
»Mama, gab es schon Huhn? Huhn ist lecker!«
Niebla stupste den Welpen liebevoll und leicht amüsiert an. Sie hatte vor einem Lauf der Mondhündin Luna ein Stück Hühnerfleisch aufgetrieben und die Welpen hatten zum ersten Mal etwas anderes probiert als Milch. Scheinbar hatte es dem kleinen Rüden auch besser geschmeckt als die warme weiße Flüssigkeit.
»Ja, auch die Hühner lebten schon in der Zeit vor unserer Zeit und auch sie fing der Mensch ein und züchtete sie, denn er war nicht zufrieden mit der Menge an Eiern, die sie legten, mit dem Fleisch, das sie lieferten. Kaum ein Lebewesen war wirklich frei. Nicht einmal die Menschen, die sich immer mehr banden an einen festen Ort, an dem sie die Tiere züchteten und gefangen hielten, an dem sie ihre Kinder großzogen und dafür sorgten, dass sie genauso wurden. Die Menschen machten sich das Leben immer einfacher und sicherer, doch dadurch büßten sie ihre Freiheit ein, Stück für Stück.
Es gab noch eine Spezies, die Felidae, aus denen einst die Katzen hervorgehen sollten. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich euch zu einer anderen Zeit erzählen werde.
Was ich aber über diese Wesen sagen kann, ist, dass sie verräterisch und eitel waren, eigensinnig und egoistisch. Ehre oder Treue kannten sie nicht, und auch sie begannen, abhängig von den Menschen zu werden und ihnen die Mäuse wegzujagen.
Nicht so die Canidae, die ihrer Freiheit treu blieben. Ja, treu waren sie, treuer als irgendwer sonst, und das war es, was sie verband. Was sie zu freien Geschöpfen machte und dafür sorgte, dass sie sich niemals verloren.
Und über sie alle wachten Mond und Sonne gemeinsam. Sie beschützten die Wesen und woben den Himmel als schützendes Dach über ihren Köpfen, erleuchteten ihn Tag und Nacht und jagten sich gegenseitig über den Himmel. Sie waren die wirklich freien Geschöpfe, denn ein jedes irdisches Wesen war abhängig von ihrem Licht. Ja, Sonne und Mond waren mächtig und überdauerten die Zeiten gemeinsam, bis heute und in alle Ewigkeit. Hier nennen wir sie Luna und Sol, an anderen Orten tragen sie andere Namen. Und obwohl sie für uns die Seele von Hunden haben, verehrt sie jede Tierart auf eine andere Weise.
Bis auf die Menschen, die niemanden verehrten außer sich selbst.
Doch selbst sie mussten einsehen, dass ihre Erfindungen und die Versklavung anderer Geschöpfe nichts ausrichten konnten gegen den Zorn des Himmels.
Eine Macht, bis heute verborgen zwischen den Wolken und den Sternen, schickte einen grausamen Winter hinab auf die Erde, unerbittlich und so kalt, dass kaum noch Beute durch die Wälder und über die Felder streifte, kaum noch Futter für die Canidae.
Auch die Menschen hungerten erbärmlich, denn ihre Tiere starben und auch ihre Art siechte langsam dahin, immer mehr Knochen barg der Schnee und immer mehr Blut sprenkelte ihn. Der Winter hielt an, immer und immer länger - zu lang, er überdauerte Jahr für Jahr.
So kam es, dass sich die freien Canidae und die Menschen erstmals trafen. Beide waren sie am Ende ihrer Kräfte, zwei mächtige Arten, die kurz davor waren, auszusterben. Ein tapferer junger Krieger der Canidae, der den Namen Perro trug und ein kluges und edles Mitglied des Rudels war, schlug einen Waffenstillstand, einen Frieden vor, in dem sich die beiden Arten gegenseitig halfen, bei der Jagd auf die verbliebene Beute, ohne dabei andere Spezies auszulöschen.
Der Anführer der Menschen stimmte zu und so kam es, dass sich die sonst so unterschiedlichen Arten verbündeten. Die Canidae waren geborene Jäger, edel und loyal, und die Menschen konnten selbst in den kältesten Nächten Feuer herbeirufen, an dem sich die Jäger und Krieger wärmten und neue Kraft schöpften. Die Vereinigung dauerte den endlosen Winter an und selbst, als das Eis auf den Flüssen langsam brach, der Schnee schmolz und wieder bunte Blumen die goldgrünen Ebenen tüpfelten, jagten noch immer die Canidae mit den Menschen und wärmten sich an ihren Feuern - doch die ganze Zeit über verlangten sie eines: ihre Freiheit, die die Menschen schon zahllosen Tieren geraubt hatten.
Mit der Zeit formten sich Bündnisse und die Menschen und Canidae begannen, einander zu brauchen und die Gesellschaft der anderen zu genießen. Doch nicht alle waren bereit, den Aufenthalt der anderen Spezies zu akzeptieren: eines der freien Geschöpfe, klein und mit feuerrotem Fell, sträubte sich gegen das Bündnis. Zorro war sein Name, und er behauptete, die Canidae würden ihre Freiheit einbüßen und wie all die Wesen vor ihnen zu Sklaven werden, ohne Rechte oder die Würdem die ihnen gebührte.
Er wollte weder die Gesellschaft der Menschen, noch die Wärme des Feuers auf seinem Fell spüren, die seine Artgenossen so liebten. Zorro verriet die ewige Treue, die die Canidae sich untereinander geschworen hatten, verschwand in die Tiefen der Wälder und kehrte niemals zurück. Manche sagten noch zahllose Jahre später, dass Zorro noch durch die Wildnis streifte. Die Füchse waren geboren, klein und gerissen, die bis heute allein durch die Gassen und Wälder streunen und Meister darin sind, andere zu überlisten. Hütet euch vor Füchsen, sie sind hinterhältig wie Ratten.«
Die zweitgeborene Hündin mit dem schwarzen Fell rümpfte die Nase. »Pfui, Ratten stinken!«, winselte sie angewidert und wischte sich mit der tapsigen Pfote über die Schnauze.
»Oh ja, das tun sie - aber auch dafür sind die Menschen verantwortlich«, erklärte Niebla.
»Ratten fressen nämlich das, was Menschen übrig lassen, und Menschen lassen wirklich viel übrig, das könnt ihr mir glauben. Deswegen gibt es auch so viele von ihnen.
Ach ja, wo war ich? Ah, bei den Füchsen. Nun, diese listigen Rotpelze kennen keine Treue, bis heute nicht. Doch die Canidae, die bei den Menschen blieben und sich auf ewig mit ihnen verbündeten, wurden zu einem wichtigen Teil im Leben der gierigen Geschöpfe und schworen ihnen die Treue. Und wenn man etwas schwört, dann ist das ein Versprechen, das man nicht bricht, meine Kleinen. Ein Fuchs würde das tun, aber wir Hunde halten, was wir versprechen.
Und das taten sie, damals ja noch die Canidae, schon in der Zeit von Eis und Feuer. Doch diese ehrlosen Geschöpfe wussten es nicht zu schätzen - sie nutzten die Treue aus, sperrten ihre jahrelangen Gefährten ein und raubten ihnen die Freiheit, richteten sie ab und behandelten sie wie all die anderen Tiere, die sie schon gefangen und versklavt hatten. Die Vergangenheit, die gemeinsamen Jadgen und Nächte an den Feuern schienen mit der Zeit in den Erinnerungen der Menschen zu verblassen wie Morgennebel, wenn sie Sonne aufgeht.
Die meisten der Canidae waren empört von diesem Verrat. Unter der Führung eines alten Rudelmitgliedes namens Lobo brachen sie den Eid der ewigen Treue, den sie den Menschen geschworen hatten und flohen in die Tiefen der Wildnis und versprachen, nie wieder einer anderen Spezies zu trauen. Ein Rudel waren sie, nicht mehr und nicht weniger, und an diesem Tag wurden die Wölfe geboren. Sie sind rachsüchtig und zur Strafe dieses Verrates lauern sie bis heute in den dunkelsten Schatten des tiefsten Waldes und lauern auf die Menschen und alle, die ihnen dienen, um sie zu hetzen und zu zerreißen.
Doch es gab auch einige unter den Canidae, die von Perro überzeugt werden konnten, zu bleiben. Sie hatten den Menschen die Treue geschworen und würden diesen Schwur niemals brechen, um keinen Preis der Welt. Und die wahren Canidae, die ihre Loyalität bewiesen, blieben und hielten ihren langwierigen Gefährten die Treue, egal, wie häufig sie hintergangen und verraten, misshandelt und eingesperrt wurden.
Aus ihnen, den Treuen, wie man sie auch nennt, sollten später alle Hunde hervorgehen. So auch meine Mutter, ich und ihr und eure Welpen, bis in die Ewigkeit hinein.
Menschen, Füchse, Wölfe - allesamt sind sie verräterische Geschöpfe. Vertraut niemals diesen Bestien, meine Kleinen.«
Als Niebla endete, klang ihre Stimme schon rau und heiser, und sie blickte die Welpen der Reihe nach an. Zwei von ihnen blickten erschrocken drein, zwei einfach nur müde und die Letztgeborene öffnete just in diesem Moment die großen, ebenfalls noch milchig blauen Augen.
Am Horizont erschienen die ersten goldenen Schlieren, Vorboten des nächsten Tages, und die Sterne verblassten nach und nach. Der silberne Schein des Mondes ging unter im gleißend hellen Strahl der Sonne. Obwohl die Häuser zu hoch waren, um die Linie zwischen Himmel und Erde zu erkennen, sah die kleine Familie doch den glühenden Feuerball, wie er sich dort von seinem Schlaflager erhob.
»Schaut hinauf, schaut zu den Sternen, bevor sie verblassen! Denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Wisst ihr, was mit den drei Stammvätern der Arten geschah?
Nun, Sol und Luna ehrten den Mut, den jeder von ihnen gezeigt hatte, und doch wussten sie, dass es nur eine Sonne und einen Mond geben konnte.
Sie nahmen Zorro, Perro und Lobo auf in die endlosen Weiten des Himmels, und nachts, wenn die endlose Finsternis dafür sorgt, dass die silbernen Lichter am Dach stehen, das Sonne und Mond einst woben, kann man sie sehen. Zahllose Sterne vereint werden zu den Abbildern der Drei. Und wisst ihr, was?
Wenn eine Seele, die einem Hund gehörte, ihren langen Weg zum Himmel antritt, weil ihre Zeit hier unten sich dem Ende zuneigt, dann geht ein neuer Stern im Pelz unseres Helden Perro auf. Die Seele eines Wolfes findet ihren Frieden im Fell Lobos - obgleich sie es nicht verdient - und auch die meine wird als ein hell strahlender Stern am Himmel ihren Platz finden.«
Niebla schleckte die Welpen zwischen den Ohren. »So, jetzt aber genug über unsere Geschichte. Seid stolz darauf, Hunde zu sein, aber jetzt schlaft, dann werdet ihr stark und mutig wie Perro. Und wenn ihr euch verirrt, folgt seinem leuchtenden Auge. Dem hellsten Stern, der dort oben strahlt.«
Sie rollte sich liebevoll um die Welpen zusammen, deren Köpfe jetzt schon müde auf den Boden gesunken waren und sie sich eng aneinanderschmiegten. Aus den Schatten heraus trat wieder der Rüde, der sich ein bisschen Lauschen nicht hatte verkneifen können und der sich nun neben seiner Gefährtin und seinen Welpen niederließ.
Nach und nach fiel die Familie in einen sanften, traumlosen Schlaf, während außerhalb der Gasse das Leben zurückkehrte. Immer häufiger durchschnitt der Lärm des neuen Tages die frische Morgenluft, die schon jetzt einen weiteren, heißen Tag prophezeite.
Die kleinste der Welpen krabbelte bis zu den Vorderbeinen ihrer Mutter und presste ihr Ohr an das pochende Herz, das dort schlug. Langsam schloss auch sie die Augen und ihre Träume woben sich, als der donnernde Herzschlag mit den Pfotentritten der Helden in ihren Träumen verschmolz.
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