(Bild: Kaminfeuer im Gryffindor-Gemeinschaftsraum)
Lily Evans P.o.V.:
Einige Wochen später ziehe ich mit zitternden Fingern die Schlafsaaltür hinter mir ins Schloss, ehe ich mit meinem erleuchteten Zauberstab in der Hand in den Gemeinschaftsraum hinuntertapse. Tränen rinnen mir über die Wangen, doch ich wische sie wütend beiseite. Mein ganzer Körper bebt vor unterdrücktem Schmerz, aber ich erlaube mir nicht, richtig zu weinen. Das Wort Freak, das auf dem Brief in meiner Hand immer und immer wieder zu finden ist, wiederholt sich wie ein Echo in meinem Kopf. Petunia ist nur neidisch, sie meint das nicht wirklich so, versuche ich meine große Schwester zu verteidigen. Aber das hat auch schon einmal besser geklappt.
Als ich den Gemeinschaftsraum betrete, lösche ich das Licht meines Zauberstabes mit einem gedachten Nox. Jetzt wird das runde Zimmer nur noch vom schwach flackernden Feuer im Kamin beleuchtet. Ich bin froh, den Brief nicht heute morgen in der großen Halle geöffnet zu haben. Am Abend ohne Zuschauer und besorgten Freunden war eindeutig die bessere Wahl.
"Lily, Lily, Lily, so spät noch wach?", ertönt auf einmal eine tadelnde Stimme aus einem der Sessel direkt vor dem Kamin. Der Junge beugt sich vor, um sich zu mir umsehen zu können und ich erkenne Sirius Blacks attraktiven Gesichtszüge im flackernden Feuer. Er faltet ohne hinzusehen ein Stück Pergament zusammen und legt es dann auf das Tischchen neben ihm. Ich kenne niemanden außer den Rumtreibern, der Pergamente so falten. Oder war es immer das gleiche Pergament? Dann müsste es allerdings verzaubert sein, denn so oft, wie ich das alte Pergamentblatt in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen habe, wäre es ohne Zauberei inzwischen schon zu Staub zerfallen.
"Woher wusstest du, dass ich es bin?", frage ich flüsternd, damit er meine heisere Stimme nicht bemerkt. Als er sich zurück in den Sessel lehnt, wische ich mir rasch über die Augen. Dann gehe ich zu Sirius und setze mich in den Sessel neben seinem, so weit in die Polster zurückgelehnt, dass er mein verweintes Gesicht auf keinen Fall sehen kann.
"Schwer zu erklären. Am besten fragst du mich was anderes.", schmettert Sirius meine Frage lässig ab.
"Wieso bist du um ein Uhr morgens noch wach?", schieße ich wie verlangt zurück.
Selenas Bruder schweigt eine Sekunde zu lange. "Kann nicht schlafen. Und du?"
"Dasselbe."
Sirius brummt als Zeichen, dass er meine Antwort verstanden hat.
Eine Weile ist es still. Wir starren beide ins Feuer und wissen nicht, was wir sagen sollen. Wir verbringen sonst so wenig Zeit wie möglich in einem Raum. Ich verbringe meine Freizeit in der Bibliothek oder im Gemeinschaftsraum, er spielt Quidditch, hilft Hagrid auch außerhalb des Unterrichts mit den Tieren auf dem Schlossgelände und spielt Streiche. Wir sind einfach zu unterschiedlich, um uns zu mögen.
Umso mehr überrascht es mich, als er plötzlich doch mehr dazu sagt, wieso er noch oder schon wieder wach ist:"Walburga Black spukt in meinen Gedanken rum. Also ist an Schlaf nicht zu denken."
"Bei mir ist es meine Schwester.", sage ich ohne nachzudenken. Es rutscht mir einfach über die Lippen. Rasch presse ich sie fest zusammen.
Sirius sieht auf und ich habe das Gefühl, er bemerkt sofort, dass ich gerade noch geweint habe. "Vermisst du sie? Selena sagt, du hast eine gute Familie. Eltern, die dich lieben und so weiter."
Schnell wende ich den Blick ab. Ja, Mum und Dad sind sehr gute Eltern, aber keine Familie ist perfekt. Oder auch nur nicht anstrengend. "Meine Schwester ist sehr schwierig. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, sogar ihre nervige Seite zu vermissen. "
"Willst du darüber reden?", diese Frage überrascht mich noch mehr als der ruhige Tonfall, den Sirius angeschlagen hat.
Ich schüttle den Kopf. "Nein. Willst du über deine Mutter reden?"
"Sie ist nicht meine Mutter.", murmelt Sirius augenblicklich, "Aber nein, will ich nicht. Wie stehst du zu Zauberschach?"
Ich zucke die Achseln. "Bin ganz passabel."
"Hervorragend", Sirius zieht zu meiner Überraschung ein Schachbrett unter seinem Sessel hervor. "Woher...", beginne ich, aber Sirius schaut mich mit so verschwörerischem Blick an, dass ich verstumme. "Verrate niemals das geheime Versteck des Rumtreiber-Schachbretts. Darauf steht der...", er senkt die Stimme, "...Tod." Ich kann nicht anders als zu grinsen, was Sirius mit einem seinerseits quittiert.
Als Sirius die Schachfiguren aufbaut - die ich nicht berühren darf ehe die Partie beginnt - beugt er sich vor und sein zerknittertes Schlafshirt rutscht zur Seite und fällt ein kleines bisschen nach vorne. Nicht viel, aber das Licht des Kaminfeuers strahlt direkt auf den kleinen Fleck freie Haut und zeigt mir ein fast volles Mond-Tattoo unterhalb seiner Schulter. Zumindest halte ich es für gestochene Tinte, es ist viel zu präzise gezeichnet, um nur aufgemalt zu sein.
"Du hast ein Tattoo?", frage ich erstaunt.
Sirius sieht zu seiner linken Schulter und starrt einige Sekunden auf den halbvollen Kreis. "Ja", meint er langgezogen. Irgendwie zurückhaltend, als wäre es ihm aus einem ganz bestimmten Grund peinlich. Oder aber er hat einen guten Anlass das Tattoo vor dem Großteil der Menschheit zu verstecken.
"Ein magisches?"
Sirius richtet sich auf und schaut mich mit einem ungewöhnlich nachdenklichen Blick an. "Der Mond verändert sich mit den Mondphasen. An Neumond ist er fast nicht zu sehen und zwei Wochen später ist am Himmel und auf meiner Schulter wieder Vollmond.", er wendet den Blick beim letzten Wort ab und fährt damit fort, die Schachfiguren aufzustellen.
Ich beobachte ihn stumm dabei und mir fällt zum ersten Mal auf, dass er an seiner rechten Hand einen Siegelring mit einem gigantischen schwarzen Turmalin trägt. Wieso ist mir der noch nie aufgefallen?
"Du trägst den Ring der Blacks?", ich sage absichtlich nicht deiner Familie. Er scheint genau wie Sel die Potters als seine Familie anzusehen.
Sirius seufzt abgrundtief, möglicherweise ziemlich von meiner Neugier genervt. Ich weiß selbst nicht, wieso es mir nicht peinlich ist, meine Fragen einfach zu stellen, aber hier, im schwach beleuchteten Gemeinschaftsraum und zu dieser späten Stunde, bin ich aus unerfindlichen Gründen mutiger.
"Ja, trag ich. Damit ich mich immer daran erinnere, dass ich aus dieser Irrenanstalt entkommen bin.", er hält inne und starrt mehrere Sekunden ins Feuer, ehe er sehr leise hinzufügt:"Und Regulus zurückgelassen habe." Also ist das ständige vor Augen haben des Familienerbstücks eher eine Bestrafung als eine freudige Erinnerung.
"Er weiß, dass er jederzeit bei euch willkommen ist, Sirius. Er weiß, dass er ein anderes Zuhause haben kann, wenn er es will."
Sirius sieht auf und zum ersten Mal sehe ich ihn wirklich. Den Sirius Black hinter der Maske, hinter der kühlen Coolness und seinen draufgängerischen Sprüchen. Er nickt langsam. "Ich hab's ihm schon öfter gesagt. Wenn er auch zu den Potters will, ist dort immer ein Platz für ihn.", Verzweiflung spricht aus seiner Stimme. In meinem Bauch regt sich Mitleid. Aber das braucht er jetzt nicht, denn das würde ihn nicht im Geringsten weiterbringen.
"Und mehr kannst du nicht tun. Er ist sechzehn und alt genug, um euch - wenigstens seinen Geschwistern - zu sagen, was er will.", sage ich gedämpft. Dennoch klingt es im verlassenem Gemeinschaftsraum seltsam laut.
Erst denke ich, Sirius haben meine Worte nicht erreicht, aber dann nickt er, das Gesicht seltsam erleichtert.
"Danke, dass du das sagst, Lily. Also", seine Stimme wird wieder lauter und auf sein Gesicht legt sich ein breites, aber eindeutig unechtes Grinsen, "schwarz oder weiß? Nein, vergiss es, ich bin immer schwarz." Er dreht das Brett um 90 Grad und sieht mich auffordernd an. "Weiß zieht zuerst!"
Sechs Stunden später, als die ersten Gryffindors noch im Halbschlaf in den Gemeinschaftsraum heruntergetorkelt kommen, haben Sirius und ich um die fünf Schachspiele hinter uns. Ich muss sagen, er hat sich seinen Titel als bester Schachspieler wirklich verdient. Ich habe nur einmal gewonnen, aber ich denke, da hat er mich aus Erbarmen gewinnen lassen.
Ich werfe Sirius einen halb unbehaglichen, halb belustigten Blick zu, als zwei verdutzt zu uns herüberlinsende Viertklässler an uns vorbeigehen. Aber Sirius lässt sich nicht beirren und liest einfach weiter. Er liest mir schon seit etwa drei Kapitel aus seinem Lieblingsbuch vor, einem 500 Seiten dicken Roman, von dem ich noch nie gehört habe; aber möglicherweise werde ich Sirius fragen, ob ich ihn mir von ihm ausleihen kann, um es zu Ende zu lesen.
Nicht einmal als Remus zusammen mit Peter durch den Türbogen zu den Schlafsälen spaziert, verstummt seine ungewöhnlich ruhige und friedvolle Stimme. Remus blickt mich einen Moment lang überrascht an, setzt sich dann aber mit einem unergründlichen Lächeln neben mich auf das rote Sofa, dem Sirius in einem Sessel gegenübersitzt. Dabei schiebt er Sirius' Füße einfach von den Polstern, was ihm einen finsteren Blick des Schwarzhaarigen einbringt.
"Was macht ihr?", fragt Peter mit seiner leisen Stimme, das kurze Schweigen von Sirius ausnutzend.
"Man nennt es lesen.", sagt Sirius ungerührt. Er wendet sich wieder seinem Lieblingsbuch zu und beginnt wieder mit seiner Lese-Stimme vorzulesen.
Remus wirft mir mit gerunzelter Stirn einen Blick zu, bevor er mir ins Ohr flüstert:"Wart ihr etwa die ganze Nacht hier?" Sirius liest derweil unbeirrt weiter.
Ich nicke und lehne mich wieder in die weichen Polster. "Schlaf wird überschätzt."
"Hey", ertönt plötzlich eine leise Stimme hinter mir. Selena legt die Arme um meine Schultern und legt den Kopf darauf ab. Sie schließt die Augen und ich habe den Eindruck, dass sie jeden Moment wieder ins Land der Träume abdriftet. Seltsamerweise macht mich das nicht müde, sondern nur noch wacher. Mit einem leisen Seufzer lehne ich meinen Kopf gegen Selenas'. Während Sirius weiterliest, werde ich richtig wach und Selena schläft im Stehen ein.
Als Potter mit Parker Lawson, dem Siebtklässler aus dem Quidditchteam, die Treppe in den Gemeinschaftsraum heruntergelaufen kommt, zucke ich erschrocken zusammen. Seine Haare sind verwuschelt, seine haselnussbraunen Augen leuchten und sein Umhang liegt gewohnt unordentlich auf seinen Schultern. Rasch lenke ich meinen Blick auf Sirius, der von seiner Umgebung kaum etwas mitzubekommen scheint.
Selena regt sich leicht und richtet sich schließlich träge auf. Sie reibt sich die Augen und sieht sich verschlafen um. Sobald ihr Blick auf Parker fällt, stellt sie sich aufrecht hin und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Mir ist schon länger aufgefallen, dass sie ihn so gut es als Teamkameraden eben geht, vermeidet. Er wirft ihr immer so verstohlene Blicke zu, die auch mir Schauer über den Rücken jagen.
Auch in diesem Moment richten seine dunklen Augen sich auf meine beste Freundin, die sich plötzlich an mich wendet und fragt, ob wir zusammen zum Frühstück vorgehen wollen. Doch der Versuch geht schief, denn sämtliche Jungs springen in Sekundenschnelle auf die Beine und verkünden, dass sie bald vor Hunger umkommen. Und so machen wir uns alle zusammen auf in die Große Halle.
Selena geht zwischen mir und ihrem Zwilling und bemüht sich, immer mit jemandem im Gespräch zu sein. Sie sieht kaum auf, was echte Sorgen in mir weckt. Ich behalte Parker im Auge, aber außer ständigen Blicken in Selenas Richtung, bringt er unseren Gang zum Frühstück unauffällig hinter sich.
Als ich zwei Stunden später in Geschichte der Zauberei sitze, bereue ich die lange Nacht. Meine Augen drohen immer wieder zuzufallen, doch ich bemühe mich weiter, mir Notizen zu Professor Binns Unterricht zu machen. Dabei ruht mein Kopf allerdings auf meinem linken Unterarm und ich habe jetzt schon Angst davor, einen richtigen Blick auf meine schlampige Handschrift zu werfen, wenn ich meine Notizen für die Prüfungen am Jahresende wieder hervorkrame. Zum Glück ist Freitag und der morgige Vormittag für Schlaf reserviert.
Während ich damit kämpfe, wach zu bleiben, taucht plötzlich James Potters Kopf mir gegenüber auf. Er hat den Kopf wie mein Spiegelbild ebenfalls auf seinen Unterarm gelegt und grinst mich an. Kurz verfluche ich mich dafür, mich von Selena zu diesen Sitzplatz mitten unter den Rumtreibern überreden haben zu lassen, aber dann fällt mein Blick auf James' funkelnde Augen, die mich einige Sekunden lang einfach nur anschauen.
Gebannt erwidere ich seinen Blick. Ich vergesse sogar, Professor Binns Worte aufzuschreiben, was blöd ist, denn nach wenigen Sekunden habe ich sie wieder vergessen. Mein Gehirn scheint sich unter James Potters durchdringenden Blick in ein Sieb zu verwandeln.
James' Mundwinkel heben sich weiter, als er etwas näher an mich heranrutscht, sodass wir uns flüstern unterhalten könnten. Doch er sagt kein Wort. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, der plötzlich nicht mehr von selbst kommt. Mein Puls beschleunigt sich und ich hoffe, er sieht es nicht an meiner Halsschlagader.
"Dieses Wochenende ist Hogsmeade-Wochenende.", murmelt er so, dass nur ich ihn verstehen kann. Ich wende den Blick ab und linse auf meine Notizen, um ihn nicht ansehen zu müssen. "Ich weiß.", sage ich bedächtig, "Willst du nicht langsam damit aufhören? Ich kenne dutzende Mädchen, die liebend gerne mit dir nach Hogsmeade wollen. Wieso fragst du nicht eine von ihnen?"
James schweigt einen Moment. "Weil ich dich fragen will, Lady Lily. Und irgendwann wirst du ja sagen wollen." Sein gesamtes Auftreten wirkt auf mich ehrlich und ungewöhnlich ernst. Auch, wenn sein Mund sein vertrautes Grinsen ziert.
Mir kommt in den Sinn, dass Severus immer gesagt hat, dass James Potter mich mag, dass er ein Auge auf mich geworfen hat, und mir entweicht ein Seufzer. "Du solltest wirklich eine von ihnen fragen, James."
"Feigling", flüstert er und ich sehe auf. Ich weiß, dass er mich herausfordern will, mich aus meiner Deckung holen will, aber das Wort schmerzt dennoch. Ich bin kein Feigling. Ich bin vorsichtig und nicht naiv, aber kein Feigling.
Wieder starren wir uns einige Zeit an. Doch diesmal liegt keine sich aufladende Spannung in der Luft. Es ist mehr ein todernstes Blickduell. Keiner von uns gewinnt, denn es wird unbeabsichtigt von Selena beendet, als sie den Kopf auf meine Schulter legt und mich nach der Uhrzeit fragt.
Ich würde diese kleine Unterbrechung als kurzzeitigen Waffenstillstand bezeichnen, denn ich habe nach all den Jahren nicht das Gefühl, dass James Potter aufgeben wird. Obwohl ich es nicht will, schlägt mein Herz bei diesem Gedanken einen Purzelbaum.
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(Bildquelle: http://www.bookglow.net/wp-content/uploads/2017/11/featured-800-by-520-1-690x450.jpg)
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