Chapter 80

(Bild: James)

Lily Evans P.o.V.:

Mit unerbittlich herumwirbelnden Gedanken liege ich seit Stunden wach. Ich bin früh zu Bett gegangen, weil ich ganz genau wusste, dass ich nicht sofort einschlafen würde, und wenigstens ein paar Stunden Schlaf abbekommen wollte. Aber so wie es gerade aussieht, wird das heute nichts mehr. 

Neben mir bewegt sich Sel, ihre Bettdecke raschelt und gleich darauf höre ich tapsende Schritte in Richtung Badezimmer. Es stimmt also. Sie spielen einen Streich. Eigentlich keine Meisterleistung, darauf zu kommen, immerhin ist morgen der erste April. Aber spätestens nach Sels Schauspielerei am Vormittag war mir klar, dass etwas am Laufen ist. Sie würde sich niemals so schwach zeigen, wenn sie wirklich krank wäre, vor allem vor den Slytherins, die ihr von Herzen das Schlechteste wünschen, nicht. Und Sirius' Ruhe, als Sel sich kaum auf den Beinen halten konnte... mehr Ungereimtheiten hat es nicht gebraucht, um meine Alarmglocken in grellen Tönen schellen zu lassen.

Kurzentschlossen stehe ich auf und greife nach dem moosgrünen Pullover, der am Fußende meines Bettes über dem Holz hängt. Solange Sel unterwegs sein würde, würde ich sowieso kein Auge zubekommen. Also wieso nicht mit den Rumtreibern in den ersten April feiern? Ich schüttle den Kopf über meine eigenen Gedanken. Eine ganz schlechte Idee, Lily, bleib im Bett, rät mir mein Verstand, aber ich stand die letzten Jahre nur auf der sicheren, vernünftigen Seite, und ich hab genug davon, die brave Streberin zu sein. 

Als Sel aus dem Badezimmer kommt, die Haare zusammengebunden, mit hochgeschobenen Ärmeln und einem silbrigem Stoffbündel in der Hand, erstarrt sie auf der Stelle, sobald sie mich im Licht einer einzelnen Kerze auf meinem Nachttisch an der Tür zur Treppe lehnen sieht. "Lils!", flüstert sie, das Hand auf dem Herz. "Verdammt, du hast mich erschreckt!" Zum ersten Mal verstehe ich, wieso Sirius seine dramatischen Auftritte so lobt. 

"Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?", frage ich so leise, dass Mia und Megan mich unmöglich hören können. Es ist besser, sie nicht zu wecken, in letzter Zeit meckern die beiden sowieso wegen den winzigsten Kleinigkeiten. "Du kannst es mir ehrlich sagen, wenn ich hier bleiben soll, Sel, aber ich würd unglaublich gerne mal einen Streich mit euch machen." 

Sel starrt mich einen Augenblick vollkommen aus dem Konzept gebracht an, dann greift sie nach meinem Arm und zieht mich aus dem Schlafsaal. "Klar kannst du mit! Aber ... wer bist du und was hast du mit Lily Evans angestellt?" Auf dem Treppenabsatz stehend starrt Sel mich mit ihrem besten Röntgenblick an. Ich zucke die Schultern und versuche ein Grinsen. "Glaubst du, die Jungs sind wirklich einverstanden?" 

Sel braucht noch einen Moment, dann stellt sie sich plötzlich aufrecht hin und auf ihrem Gesicht erscheint ein Grinsen. "Sie stehen viel zu sehr auf Risiken, um es nicht zu sein. Und Remus und ich würden dir unsere Leben anvertrauen. Also los", sie greift wieder nach meinem Arm, "der Schlaftrank hält nicht ewig!"

"Warte", ich spüre, wie mein Magen eine 180-Grad-Drehung hinlegt, "welcher Schlaftrank?" Ich sehe über ihre Schulter hinweg, wie sie grinst, während sie mich hinter sich herzieht. "Wirst schon sehen..."

Remus, James, Sirius und Peter warten schon im Gemeinschaftsraum. Sie alle starren mich erschrocken an, als würde ich sie gleich an den Ohren zurück in ihren Schlafsaal ziehen. Ich lächle leicht und ignoriere das unangenehm flatternde Gefühl in meinem Bauch. An einen bevorstehenden Regelbruch muss ich mich erst noch gewöhnen. "Könnt ihr noch eine Zauberstabhand gebrauchen?", frage ich, als keiner der Jungs etwas sagt. 

Sirius sieht seine Zwillingsschwester vorwurfsvoll an. "Was soll das? Sie ist keine Rumtreiberin! Eine Vertrauensschülerin ist nicht vertrauenswürdig! Sie ist viel zu brav. Sie kann nicht mit!" Er verschränkt die Arme vor der Brust, während ich mich frage, wieso er spricht, als stünde ich nicht einen Meter von ihm entfernt. 

Ich sehe weiter zu Peter, der neben Sirius steht. Er schaut von Sirius zu Selena und zuckt dann mit den Schultern. "Mit egal, solange sie uns nicht verpetzt." Remus tritt einen Schritt vor. "Tut sie nicht, Lils ist vielleicht braver als wir, aber keine Petze.", verteidigt er mich, woraufhin ich ihm einen dankbaren Blick zuwerfe. Er nickt lächelnd. 

Mein Blick schweift zu James, der letzte im Bunde. Seine Augen huschen von einem seiner Freunde zum nächsten. Dann kommt er bei mir zum Stehen. "Du bist für heute Nacht keine Vertrauensschülerin, Lily? Sondern eine Regelbrecherin, auf die wir absolut zählen können?" Ich nicke mit der gleichen ernsten Mine. Auf James' Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. "Worauf warten wir dann noch? Die Lehrer schlafen schließlich nicht ewig!" Entsetzt sehe ich mich zu Sel um, die ein schuldbewusstes Grinsen auf den Lippen hat. "Ihr habt den Lehrern den Schlaftrank verpasst?" 

"Und Filch.", meint Sirius mit einem Anflug von Stolz in der Stimme, aber noch immer in abwehrender Haltung. "Ich hab doch gesagt, sie ist zu brav!" Nach Unterstützung suchend sieht er sich zu den anderen Jungs um. Doch Sel spricht als nächstes. "Sissi", sagt sie quengelnd, "vertrau mir und hör auf zu meckern. Lily ist in Ordnung - und das weißt du ganz genau!" 

Sirius kneift die Augen zusammen, löst dann aber die Verschränkung seiner Arme. Er tritt vor und hält mir widerwillig seinen kleinen Finger hin. Mit hochgezogenen Augenbrauen hake ich meinen kleinen Finger ein. Den Klein-Finger-Schwur habe ich schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gemacht, doch keiner der Rumtreiber scheint über Sirius' Verhalten überrascht.

"Schwörst du, uns niemals zu verraten und ab jetzt bis zu deinem Tod eine stolze Rumtreiber-Anhängerin zu sein? Mit allem, was dazugehört. Folter, Tod und Nachsitzen wirst du ab diesem Augenblick mit uns zusammen durchstehen und die Rumtreiber-Ehre verteidigen gegen jeden Feind, der sich uns entgegenstellen mag. Schwörst du auf dein Leben?" Wie war das mit, ich mag Sirius' dramatische Auftritte? 

Nach einem ungläubigen Blick zu Sel, die sich sichtlich das Lachen verkneift, neige ich feierlich den Kopf. "Ich, Lily Evans, Zweitgeborene der ganz und gar nicht aristokratischen Muggelfamilie Evans und sonst so stolze Vertrauensschülerin, schwöre, die Pflichten meines Titels für diese Nacht zu ignorieren und stattdessen wie ein Anhänger der sagenhaften Rumtreiber zu handeln. Mit allem, was dazugehört. Folter, Tod, Nachsitzen und das Verteidigen der Rumtreiber-Ehre." 

Sirius starrt mich einen Augenblick lang noch finster an, dann, so plötzlich, dass ich zusammenzucke, legt er einen Arm um meine Schultern und schiebt mich durchs Porträtloch. "Ich mag dich, Lily Evans, Zweitgeborene der ganz und gar nicht aristokratischen Muggelfamilie Evans." Mit vor Aufregung schnell schlagenden Herz höre ich, dass die anderen uns folgen. 

Ich bin froh, als Sirius an der nächsten Treppe in die untern Etagen seinen Arm wieder von meiner Schulter nimmt. Obwohl ich seltsamerweise froh bin, dem Zwilling meiner besten Freundin nicht mehr mit feindseligen Blicken zu begegnen, wurde es langsam komisch. Nebenbei fällt mir auf, dass jetzt Sirius das silberne Stoffbündel trägt. Peter ist nicht mehr da, und als ich nachfrage, sagt mir Remus, dass er als erstes für den Gryffindorturm eingeteilt ist und gleich zurückgeblieben ist.

"Also, wo willst du mit, Lils?", fragt Sel. "Bei dem, der die größte Fläche hat. Und später wird sie im Gang zum Astronomieturm bleiben und James geht ein Stockwerk tiefer.", antwortet Remus wie auf Kommando für mich, und das mit einer Stimme, die ich noch nie von ihm gehört habe. Hauptsächlich Vorfreude und Nervosität kann ich heraushören, aber auch eine Kühnheit, die ich nicht erwartet hätte. Was werde ich im Gang zum Astronomieturm machen? 

Ich folge den Blicken und lande bei James, der mich breit angrinst. "Willkommen im Team." Und damit ruckt er mit dem Kopf und bedeutet mir, ihm in Richtung des Nordturms zu folgen. Anscheinend bleiben wir als einzige im siebten Stock mit den ganzen Türmen, alle anderen gehen fast schon springend die Treppe hinunter.  

Wieso war es klar, dass ich mit James Potter durch dunkle Korridore wandern würde? Ausgerechnet dem Jungen, der mich immer so aus dem Konzept bringt! Ich hätte darauf bestehen sollen, Selenas Begleitung zu sein. Mein Bauch ist wesentlich entspannter in ihrer Nähe. 

"Was ist eigentlich der Plan?", frage ich, als wir tatsächlich beim Nordturm anhalten. James legt den Kopf in den Nacken und öffnet mit seinem Zauberstab die Luke zum Wahrsagenklassenzimmer. "Was hältst du vom Weltraum, Lily? Würdest du gerne mal in eine Rakete steigen und durch das All fliegen, schwerelos sein?" 

"Ich hab absolut keine Ahnung, auf was du hinauswillst." James steigt auf die erste Sprosse der Leiter ins Turmzimmer und breitet dann die Arme aus, während er mich angrinst. "Morgen wird ganz Hogwarts schwerelos sein, Lady Lily. Schon mal was von Loin Avec Gravité gehört?" 

"Den von einer Französin erfundenen Zauber, mit dem man in einem Gebäude die Schwerkraft außer Kraft setzten kann?", ich kann nicht verhindern, dass ich schnell und mit einem aufgeregtem Unterton spreche. James hält sich wieder an der Leiter fest und steigt dann nach oben, ein unübersehbares zufriedenes Grinsen auf den Lippen. Ich folge ihm, darauf bedacht, keinen Blick auf seinen Hintern zu werfen. 

"Ich wusste, dass du nicht so brav bist wie du immer tust.", merkt James an, als er mir oben seine Hand anbietet, um mich hochzuziehen. Ich versuche nicht ertappt auszusehen und schaue mich stattdessen im Raum um. Wenn es so dunkel ist, wirkt das Klassenzimmer um einiges grusliger. Es könnte ohne Probleme die Kulisse eines Horrorfilms sein.

"Zuerst verwandeln wir die Wände mit Lapis Flexilis Tempus für 24 Stunden in Gummi, erstens, damit sich niemand beim Fliegen verletzt und zweitens, damit die ganzen durch die Luft schwebenden Gegenstände eine bessere Chance haben, den morgigen Tag zu überstehen. Außerdem verschließen wir alle Fenster in den oberen Stockwerken mit Colloportus, denn wenn man aus dem Fenster fliegen würde, würde man einfach auf den Boden fallen, und das wollen wir natürlich nicht. Um Punkt zwei Uhr sprechen wir dann alle zeitgleich an verschiedenen Orten im Schloss den eigentlichen Zauber.", erklärt James. 

Dann hebt er den Zauberstab und deutet auf die erste Wand. Die, an der Professor Chambers auf die Seite geschobenes Pult steht, damit sein Sessel Platz hat. "Lapis Flexilis Tempus", murmelt er und ich wende mich ab, um die Wand daneben zu verzaubern.

Wir arbeiten uns in verblüffend angenehmer Stille von Raum zu Raum. Erst als wir den kompletten fünften und sechsten und größtenteils den siebten Stock geschafft haben und ich die Treppe zum Astronomieturm hinauf nehmen will, bricht James das Schweigen. "Warte, wir verschließen die Tür zum Astronomieturm, damit keiner da hoch fliegt." Er zieht einen zusammenfefalteten Zettel aus der Hosentasche und reicht ihn mir.

Während ich die letzten beiden Stufen nehme, entfalte ich ihn. Am 1. April nicht öffnen! Lebensgefahr! "Kleb ihn einfach an die Tür.", sagt James. Als ich einen kurzen Blick auf ihn werfe, sehe ich, dass er beide Korridorrichtungen entlangsieht. "Hätten wir an die Fenster nicht auch sowas anbringen sollen?" 

James sieht mich auf meine Frage hin wieder an und ich wende mich rasch ab. "Wir hängen an den Durchgängen aus den Gemeinschaftsräumen große Zettel mit Warnungen auf. Aber es gibt Leute, die nicht daran denken, dass diese Tür sozusagen ein Fenster ist. Außerdem müsste man ja, um die Fenster aufzubekommen, zaubern, was sonst nicht so ist. Das ist hoffentlich Erinnerung genug."

Sobald die Tür verschlossen und der Zettel angebracht ist, gehen wir weiter. Wir haben den Nordturm, den Ravenclawturm, dutzende Nebenräume und Geheimgänge schon hinter uns, in dieser Etage gibt es nur noch die Eulerei, die wir aufgrund der Tiere als einzigen Raum nicht verzaubern werden, Flitwicks Büro und das Büro von Professor Dumbledore. 

Beim Büro unseres Zauberkunstlehrers sage ich kein Wort, aber als wir vor Dumbledores Wasserspeier treten und James mir den Rücken zudreht, um etwas auf einem vergilbtem Pergament nachzulesen, packt mich dann doch die Nervosität. "Wollen wir wirklich ins Büro des Schulleiters einbrechen? In Dumbledores Büro? Wir sind absolut irre!" 

James faltet das überraschend große Pergamentblatt wieder zusammen und wirft mir einen amüsierten Blick zu. "Keine Panik, Lady Lily, Dumbledore hat wie alle anderen vom Kürbissaft getrunken, den Peter mit Sluggis Schlaftrank präpariert hat. Wir haben aufgepasst, ich versprech's dir." Ich hätte ihm geglaubt, wenn nicht zwei eine Sekunde später ein lautes Miauen hinter uns ertönt wäre. Professor McGonagall! 

Zu Salzsäulen erstarrt lauschen wir. Doch es ertönt keine strenge Stimme und auch von schnellen Schritten ist nichts zu hören. Nur ein tapsen und ein erneutes anklagendes Miauen. McGonagall hätte sich längst in einen Menschen verwandelt. Also bleibt nur Mrs Norris - die natürlich nicht vom Kürbissaft getrunken hat. Ich werfe James einen vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einer Spur Panik in den Augen erwidert. Er muss wirklich Angst haben vor dieser Katze. 

Ganz langsam und vorsichtig drehe ich mich um. Mrs Norris ist nur etwa zwei Schrotte entfernt, ihr Augen funkeln jetzt, wo ich offensichtlich ebenfalls die Schulregeln verletzt habe, auch mich angriffslustig an. James bleibt, wo er ist und bewegt sich nicht, was wahrscheinlich auch besser ist. 

Ich gehe in die Knie und hebe Mrs Norris meine Hand hin, damit sie daran schnuppern kann. Gemächlich und immer auf der Hut kommt sie näher. Es tut mir aufrichtig leid, als ich sie in dem Moment, in dem sie den Kopf an meinen Handrücken reibt, am Bauch hochhebe und mit ihr in den Händen zum nächsten Besenschrank renne. "Ich lass dich in spätestens einer halben Stunde wieder raus, versprochen.", sage ich, ehe ich sie auf den Boden stelle und die Tür hinter mir zuziehe. 

Erst jetzt fallen mir die Kratzer auf, die Mrs Norris auf meinen Händen hinterlassen hat. Es brennt sogar, so tief hat sie die Krallen über meine Haut gezogen. "Lass mich mal sehen.", murmelt James, der plötzlich neben mir steht. Er nimmt meine Hände in seine und betrachtet sie eingehend. "Wir sind gleich fertig, dann geb ich dir eine Salbe, die uns Rumtreibern schon gute Dienste bei kleinen Kratzern geleistet hat. Sie kühlt die Haut und betäubt sogar den Schmerz. Hältst du noch ein bisschen aus?" Er sieht mit seinen haselnussbraunen Augen auf und mir wird schlagartig bewusst, wie nah wir uns sind. 

"Klar", sage ich entschlossen. Damit entziehe ich ihm meine Hände und gehe zurück zum Wasserspeier vor dem Schulleiterbüro. "Lass uns aber schnell machen, ich will die arme Katze nicht so lange einsperren." "Von mir aus können wir sie bis Weihnachten da drin lassen!", höre ich James leise murmeln. Ich werfe ihm einen nur halb ernst gemeinten strengen Blick zu. Er grinst unschuldig zurück. 

"Zischende Wissbies", sagt James mit an den Wänden widerhallender, lauter Stimme und der Wasserspeier gleitet zur Seite. Stand das Passwort auf dem Pergament? Und wenn ja, wer hat es draufgeschrieben und wie ist derjenige da dran gekommen?

Das Wahrsagenklassenzimmer war nichts im Vergleich zu Dumbledores Büro. Außer den vielen Büchern, den kleinen silbernen Gegenständen und den schlafenden Schulleitern an den Wänden und dem Phönix auf Stange ist es leer und auch nachdem wir mehr als eine halbe Minute nur in der Tür standen, taucht kein Dumbledore aus den Schatten auf. Er scheint wirklich zu schlafen. Auf Zehenspitzen schleiche ich zu den vielen Fenstern und verschließe sie der Reihe nach. James übernimmt in der Zwischenzeit die Wände und verwandelt sie. Wir gehen gleichzeitig und noch immer ohne ein Wort gesprochen zu haben zurück in Richtung Tür. Ich will so schnell wie irgendwie möglich hier raus. 

"Lily?", meint James und ich drehe mich erschrocken um. Für einen Moment dachte ich, wir wären doch erwischt worden. Als ich mich gerade auf den Fersen gedreht habe, spüre ich Hände an meinen Oberarmen, die mich mit Schwung gegen die Wand neben der Tür schubsen. 

Wie ein Flummi werde ich von der Hüpfburg ähnlichen Wand zurückkatapultiert, direkt zu James, der mich mit beiden Händen auffängt und sich lachend mit mir Im Kreis dreht. Ich bin so überrascht, dass mir ein atemloses Kichern entfährt. 

Es ist fast so als würden wir tanzen, dabei hatte ich einfach zu viel Schwung und James wollte nicht, dass ich über meine eigenen Füße stolpere. Das kann ich mir so lange einreden, bis ich merke, dass James noch immer meine Hand hält und einer seiner Arme um meine Taille liegt. Ich spüre jeden einzelnen seiner Finger durch meinen Pullover hindurch als wären sie kochend heiß. 

Wir schauen uns in die Augen und ich entdecke, dass seine eher Schokoladenbraun sind als Haselnussbraun. Auch die Grübchen, die sich um seinen Mund herum bilden als er zu lächeln beginnt, sind mir neu. Ich erkenne Bartstoppeln, die bestimmt beim Küssen kratzen und dass er lange schwarze Wimpern hat, die im schwachen Licht unserer Zauberstäbe Schatten auf seine Wangen werfen. 

In mir herrscht das reinste Chaos. Mein Bauch rebelliert, mein Herz sprintet und mein Blutkreislauf scheint vollends außer Kontrolle. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Gleichzeitig glaube ich, gleich auf dem Boden zu landen, so weich sind meine Knie. Wie nach der letzten Achterbahnfahrt in dem Freizeitpark, in dem ich zwei Sommer zuvor mit ihrer Familie war. Alles um uns herum ist verschwommen, unwichtig.

Wir sind stehen geblieben, doch das bemerke ich erst, als James' leicht den Kopf neigt und eine seiner Haarsträhnen meine Stirn streift. Ohne richtig darüber nachzudenken schubse ich ihn von mir und direkt auf die Wand zu, von der ich eben abgeprallt bin. Mit großen Augen strauchelt James, nachdem er wie ich einmal gegen die eigenartig weiche Wand geprallt ist, doch er fängt sich recht schnell wieder. Er schaut mich einen Moment mit unergründlichem Gesichtsausdruck an, dann wendet er kommentarlos den Blick ab und geht zur Tür, die er mir mit einer angedeuteten Verbeugung aufhält. "Nach Euch, Lady Lily." 

"Was ist das eigentlich für ein neuer Spitzname?", frage ich nach einem kleinen Räuspern auf normale Konversation hoffend. "Du bist eine Lady und du bist Lily. Also: Lady Lily.", James Stimme klingt vollkommen normal. Als hätte es den Augenblick zwischen uns eben nicht gegeben. Und dafür bin ich ehrlich dankbar. Aber auch eine unergründliche Enttäuschung funkt in meinem Inneren auf. 

Sobald ich die letzte Wand des Korridors verzaubert habe, richtet James seine Augen auf sein Handgelenk mit der silbernen Armbanduhr. "Noch zehn Minuten." Er hebt den Blick, begegnet meinen Augen und schaut dann rasch neben mir aus dem Fenster. Also ist er doch nicht so tiefenentspannt wie er tut. 

Diesmal ist die Stille peinlich. Sie dauert meinem Gefühl auch viel länger als zehn Minuten. Oder neun, wie mir bei James nächsten Worten klar wird:"Noch eine Minute." Er nimmt die Uhr ab und reicht sie mir. Wenn ich nicht wüsste, dass es das Geschenk seiner Eltern zur Volljährigkeit ist, wäre es keine große Sache gewesen. Das handwarme Metall fühlt sich schwerer an als es sollte, wichtiger.

"Geh ein paar Schritte zurück bis du in etwa bei der Mitte des Korridors bist. Loin Avec Gravité Temporaire, nicht vergessen!" Er wirft noch einen letzten Blick auf das Ziffernblatt und geht dann rückwärts den Gang entlang bis zur nächsten Treppe in den sechsten Stock. 

"Ach, und Lily?" Ich sehe auf und in seine wie immer funkelnden, schönen Augen. "Manchmal ist es gut, ein Flattern im Bauch zu haben. Tu mir den Gefallen und halt dich das nächste Mal nicht zurück.", damit dreht er sich um und hüpft die Treppenstufen hinab, wobei er die Trickstufe in der Mitte sicher überspringt. Das nächste Mal?

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(Bildquelle: https://i.pinimg.com/564x/eb/da/f4/ebdaf4dfa2ea7c98ae2c43d9744d28ae.jpg)

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