Chapter 108

(Bild: Bailee Parkinson)

Alexander Malfoy P.o.V.:

Ich erstarre und greife das aufgeschlagene Buch in meinen Händen fester. Auf der anderen Seite nähern sich Schritte der massiven Holztür, die zur hauseigenen Bibliothek führt. Ich behalte die mit edlen Ornamenten verzierte Tür genau im Auge, während ich gleichzeitig das Buch in meiner Hand schließe und zwischen der Sessellehne und meinen Rücken schiebe, sodass mein Umhang es vollständig verdeckt. Dann nehme ich das Buch in die Hand, das ich mir als Alibi aus einem der deckenhohen Regale genommen habe: Schwarze Magie für Anfänger

Doch derjenige, der sich der Tür genähert hat, geht nur daran vorbei. Ich stoße den angehaltenen Atem aus und lockere meine Schultern und meinen schmerzhaft angespannten Unterkiefer.
Dann runzle ich die Stirn.
Die Schritte gehörten weder zu Vater noch zu Lucius. Und Narzissa ist viel zu schlank, um so stark aufzutreten. Ich löse die Schnalle meines Umhangs, damit das Buch in meinem Rücken verdeckt bleibt und richte auf dem Weg zur Tür meinen marinefarbenen Pollunder aus Merinowolle. 
Sobald ich die schwere Tür geöffnet habe, werden die Schritte trotz wachsender Entfernung lauter. Meine Stirn legt sich in Falten, als ich Alfred erkenne, der Familienheiler, der das letzte Mal da war, als er Mutter untersucht hat. Nur wenige Tage vor ihrem Tod. 
Pochender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, als ich an die gestrige Beerdigung denke, die Vater verpasst hatte, weil er lieber in seinem Arbeitszimmer Geschäften nachging. Doch ich schüttle das Gefühl hastig von mir ab.
Was will Alfred hier? Er macht eigentlich nur Hausbesuche, damit wir nicht wie andere ins St. Mungo müssen und uns auch so von der gewöhnlichen Zaubererbevölkerung abheben. Außerdem wird Vater mit der Zeit immer paranoider. Ich denke, er hat wirklich Angst davor, dass ein Heiler seinen Berufseid verletzt, nur um seine Krankenakte öffentlich zu machen. Als würde da irgendwas blamables drinstehen!
Ich verkneife mir ein Schnauben und atme dafür ganz langsam und kontrolliert aus.

Alfred steuert genau auf Vaters Schlafzimmer zu, was mich wundert, da er sonst immer im Salon arbeitet. Bei einem Tee und Gebäck. Ich sehe den Flur entlang, doch weder mein Bruder noch seine Frau oder einer der Hauselfen sind zu sehen. Also folge ich Alfred, halte aber vor der Zimmertür meines Vaters inne, die Alfred ohne zu zögern passiert, doch danach nur angelehnt hatte.
Seine Schritte verstummen abrupt. 
"Abraxas! Was ist passiert?" 
Das unverkennbare Zischen eines Zaubers ertönt. Dann entfernen sich Schritte und wie es sich anhört, stoppen sie vor dem Bett meines Vaters.
"Das sind Drachenpocken! Hattest du in den letzten Tagen direkten Kontakt mit Drachenblut oder unbehandelten Drachenfleisch?"
"Ja", Vaters Stimme klingt leise, noch lange nicht so scharf wie üblich. Fast schon... schwach.
"Wann?"
"Vor vier Tagen."
"Und wie lange hast du diese roten Pocken schon?"
"Seit gestern morgen." 
Deswegen war er nicht auf der Beerdigung. Mit Drachenpocken, die ohne Schutzzauber für Menschen hoch ansteckend sind, sollte man nicht das Haus verlassen. Aber wieso hat er nichts gesagt, sondern Dobby geschickt, um seine Nachrichten zu überbringen?

"Hast du seitdem deine Temperatur gemessen?"
"Ja, sie ist leicht erhöht."
Kurze Stille tritt ein. 
"Ist sie immer noch."
Ein Klicken ertönt und ich erkenne die Schnalle von Alfreds Heilkoffer als Ursprung wieder.
"Ich werde dir Blut abnehmen und es untersuchen lassen. Natürlich anonym.", fügt er rasch hinzu. Wahrscheinlich hat Vaters Blick gereicht, um ihn an dessen Abneigung gegenüber einer richtigen Krankenakte zu erinnern. "Aber ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher, dass wir es hier mit Drachenpocken zu tun haben."
"Wie lange?", fragt Vater mit so leiser und schwacher Stimme, dass ich zusammenzucke. Er war noch nie krank, nicht einmal eine Erkältung. Und jetzt.. ein paar Tage nach dem Tod meiner Mutter... soll auch er von einer Krankheit dahingerafft werden? 
"Höchstens fünf Monate. Aber ich kann es dir genauer sagen, wenn ich das Blut untersucht habe."
Ich balle die Fäuste. Die verschiedensten Emotionen wirbeln in meinem Inneren umher. Die fehlende Erleichterung überrascht mich. Viel mehr ist da Traurigkeit. Angst. Wenn nicht sogar Panik.
Wie kann man innerhalb weniger Wochen zur Vollwaise werden?

Vater antwortet nicht, Alfred redet weiter und ich entferne mich so schnell und leise wie das gleichzeitig möglich ist von der verdammten Tür. 
Doch Alfreds Worte kommen trotzdem bei mir an:"Die nächsten sechs Tage bist du für Menschen noch hoch ansteckend, weswegen keiner außer mir oder der Hauselfen den Raum betreten sollte. Danach werden die Pocken verschwinden und du wirst dich etwa für zwei bis drei Monate normal fühlen, wenn auch etwas kurzatmiger. Es folgt eine schwere Erkältung nach der anderen. Auch Lungenentzündungen sind möglich. Manche erliegen der ersten, mache überstehen zehn. Drachenpocken sind sehr aggressiv und wurden bisher nur von 14 Menschen überlebt. Ich schlage vor, du regelst in der Zeit, in der du gesund bist, deine Angelegenheiten."
Alfreds Worte hallen in meinem Kopf wider:
Hoch ansteckend.
Eine Erkältung nach der anderen.
Lungenentzündungen.
Aggressiv.
Nur von 14 Menschen überlebt.

Blind stelle ich mein Alibibuch zurück ins Regal, schnappe mir meinen Umhang und das Buch darunter (Haussanierung und -renovierung) und eile aus der Bibliothek. Ich entferne mich immer weiter von Vaters Zimmer bis ich plötzlich in meinem stehe.
Überfordert sehe ich mich um.
Am liebsten würde ich jetzt nach Marlborough apparieren und mit Selena reden. Aber dort ist sie wahrscheinlich gar nicht. Sie muss ja im Ministerium ihre Sozialstunden abarbeiten. 
Ich taste nach meinem Handgelenk. Doch dort ist kein Armband. Wir haben nicht geklärt, wie wir in Kontakt bleiben können. Jetzt, wo Vater mir das Armband abgenommen hat.
"Verflucht!" Zu meiner eigenen Überraschung hole ich aus und trete mit voller Wucht gegen den Fuß meines Bettes. Es knarzt leise, bewegt sich aber keinen Millimeter. Dafür ist es viel zu schwer. Ich hole noch einmal aus. Und nochmal. Und nochmal. Ich will, dass sich das verdammte Möbelstück bewegt. Dass es den verhassten grünen Teppich mitnimmt und über den eiskalten Boden schabt. 
Erst mit dem fünften Tritt rutscht es ein kleines Stück von mir weg. Der Umhang rutscht mir aus der Hand und fällt auf den Boden, das Buch hinterher. Dabei fällt etwas viereckiges aus meiner Umhangtasche. Ich erkenne es sofort und lasse mich auf die Knie fallen, um es aufzuheben. Es ist die Fotographie, die Selena und mich vor etwa einer Woche im Ministerium zeigt. 

Vorsichtig streiche ich über Selenas Abbild, das der Kamera größtenteils den Rücken zugedreht hat. Doch ihr Lächeln, dass ich seltsamerweise noch immer auf meinen Lippen spüren kann, ist selbst von der Seite deutlich zu sehen. Sie hat die Augen geschlossen, die Hände in mein Oberteil gekrallt, weil sie mich zu sich gezogen hatte, kurz bevor ich den Auslöser betätigt habe. Ihr normalerweise dunkelbraunes Haar schimmert hier nicht nur weil es hochgesteckt ist, sondern auch weil die Lichtverhältnisse schrecklich sind, pechschwarz. 
Ich selbst sehe auf dem Foto glücklich aus. Mein Arm ist eng um Selenas Schultern gelegt, um sie noch näher zu ziehen, der andere hebt die Kamera, wobei er durch Selenas Überraschungsangriff ein ganzes Stück nach unten gefallen ist.

Mit der Hand, die nicht das Foto hält, fasse ich mir an die Stirn. Eine steile Falte, die auf dem Foto nicht zu sehen ist, kann ich dort fühlen. 
Kraftlos fällt die freie Hand zurück auf meine Oberschenkel. Wie sehr mir jetzt allein Selenas Anwesenheit helfen würde. Sie würde verstehen, wieso ich mir einerseits bewusst bin, wie sehr mich mein Vater in der Vergangenheit zerstört und verletzt hat, und andererseits, wieso ich über seinen Tod in keiner Weise Erleichterung empfinden kann.

Die nächsten Tage bekomme ich Vater weiterhin nicht zu Gesicht. Er verschanzt sich in meinem Zimmer, lässt Lucius und mir aber über die Hauselfen ausrichten, dass er sich in seinem Büro befindet und viel zu viel zu tun hat, um mit uns zu speisen. 
Narzissa schiebt das auf die Trauer über Mutters Tod und Lucius äußert sich nicht. Ob er es weiß? Ich mustere ihn von der Seite, während wir darauf warten, dass die Hauselfen das Abendessen servieren. 
Ich kann es absolut nicht sagen.

"Wie dir vielleicht aufgefallen ist, haben wir heute Abend einen Gast.", meint Lucius mit einem Blick auf das freie Tischgedeck. 
Um ehrlich zu sein, hatte ich es bis jetzt nicht gesehen. 
Die letzten Tage bin ich allgemein recht unachtsam. Fast wie in Trance. Mein Körper scheint das Komando übernommen zu haben, nachdem sich mein Gehirn im Schockzustand befindet. 

Der Klopfer an der Haustür hallt durch die Eingangshalle und ist so fast im ganzen Haus zu hören.
"Bailee hat sich für heute Abend angekündigt. Sie wollte dich überraschen.", fährt Lucius fort und mein Kopf ruckt nach oben. Schockzustand hin oder her. Jetzt ist es wirklich an der Zeit, mich zusammenzureißen!
Ich richte mich auf. 
"Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, mich zu fragen, ob ich sie sehen will?"
Lucius hebt eine Augenbraue. Seine Blick ist eisern. 
"Solange Vater trauert, habe ich hier das Sagen. Und ich sage, dass Bailee Parkinson eine ausgezeichnete Gesellschaft für einen Mann im heiratsfähigen Alter ist.", zum Ende hin ist es lediglich ein Zischen, denn Schritte nähern sich und einen Moment später führt Dobby Bailee in den Speisesaal. Sie trägt ein elegantes schwarzes Kleid und Silberschmuck. Auch ihre Frisur ist zu feierlich für ein einfaches Abendessen.

Wie es der Anstand vorschreibt, erhebe ich mich und hole Bailee an der Tür ab, geleite sie zu dem freien Gedeck neben meinem und schiebe ihr den Stuhl zurecht während sie Platz nimmt.
"Ich möchte mich für die Gastfreundlichkeit schon einmal im Voraus bedanken." Sie stellt eine teure Flasche Elfenwein auf den Tisch und wirft Lucius einen undefinierbaren Blick zu. Dieser nickt wohlwollend. Sollte er nicht eigentlich mich unterstützen? So als großer Bruder?

Die Hauselfen bringen nach zehn Minuten unverfänglicher Konversation endlich das Essen. Doch anscheinend ist das nur der erste Gang, denn die Teller sind kunstvoll verzierten aber mit nur einer unglaublich kleinen Portion Suppe gefüllt. Normalerweise würde mein Magen jetzt knurren, doch mir ist der Appetit bereits seit Mutters Tod vergangen. Und der heutige Tag hat das nicht gerade verbessert.

Während dem gesamten Dinner, welches noch aus weiteren drei Gängen besteht, benehme ich mich wie der perfekte Malfoysprössling. Unterhalte mich mit Bailee, lache sogar einmal höflich über einen ihrer sich stets wiederholenden Witze und erwähne unterschwellig, wie sehr ich in diesem Krieg doch auf der Seite meiner Familie und Freunde bin.
Als Bailee mich allerdings hinterrücks zu einer kleinen Hausbesichtigung auffordert, die Lucius natürlich sofort gutheißt, weil er will, dass Bailee und ich uns näher kommen, muss ich mich wirklich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. 
Stattdessen lächle und nicke ich. 
"Darf ich bitten?" Ich stehe auf und biete Bailee meinen Arm an. Sofort hakt sie sich ein und lässt sich von mir aus dem Raum führen.
Selena würde sich niemals von mir den Weg vorschreiben lassen. Sie würde mich abschütteln und vor mir in die Räume spähen. Darauf hoffend, dass sie einen Raum erwischt, den sie oder wir eigentlich nicht betreten dürfen, um sich dann unter meinem panischen Blick reinzuschleichen. Was sie wohl zu meinem Zimmer sagen würde?

Ein Lächeln hat sich auf meine Lippen geschlichen, dass Bailee allerdings falsch versteht. 
"Ich wusste, dass du dich über meine Überraschung freuen würdest.", sagt sie, dabei hüpft sie an meinem Arm ein wenig auf und nieder. Augenblicklich erlischt mein echtes Lächeln und macht einem um einiges schwächeren Maskenlächeln Platz.
"Du weißt, dass ich Überraschungen nicht schätze, Bailee.", meine ich ruhig. Wir betreten den Salon, in dem an der einen Wand, auf die tagsüber das meiste Sonnenlicht fällt, der Stammbaum der Familie prägt. Er zieht sich über die gesamte Tapete dieser Wand. An den anderen drei wurden schon vor hunderten von Jahren die Porträts verstorbener Verwandten aufgehängt, von denen die wenigsten besonders anschaulich sind. 
Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich meine Mutter vor einem der Gemälde stehen. Vor dem ihrer Eltern, um genau zu sein. Sie stand dort oft, hat sie betrachtet und sich manchmal sogar mit ihnen unterhalten. 

Jetzt steht dort niemand mehr. Stattdessen ist ein Gemälde neben dem ihrer Eltern angebracht worden, woraus sie mich durch den ganzen Raum hinweg ansieht. Ihre Augenbrauen sind zusammengekniffen. Ihr Blick wandert zu Bailee, welche sich verpflichtet zu fühlen scheint, den Stammbaum der Malfoys genau zu betrachten. 
Die Version von mir, die noch immer den Alexander Malfoy mit den Reinblutprinzipien spielt, legt ja auch Wert auf seine Abstammung.

"Die Wurzeln der Familie Malfoy reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück. Armand Malfoy kam nach der Invasion der Normannen von Frankreich nach England. Er erwies dem damaligen König einige ... Gefallen und bekam im Jahre 1066 von Wilhelm dem Eroberer dieses Land geschenkt. Seitdem ist dieses Grundstück im Familienbesitz.", erzähle ich den auswendig gelernten Text. Dabei moduliere ich meine Stimme und es gelingt mir, wirklich stolz zu klingen. Sogar ich glaube für einen Moment, dass es mir nicht vollkommen egal ist, was vor 900 Jahren passiert war.
"Interessant.", haucht Bailee. 
Ich wende meine Augen vom Stammbaum ab und sehe zu ihr.
Ihr Blick macht mir Angst. Sie sieht aus, als würde sie mich gleich auffressen wollen.
Ich blinzle, unterbreche so unseren Blickkontakt und drehe mich um. Zeit für den nächsten Raum. 

Ich kann sie bis zur Bibliothek mit Anekdoten auf Abstand halten. Doch als ich ihr in den Raum folge - die Tür extra weit geöffnet - steht sie plötzlich so dicht vor mir, dass es zu offensichtlich wäre, wenn ich mich jetzt wegdrehen würde. 
Sie legt ihre Hände auf meine Brust und streichelt auf und ab als wäre ich ein Hund. Nebenbei drängt sie ihren Körper gegen meinen und blickt mit Schmollmund zu mir auf. 
"Du benimmst dich heute so, als wären wir uns fremd. Dabei haben wir so viel miteinander erlebt." Ihre Hände wandern tiefer. 
Reflexartig greife ich ihre Handgelenke. 
"Das war eine einmalige Sache, Bailee. Nur eine Nacht von vielen."
Verletzt senkt sie den Blick, geht aber trotzdem keinen Schritt zurück. Schade, damit würde sie vielleicht ihre Würde retten.
"Wir könnten noch so eine Nacht zusammen erleben.", flüstert sie. Sie bewegt ihre Hände und da ich ihr nicht weh tun will, entlasse ich sie für den Moment aus meinem Griff.

Ein Fehler, denn sie legt sie sofort in meinen Nacken und geht auf die Zehenspitzen. 
Bevor ich zurückweichen kann, liegt ihr Mund auf meinem. 
Ihre Lippen bewegen sich fordernd, wollen mich verführen. 
Doch ich bin wie erstarrt. Gefangen zwischen den zwei Welten, die mich langsam aber sicher auseinanderreißen zu scheinen. 
Auf der einen Seite Bailee, meine Familie mit ihren Erwartungen und Prinzipien. Auf der anderen Selena, die schon lange nicht mehr nur eine Geliebte ist. Sie ist meine Zukunft geworden. Und auch mein persönliches Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit.

Bailee löst sich von meinen Lippen, die den Kuss wahrscheinlich nur abgewartet haben. Ich weiß es nicht. Die Schockstarre der letzten Tage scheint wieder mit voller Wucht zurückgekehrt zu sein. Mein Kopf ist wie leergefegt.
"Was ist los, Alexander?" Sie hebt die Hand und legt sie an meine Schläfe. Im gedämpften Licht der Bibliothek fällt mir auf, dass ihr roter Lippenstift verschmiert ist. Wie kann der das Essen, aber nicht diesen Kuss überlebt haben? Ob sie ihn während der Führung neu aufgetragen hat? Selena würde das nicht für nötig halten. Und auch nicht nötig haben.

Ich muss antworten, erinnert mich eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf. 
"Ich dachte, du hättest verstanden, dass ich niemals das gleiche für dich empfinden werden.", sage ich ohne eine Miene zu verziehen. Ich muss sie endlich loswerden. Noch so einen Kuss kann ich nicht einfach ertragen. Das würde zu viel werden. Bailees bloße Nähe lässt in mir das Bedürfnis zur Flucht aufkeimen. All meine Selbstbeherrschung ist nötig, um sie nicht wegzuschubsen und kehrt zu machen.

Bailee weicht erschrocken einen Schritt zurück. Endlich.
Sie schaut mich mit großen Augen an. Dann, mit einem mal Blinzeln, hat sich ihr gesamtes Auftreten verändert. 
Sie hat sich aufgerichtet, die Schultern stolz nach hinten gedrückt. Und ihre Augen, die machen mir zum ersten mal wirklich Angst. Sie sind nicht mehr unbedarft. Nicht mehr kleinkindhaft und verniedlicht. Zu aufmerksam. 
Wieso habe ich das Gefühl, dass gerade ihre Maske des naiven, hübschen Mädchens gefallen ist und ich es jetzt mit einer wachsamen und berechnenden Frau zu tun habe?

"Du weißt, dass wir heiraten werden!", sagt sie mit verschränkten Armen und fast schon spöttischem Blick. 
Wow! Das war direkt. Und selbstbewusst.
"Ich weiß", betone ich, "dass es besser ist, wenn du jetzt gehst."
"Und ich weiß, dass es da jemanden gibt, der in Kürze aus dem Weg sein wird."
"Was willst du damit andeuten?" Ich mache einen drohenden Schritt auf sie zu.
Sie lächelt kalt und triumphierend. "Du wirst sie verlieren. Sie wird dich nicht mehr wollen, das verspreche ich dir."
Ich mustere sie im schwachen Licht. Ihre Lippen sind verzogen, ihre Augen hinterlistig. Sie ist nicht mehr hübsch, sie trägt nur noch eine Grimasse, die ihr wahres Gesicht ist.
"Ich kann es dir gerne noch einmal sagen, Bailee. Es gibt niemanden, den du belästigen kannst. Es gibt nur mich. Einen Mann mit Geschmack, der nicht die erstbeste, die sich ihm an den Hals wirft, zur Frau nimmt."
Sie muss mich hassen. Mich, nicht Selena. Also fahre ich fort:"Du widerst mich an. Wie du mir hinterherläufst. All die Jahre! ich muss nur Schnipsen und du sitzt auf meinem Schoß! Wie wäre es, wenn du dir endlich einmal etwas Würde zulegst?"

Bailee sind Tränen in die Augen getreten. Sie schaut einen Moment auf ihre Schuhe, dann hebt sie den Blick. 
"Wir sind füreinander bestimmt, Alex. Du wirst das auch noch begreifen." Damit dreht sie sich um und stolziert aus dem Raum. Sie schlägt den Weg zur Eingangshalle ein und ich atme erleichtert aus. Gleichzeitig ekle ich mich vor mir selbst. Der Abend hätte nicht schlimmer kommen können.
Bailee hat mich geküsst. Wie soll ich das nur Selena erklären ohne sie zu verletzen? 
Und wieso baut sich in mir ein schlechtes Gewissen auf, weil ich Bailee so vor den Kopf stoßen musste? Ich musste sie so anfahren, damit sie mich - jemanden, den sie kaum anrühren kann - hasst und nicht die Freundin, von der sie vermutet, dass es sie gibt und die sie sogar enttarnen könnte, wenn sie sich ins Zeug legt.

Ihre klackernden Absätze dringen langsam wieder in mein Bewusstsein und rasch folge ich ihr, um sie hinauszubegleiten. Wenn Lucius sieht, dass sie so aufgebracht ist, werde ich Ärger bekommen. 
Ich hole sie gerade ein, als Lucius mit Narzissa an seiner Seite aus dem Speisesaal tritt. Zu meiner Überraschung macht Bailee sofort einen Schritt auf mich zu und hakt sich bei mir ein. Sie trägt ein bedauerndes Lächeln und entschuldigt sich, dass sie jetzt schon nach Hause muss. 
Lucius unterhält sich noch mit ihr, während ich mich frage, wieso Narzissa sich ein Lächeln verkneift. 
Nachdem ich Bailee in ihren Reiseumhang geholfen habe, sie mit einer anstandsvollen Umarmung verabschiedet habe und die Tür hinter ihr geschlossen habe, reicht mir Narzissa diskret ein Stofftaschentuch. Dann tippt sie bei sich auf die Oberlippe. Noch immer kämpft sie mit einem Lächeln. 
Hastig wische ich mir über den Mund. Lippenstiftreste heben sich deutlich von dem weißen Stoff ab. 

Ich schlucke, stecke das Tuch ein, um es Waschen zu lassen, und zucke überrascht zusammen, als mir Lucius plötzlich den Arm um die Schulter legt. 
"Was für ein wunderbarer Abend, nicht wahr?", fragt er gut gelaunt.
Schon lange habe ich ihn nicht mehr so gesehen. Das letzte Mal war im Slytheringemeinschaftsraum, als er mit seinen engsten Freunden gelacht hatte.
Also setze ich ein Grinsen auf. 
"Könnte nicht besser sein.", stimme ich ihm zu.
"Ich habe das Gefühl, es läuten bald wieder die Hochzeitsglocken!" Er greift nach Narzissas Hand und drückt einen Kuss auf ihren Handrücken. Dann führt er uns beide zurück in den Speisesaal. Dort schenkt er uns allen eine Glas Whiskey ein, um mit uns auf den gelungenen Abend anzustoßen. 

Zum ersten Mal seit Jahren habe ich das Gefühl, meinen großen Bruder wiederzuhaben. Der, der mit mir Fangen spielte, mich abends heimlich zu Bett brachte und mir frei erfundene Geschichten von Ritter und Prinzessinnen erzählte.
Und obwohl ich weiß, dass er am nächsten Morgen wieder verschwunden sein wird, keimt in mir die Hoffnung auf, er möge irgendwann meine wahre Persönlichkeit doch akzeptieren. So, wie es Mutter getan hatte.

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(Bildquelle: https://vignette.wikia.nocookie.net/vampirediaries/images/4/4c/Scarlett_Byrne.jpg/revision/latest?cb=20160502221329&path-prefix=de; Schauspielerin: Scarlett Byrne)

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