𝐙𝐰𝐞𝐢𝐮𝐧𝐝𝐳𝐰𝐚𝐧𝐳𝐢𝐠
-Kevin-
„Basti, ich muss dir was erzählen", seufzte ich.
Fünf Tage waren vergangen, seit Basti aufgewacht war.
Fast eine Woche, in der ich ihn jeden Tag so lang wie möglich besucht hatte, um ihm so viel Gesellschaft wie möglich zu leisten.
Fast eine Woche war es her, dass ich den Tweet gepostet hatte.
Seit einer Woche wussten die Zuschauer von meiner Bisexualität.
Glücklicherweise war es nicht zu dem Thema der Woche geworden.
Aus meinem Freundeskreis hatten es die meisten eh bereits länger vermutet und sprachen mit daher ihre Unterstützung zu.
Ich bekam nicht viel Hate, zumindest weniger, als ich erwartet hatte.
Und über die paar Menschen, die aus verschiedenen Gründen irgendein Problem mit meiner Sexualität hatten und deshalb Kommentare verfassten, welche vermutlich verletzt sein sollten, konnte ich nur lachen oder den Kopf schütteln.
Allerdings gab ein anderes Problem, welches sicherlich das viel größere war.
Natürlich wurde darüber spekuliert, ob ich denn nun einen Partner an meiner Seite hatte (obwohl ich für das Internet noch mit Masha zusammen war) und vor allem, wer dieser sein könnte, wenn es denn einen gab.
Und natürlich tippte ein großer Teil der Community auf Basti, manche aus Spaß, aber manche schienen ihre Vermutungen durchaus ernst zu meinen.
•••
Wie jeden Abend seit Bastis Unfall streamte ich ungefähr 45 Minuten für ihn.
Dieses Mal gab es aber einen entscheidenden Unterschied.
Dieser Stream war der erste nach meinem ungewollten Outing. Vielleicht etwas mehr als 24 Stunden waren seit dem letzten Abend, an welchem ich noch nicht geoutet war, vergangen.
Vor etwas mehr als 24 Stunden war vielleicht noch alles anders.
Ich spielte etwas Minecraft, lief aber die meiste Zeit nur planlos in der Welt umher und versuchte, über irgendwelche Dinge mit den Zuschauern zu reden.
Dass ich ganz und gar nicht bei der Sache war, war nicht schwer zu erkennen.
Meine Augen waren die ganze Zeit auf den Chat geheftet, suchten nach jeder einzelnen Nachricht zu meinem Outing.
Viele schrieben, dass sie sich für mich freuten, einige dass sie es schon vermutet hatten.
Natürlich gab es auch eine Handvoll Leute, die meinten, sie müssten einen queerfeindlichen Kommentar da lassen, diese Nachrichten wurden allerdings sofort von den Mods gelöscht und die jeweiligen Personen gebannt.
Und dann gab es haufenweise Nachrichten, in welchen gefragt wurde, ob Basti und ich denn nun zusammen waren.
Eine Weile versuchte ich, sie einfach auszublenden, doch dass dies auf die Dauer nicht funktionieren würde, war mir bewusst.
Ich räusperte mich und holte tief Luft. Versuchte, mir sinnvolle Worte zurecht zu legen.
„Chat, um das jetzt einmal für alle zu klären - nein, Basti und ich sind nicht zusammen. Ja, wir haben ein super Verhältnis und sind beste Freunde und alles und ja, ich streame momentan auf seinem Kanal für ihn, weil ich seinen Streak aufrecht erhalten möchte, weil ich weiß, wie wichtig ihm das immer war und ich was gutes für ihn tun will", stellte ich klar.
Es war eine pure Lüge, doch bevor Basti nicht von sich aus sagte, dass er seine Beziehung mit mir bekannt machen wollen würde, tat ich das auch nicht.
„Und jetzt hört auf, die Frage nochmal zu stellen. Basti ist nicht mit mir zusammen, bloß weil ich bin bin und ich möchte ihn da nicht mit reinziehen", fügte ich mit Nachdruck hinzu.
Lang streamen tat ich danach nicht mehr. Meine Zurechtweisung hatte aber scheinbar wirklich etwas bewirkt, denn Nachfragen, ob Basti und ich zusammen sein, las ich danach so gut wie gar nicht mehr.
•••
Heute wollte Basti das erste Mal seit den Geschehnissen der letzten Tage wieder selbst streamen. Ich hatte meinen Laptop mit ins Krankenhaus genommen, über welchen er streamen konnte. Vorausgesetzt, wir hatten halbwegs gutes Internet.
Es war natürlich klar, dass Basti heute kein Minecraft oder sonstigen Gaming Content streamen würde, aber er hatte den Wunsch geäußert, nach so langer Zeit wenigstens einen kurzen Just Chatting Stream zu machen, um sich wieder daran zu gewöhnen und um seinen Zuschauern ein Lebenszeichen zu geben.
Basti drehte den Kopf zu mir und sah mich abwartend an. Mittlerweile hatte sein Gesicht wieder die selbe gesunde Farbe wie normalerweise und war nicht mehr so erschöpft und blass. Die teilweise ziemlich tiefen Kratzer waren nach wie vor sichtbar, doch begannen, zu heilen und zu verblassen.
„Was musst du mir denn erzählen?", wollte er wissen.
„Es kann eventuell sein, dass ein paar Leute im Chat fragen, ob du mit mir zusammen bist", murmelte ich.
Basti runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, sah mich eindringlich an.
„Was hast du gemacht, Kevin?"
Ich errötete leicht, wusste nicht mal warum.
Irgendwie war es mir unangenehm.
„Ich hab nichts über unsere Beziehung öffentlich gemacht, keine Sorge", beruhigte ich ihn schnell.
„Es ist nur so...ich hab mich eventuell ungewollt geoutet", gestand ich dann. „Und die vermuten jetzt alle, dass wir was am Laufen haben, weil ich ja für dich gestreamt habe und so", versuchte ich zu erklären.
Bastis Gesichtszüge entspannten sich sichtbar, jedoch lag nun ein besorgter Ausdruck in seinen Augen.
»Und...wie haben die Leute reagiert?", hakte er nach.
„Gut. Also wirklich. Klar, es gab ein paar Idioten, die ihre homophobe Meinung da lassen mussten, aber die meisten haben es eigentlich echt gut aufgenommen und dem Rest scheint es soweit egal zu sein", lächelte ich.
„Über unsere Bubble hinaus ist es jetzt aber zum Glück eh nicht so das große Thema."
Basti lächelte nun ebenfalls wieder. Er griff nach meiner Hand und legte sie in seine.
„Das freut mich", sagte er mit so viel Aufrichtigkeit.
„Irgendwann oute ich mich vielleicht auch und dann können wir allen von uns beiden erzählen. Aber...ich will noch ein paar Monate warten. Ich glaub wir sollten das noch nicht machen, wenn unsere Beziehung noch so frisch ist", äußerte Basti seine Gedanken.
Mein Herz machte einen Hüpfer, als er sagte, dass wir unsere Beziehung vielleicht wirklich irgendwann öffentlich machen könnten.
Dann müssten wir uns während Streams nicht verstecken. Müssten uns nicht überlegen, wie wir es vermeiden, dass wir es irgendwann versehentlich leaken, falls wir irgendwann zusammen ziehen würden.
Müssten keine Angst haben, dass unsere Beziehung rauskommt, weil einer von uns beiden sich verplappert.
„Das versteh ich. Ich würd's ehrlich gesagt genau so machen", sagte ich - mit meinen Gedanken immer noch bei unserer möglichen Zukunft - und meinte das auch vollkommen ernst.
„Das ist gut", lächelte Basti und lehnte sich zu mir, um mich zu küssen. Er bewegte seine Lippen mit sanftem Druck gegen meine und ich erwiderte seinen Kuss. Bastis Lippen waren weich und schmeckten leicht nach der Schokolade, welche seine große Schwester ihm geschenkt hatte, bevor sie gestern wieder nach Norwegen zurück geflogen war.
Ich liebte das Gefühl von Bastis Lippen auf meinen eigenen. Nach wie vor war ich jedes Mal überwältigt von diesem Kribbeln in meinem Bauch, dem Herzrasen und den Glücksgefühlen, die mich durchströmten.
Bei Masha hatte ich das alles nie so intensiv gespürt.
Irgendwann mussten wir uns von einander lösen, um Luft zu holen.
Das Gesicht des Dunkelhaarigen war nur wenige Zentimeter von meinem eigenen, sodass ich jedes einzelne Detail in seinem Gesicht erfassen könnte.
Die blassen Sommersprossen auf seiner Nase, die kleinen Lachfältchen um seine Augen, der etwas dunklere Bartschatten.
„Vielleicht sollte ich mal anfangen", unterbrach mein Freund die Stille zwischen uns nach einigen Augenblicken.
Es dauerte kurz, bis ich verstand, dass er damit den Stream meinte.
Langsam nickte ich und setzte mich wieder aufrecht neben ihm hin.
•••
Basti beim Streamen zuzusenden war definitiv eine Sache, die ich öfters tun wollte, wie ich eben beschlossen hatte.
Ich saß ein paar Meter von ihm entfernt auf einem Plastikstuhl und beobachtete meinen Freund.
Den Laptop hatte er auf seinem Schoß platziert.
Bastian Gesichtsausdruck war so glücklich und erfüllt.
Er schien gerade über irgendetwas zu reden, was ihn sehr interessierte, zumindest deuteten seine funkelnden Augen und seine wild gestikulierenden Hände darauf hin.
Worüber genau Basti sprach, bekam ich kaum mit, konzentrierte mich nur auf die Freude, die in seiner Stimme mitschwang und auf jede einzelne Bewegung seiner Lippen.
Man merkte ihm an, wie sehr er das Streamen vermisst hatte und wie viel Freude ihm das Streamen immer wieder brachte.
Es war manchmal echt anstrengend und teilweise hatte ich echt wenig Lust dazu - und ich wusste, dass es selbst bei Basti manchmal genauso war - aber dann gab es wieder diese Momente, in denen es schien, als gäbe es kaum etwas, das ihm mehr Spaß machte, als seine Zuschauer mit dem was er sprach und dem was er machte zu unterhalten. Sich mit den Zuschauern über Dinge zu unterhalten. Egal ob Minecraft, Flaggen, Geografiefakten, Geschichten aus seiner Schulzeit - man merkte, wie wichtig es Basti war, seine Zuschauer zu unterhalten.
Und es machte mich stolz, dass er so viel Wert darauf legte, dass er es immer schaffte, dass die Dinge über die er redete interessant waren und dass er so viel Spaß daran hatte und so viel Arbeit darein steckte.
Klar, das war ‚nur' ein Just Chatting Stream, in dem Basti wirklich nur redete und nicht einmal auf etwas reagierte oder ähnliches. Doch selbst jetzt gab er sich Mühe, dass seine Zuschauer gut unterhalten wurden.
Ich war völlig in meinen Gedanken über Basti versunken, bis ich plötzlich meinen Namen aus Bastis Mund hörte.
Ich schüttelte gedanklich den Kopf, um wieder in der Realität anzukommen.
Fragend sah ich Basti an.
Dieser schmunzelte und konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen.
„Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt hab?", fragte Basti. Ich wusste, dass er die Antwort eigentlich schon wusste, trotzdem schüttelte ich verlegen den Kopf.
„Der Chat fragt nach dir. Sag mal hallo", grinste Basti.
Oh.
Ich wusste nicht wirklich, was ich davon halten sollte.
Was, wenn nun noch mehr Leute Vermutungen zu uns aufstellten?
Trotzdem räusperte ich mich und rief ein lautes „Hi Chat!" in Bastis Richtung, hoffend, dass ich genau so gelassen klang wie ich wirken wollte. Auch wenn ich es absolut nicht war.
Basti schien nach wie vor ziemlich amüsiert, was sich durch einen weiteren Lachanfall bestätigte.
„Streamt Kevin irgendwann auch wieder selber, oder hat er jetzt deinen Kanal übernommen?", las er die Nachricht vor, welche allen Anscheins nach jemand in seinen Chat geschrieben hatte.
Aus meiner Kehle drang nun ebenfalls ein Lachen. Und dieses Mal ein echtes.
Normalerweise wäre ich bei einer Nachricht wie dieser vielleicht extrem genervt gewesen, doch in dem Moment fand ich, dass die Frage auf eine Art und Weise lustig war.
„Bro, was denkt ihr denn? Natürlich hab ich Bastis Kanal schon längst übernommen. Als ob ich jetzt noch auf meinem eigenen Kanal weiter streame!"
Meine Stimme triefte nur so vor Ironie.
Basti gluckste leise vor sich hin.
„Jaja, also, in Zukunft könnt ihr hier keine Streams mehr von mir erwarten, das macht ab jetzt alles Kevin", machte er lachend weiter.
„Bro, ist das bescheuert", murmelte ich, hatte jedoch große Schwierigkeiten, nicht loszuprusten.
Etwas an diesem Moment gab mir das Gefühl von Geborgenheit.
Die dummen Witze und das sich gegenseitige immer weiter in seinen Sprüchen hochzupushen, wissend, dass tausende Menschen unser Verhalten als extrem lustig empfanden und in diesem Moment vielleicht genau so lachen wie wir.
Ein bisschen was von Normalität hatte es.
So wie es vor Bastis Unfall war.
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