𝐙𝐰𝐚𝐧𝐳𝐢𝐠

-Kevin-

Am liebsten hätte ich meine Augen sofort wieder zu gekniffen, als mich die Sonnenstrahlen, welche durch die halb geschlossenen Jalousien fielen, blendeten. Ich brummte missmutig. Hätte ich nicht einfach weiter träumen können? Einfach weiter träumen, wie Basti und ich zusammen eine Minecraft Challenge spielten, wir uns andauernd aufzogen und damit uns gegenseitig und sicher auch die Zuschauer zum Lachen brachten, so wie wir es immer taten.
Doch die Realität sah anders aus. In dieser lag ich nämlich allein und allen Anscheins nach komplett verkatert in meinem Bett, während Basti auf der Intensivstation im Krankenhaus lag.

Ich richtete mich auf und bereute es direkt. Mein Schädel brummte und fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen. Außerdem war mir komisch. Am liebsten hätte ich mich selbst geschlagen. Basti hätte mir jetzt vermutlich einen dreißigminütigen Vortrag gehalten, was die negativen Aspekte von Alkohol waren und warum man nie zu viel trinken sollte und mich im Anschluss als Verantwortungslosigkeit bezeichnet und mir schön demonstriert, dass er recht hatte. Und dann hätte er mich den ganzen Tag damit aufgezogen.
Bei dem Gedanken huschte mir ein Schmunzeln über die Lippen.
Ich hoffte in diesem Moment so sehr, dass er bald wieder aufwachte. Eigentlich hoffte ich das die ganze Zeit, aber in diesem Moment besonders stark. Ich vermisste seine manchmal überverantwortliche und fürsorgliche Art. Ich vermisste seine Neckereien. Ich vermisste einfach Basti.

Eine Kopfschmerztablette, einen Kaffee und ein Frühstück, von dem ich so gut wie nichts angerührt hatte, weil ich absolut keinen Appetit hatte später, begab ich mich wieder in mein Schlafzimmer, um mein Handy zu checken. Vielleicht hatte Nele schon Neuigkeiten zu Basti. Als erstes hob ich mein Kopfkissen hoch, da es neben dem Kissen, wo ich mein Handy abends meistens ablegte, nicht lag. Deshalb ging ich davon aus, dass es einfach unter mein Kissen gerutscht war, doch auch dort wurde ich nicht fündig, ebenso wenig unter meiner Bettdecke.
Auf meinem Nachttisch hätte ich es wahrscheinlich sofort entdeckt, was ich allerdings nicht tat.
Genervt seufzte ich auf. Was konnte eigentlich noch alles falsch laufen?

Ich beschloss, erst einmal Zähne zu putzen und duschen zu gehen und später weiter zu suchen.
Während ich meine Zähne putzte suchte ich jedoch auch weiter. Bei meinem Geschick zwar eine fragwürdige Angelegenheit, doch ich schaffte es, ohne irgendwelche Unfälle.
Mein Handy fand ich jedoch nicht.
Also zog ich mich aus, warf meine Wäsche in den Wäschekorb und ging in die Dusche.
Als das warme Wasser von oben auf mich herab prasselte, fiel fast augenblicklich ein großer Teil der Anspannung von mir ab. Das Wasser umhüllte mich wie eine warme Decke. Ich fühlte mich für einen kurzen Moment sicher. Vor der Außenwelt, dem Stress, den negativen Gedanken. Für einen kurzen Moment hatte ich Ruhe von der ganzen Negativität, die auf dieser Welt existierte.
Für einen kurzen Moment dachte ich nicht daran, dass es meine Schuld war, dass mein Freund schwer verletzt im Krankenhaus lag. Dass ich seitdem das Streamen und somit meinen Job komplett vernachlässigte. Dass ich mein Leben ohne Basti an meiner Seite nicht wirklich unter Kontrolle hatte.
Locker zehn Minuten stand ich einfach so mit geschlossenen Augen unter dem Wasserstrahl und ließ mich von der Wärme des Wassers einlullen.
Dies war eher kontraproduktiv, schließlich war ich eigentlich duschen gegangen, um wach zu werden und mich nicht mehr so elend zu fühlen.
Ich drehte das Wasser kälter. Am liebsten hätte ich es sofort wieder so angenehm warm wie zuvor eingestellt, doch da musste ich jetzt durch.
Ich wusch meine Haare und anschließend meinen Körper, nun eher im Eilverfahren, da das kühle Wasser tatsächlich etwas zu bewirken schien.
Okay, hauptsächlich lag meine Eile daran, dass ich es alles andere als angenehm fand, kalt zu duschen und so schnell wie möglich aus dem kalten Wasser raus wollte.

Nachdem ich mich abgetrocknet hatte und mir einen dunkelblauen Hoodie, welchen ich eigentlich vor Ewigkeiten von Basti ausgeliehen, wenn man das überhaupt noch ausgeliehen nennen konnte, und eine lockere Jeans angezogen hatte, föhnte ich kurz meine Haare komplett trocken. Nicht die beste Idee, denn die Folge war, dass meine Haare absolut grauenhaft lagen und sich auch nicht mehr retten ließen.
Tja, passierte.

Mir kam die Frage, wie viel Uhr es überhaupt war. Normalerweise müsste ich nur mein Handy einschalten, doch nun hatte ich dieses ja nicht zur Verfügung.
Ich ging in die Küche, um die Uhrzeit zu lesen, welche an der Digitalanzeige des Ofens installiert war.
11:17 Uhr.
So langsam konnte ich schon losfahren, Basti besuchen, fand ich.
Ich brauchte nicht lange, um alles fertig zu machen.
Ich nahm meinen Schlüssel und steckte ihn vorerst in meine Hosentasche, dann schlüpfte ich in meine Sneaker.
Ich trat vor meine Wohnung und schloss die Tür hinter mir.
Zur Sicherheit schloss ich noch mit dem Schlüssel ab, dann steckte ich ihn zurück in meine Hosentasche und ging die Treppe hinunter zu meinem Auto.

Glücklicherweise fuhr ich zu einer Tageszeit zum Klinikum, in der nicht viel Verkehr war, weshalb ich auch nicht lange brauchte, bis ich am Parkplatz des Krankenhauses ankam.
Eine Parklücke fand ich ebenfalls schnell.
Wenigstens ein bisschen Glück hatte ich heute.

~~~

„Warum zur Hölle bist du seit gestern Nacht nicht mehr erreichbar?", wollte Nele von mir wissen. „Und warum der Post?"
Verständnislos sah ich sie an.
„Welcher Post?", hakte ich nach. „Na auf Twitter. ‚Ich bin bi. Wollt euch das einfach kurz sagen. Liebt wen ihr wollt und seid ihr selber'. Klingelt's?"
„Warte...du willst mir sagen, dass ich mich geoutet hab?", schlussfolgerte ich. „Pff, du hast den Post doch selbst geschrieben", meinte Nele.
„Ich hab die Hälfte des gestrigen Abends nicht mehr in Erinnerung", wollte ich meine Unwissenheit rechtfertigen.
„Du hast getrunken, oder?", zog Nele den Schluss aus meiner Aussage.
Ich nickte.
„Mann Kevin, du hast dich gestern Abend öffentlich geoutet und weißt es jetzt nicht mal mehr...du kannst froh sein, dass du Basti nicht mit geoutet hast", seufzte Bastis ältere Schwester.
„Sorry", murmelte ich betreten. „Naja, ich bin nicht betroffen. Du musst dich jetzt mit den Reaktionen der Leute auseinandersetzen. Und ich gehe stark davon aus, dass die Leute dich und Basti nicht nur shippen, sondern dass einige wirklich eine Beziehung zwischen euch vermuten", meinte Nele.

Die Reaktionen der Leute...richtig. Das konnte lustig werden.
Ich wusste, dass es einige ziemlich offene und tolerante Leute gab und war froh darüber. Es war so traurig, dass es überhaupt Menschen gab, die ein Problem mit queeren Menschen hatten. Und leider wusste ich auch, dass sicher einige von diesen queerfeindlichen Personen den Post gesehen und kommentiert hatten.
Ich konnte Hass und Beleidigungen ab.
Als Person des öffentlichen Lebens gehörte es leider dazu, von anderen, die einen nicht mal kannten, negative Kommentare abzubekommen.
Trotzdem tat es tief in mir drin manchmal weh, auch wenn es mich eigentlich nicht interessierte.
Das konnte noch eine lustige Angelegenheit werden.

„Warst du schon bei Basti?", lenkte ich die Älteren und gewissermaßen auch mich selber vom Thema ab.
Schlagartig änderte sich der ernste Blick von Nele in ein Lächeln.
Ich zog die Augenbrauen hoch.
„Basti ist wach", verkündete Nele. Meine Augen weiteten sich. „Ich weiß nicht, ob er gerade wach ist, aber er ist aufgewacht", erzählte sie lächelnd weiter.
„Seit wann?", fragte ich.
„Ich glaube die Ärztin, die mich zu ihm gebracht hat hat gemeint, kurz nach Sieben. Ich war um halb Elf bei ihm und da war er wach."
Nele strahlte regelrecht im Vergleich zu dem, was ich bisher gesehen hatte.
Auch auf meinen Lippen lag mittlerweile ebenfalls ein breites Lächeln.
„Denkst du, ich kann zu ihm?", fragte ich hoffnungsvoll. Nele nickte. „Klar, das sollte klargehen", versicherte Nele mir.
In meinem Bauch machte sich ein aufgeregtes Kribbeln breit.

~~~

„Hallo Kevin."
Bastis Stimme war leise, kaum hörbar und ziemlich heißer. Er lächelte schwach, aber ich konnte sein Lächeln als ein solches erkennen.
„Hey Basti", gab ich zurück. In meinen Augen brannten Tränen. Zum einen, weil ich so unglaublich erleichtert war, dass Basti so schnell wieder aufgewacht war, zum anderen, weil es mir immer noch unfassbar weh tat, den Jüngeren so schwach und verletzlich zu sehen, in dem Wissen, dass der Unfall auch ganz einfach anders ausgehen hätte können.
„Nicht weinen", flüsterte Basti beruhigend. „Ich hatte so Angst um dich, Basti", schluchzte ich. „Ich bin so unglaublich froh, dass du am Leben bist und dass du wach bist."
Langsam streckte Basti die nicht angebrochene Hand nach meine aus und drückte dann so fest wie es ging meine Hand.
„Mich wirst du nicht so einfach los, keine Sorge", lächelte er. Erneut schluchzte ich auf.
„Ich liebe dich", schniefte ich. „Oh Kevin. Ich liebe dich auch", hauchte mein Freund.
Mein Bauch kribbelte.
„Nele hat mir vorhin erzählt, dass du jeden Tag für mich gestreamt hast", schlug Basti ein anderes Thema ein.
Ich nickte. „Das hab ich", bestätigte ich ihm.
„Danke. Das bedeutet mir echt viel, dass du dafür gesorgt hast, dass mein Streak nicht abbricht."
Basti klang wirklich ziemlich dankbar.
„Ich weiß. Deswegen hab ich's auch gemacht", murmelte ich.
„Kevin, auch wenn du dir manchmal andere Dinge einredest, du bist ein wahnsinnig toller und gutherziger Mensch. Du bist einer der stärksten Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Das würden in so einer Situation wahrscheinlich die wenigsten schaffen."
Basti strich über meinen Handrücken.

„Entschuldigen sie, aber die Zeit ist um", unterbrach die Stimme des Arztes, welcher mich zu Basti gebracht hatte unsere Zweisamkeit.
„Oh", machte Basti. „Schon?"
„Ich komme morgen wieder, okay? Und übermorgen auch. Ich komm jeden Tag, bis du aus dem Krankenhaus entlassen wirst", versprach ich Basti.
Dieser lächelte.
„Ruh dich gut aus", meinte ich.
„Bis morgen", verabschiedete Basti sich von mir. „Ich liebe dich", fügte er noch hinzu.
Diese drei Worte aus seinem Mund waren immer noch das schönste, was ich je gehört hatte.
„Ich dich auch. Und bis morgen."
Meine Augen waren nach wie vor glasig, aber auf meinen Lippen lag ein glückliches Lächeln.
„Vielen Dank, dass Sie mich zurück ihm gelassen haben", sagte ich an den Arzt gewandt. Dieser winkte ab. „Das ist selbstverständlich. Er darf besucht werden, also warum sollten Sie ihn nicht besuchen dürfen?"
„Bis morgen, Kevin!", hörte ich Basti von seinem Bett aus rufen.
„Bis morgen!"

Vielleicht würde jetzt endlich alles wieder gut werden.

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