𝐒𝐢𝐞𝐛𝐳𝐞𝐡𝐧
-Kevin-
Mein Kopf war bestimmt zum zwanzigsten Mal an diesem Abend kurz davor, auf die Tischplatte zu knallen. Ich war oft erschöpft, vermutlich öfter als dass ich es nicht war. Eigentlich sollte es also nichts ungewöhnliches mehr sein. Normalerweise schaffte ich es, Gefühle wie Erschöpfung und Müdigkeit einfach weg zu ignorieren, oder sie zumindest auszuhalten, doch das heute war noch mal ein ganz anderer Zustand.
Nachdem das Adrenalin, was in den letzten Stunden aufgrund meiner Angst um Basti und zu Beginn auch aufgrund der Überraschung durch meinen Körper geflossen war, nun scheinbar vollends abgeebbt war, wurde mir schlagartig bewusst, wie sehr mich der vergangene Tag eigentlich erschöpft hatte.
Ich hatte, nachdem ich den ganzen restlichen Nachmittag damit verbracht hatte, an der Waldlichtung zu sitzen und zu versuchen, mich irgendwie von meinen Gedanken abzulenken, vor nicht mal einer vollen Stunde Bastis Vertretungsstream begonnen und hatte bereits jetzt fast keine Kraft mehr, die Zuschauer irgendwie noch halbwegs zu unterhalten. Also noch weniger als sonst wahrscheinlich. Es war schon anstrengend genug, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen.
Mir war bewusst, dass ich das nicht mehr lange durchhalten konnte. Alles in mir schrie danach, mich die nächsten 24 Stunden einfach hinzulegen und zu schlafen. Doch ich wollte wenigstens noch ein bisschen weiter machen. Einfach, damit man mir nicht allzu sehr anmerkte, wie fertig mich die ganze Situation doch machte. Den Zuschauern hatte ich bis jetzt nur erzählt, dass Basti verletzt im Krankenhaus lag, aber nicht, nicht, wie schwer seine Verletzungen waren und in was für einem Zustand er sich momentan befand. Es ging sie einfach nichts an, solange Basti nicht selber wollte, dass sie es erfuhren.
So versuchte ich, die dreiviertel Stunde, die ich genau wie die Stunde davor damit verbrachte, Tiktoks zu schauen, noch halbwegs wach und motiviert zu wirken, was meinem Empfinden nach aber nur so semi-gut funktionierte. Wieder einmal mehr bewunderte ich Basti. Wie schaffte der Mann es immer, selbst wenn er einen schlechten Tag hatte, oder wenn es ihm allgemein nicht gut ging, immer guten Content zu produzieren und so motiviert und gut gelaunt zu bleiben, oder zumindest zu wirken? Und ich kannte Basti gut genug um zu wissen, dass er durchaus mal schlechte Tage hatte.
Tatsächlich schienen man mir aber, zumindest nach dem, was ich im Chat so las, gar nicht mal so viele anzumerken. Die meisten machten sich vermutlich, wie ich selber ja auch, viel mehr Sorgen um Basti, was ja auch verständlich war.
Irgendwann, als ich erneut kurz davor war, wegzunicken, gab ich schließlich nach.
»Okay Freunde. Ich glaub, ich sollte für heute realtalk aufhören", meinte ich und rieb mir über die Augen. »Ich weiß, das war scheiße kurz und alles andere als Content, aber es geht gerade einfach nicht besser«, fuhr ich fort. »Ich werde jetzt einfach nur noch schlafen gehen und morgen Basti besuchen, falls ich zu ihm kann.« Wenn ich ehrlich war, glaubte ich selbst nicht daran, dass ich ihn morgen schon besuchen durfte.
Im Chat las ich viele Nachrichten, welche gute Wünsche für Basti enthielten. Ich lächelte ein wenig. Es machte mich irgendwie glücklich, dass es so viele Menschen gab, denen er auf irgendeine Art und Weise etwas bedeutete, auch wenn keiner von ihnen ihn persönlich kannte.
»Also Freunde...danke für's einschalten. Wir sehen uns morgen dann wieder, vermutlich auch wieder hier.«
Wenn ich morgen denn in der Verfassung dazu war. Wenn es mir morgen immer noch so gehen würde wie heute, wäre das vermutlich ziemlich schwer geworden. Aber da ich es für Basti tat, würde ich es schon irgendwie auf die Reihe bekommen.
Mit diesen Worten beendete ich also den Stream. Ich fuhr nur noch den PC herunter, dann sank mein Kopf auf die Tischplatte und ich nickte augenblicklich weg.
~~~
Ich öffnete die Augen und wünschte prompt, ich hätte es nicht getan. Das grelle Licht schmerzte unangenehm in meinen Augen. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass ich immer noch an meinem Setup, auf meinem Gamingstuhl saß, den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Wie fertig war ich davor bitte, dass ich es nicht mal mehr auf die Reihe bekommen hatte, mich in mein Bett zu schleppen?
Ich hob meinen Kopf von der Tischplatte und setzte mich aufrecht hin. Fuck, das würde auf jeden Fall ganz üble Verspannungen im Rücken geben. Ich spürte jetzt schon unangenehme Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich. Ich rieb mir die Augen, dann suchte ich mein Setup mit den Augen nach meinem Handy ab. Allerdings nur so lange, bis mir wieder einfiel, dass ich es gestern in meine Hosentasche gesteckt hatte. Also griff ich in die linke Tasche meiner Jogginghose und zog mein Handy heraus.
8:36 Uhr verriet mir mein Sperrbildschirm. Ungläubig starrte ich auf mein Handy. Ich hatte nicht ernsthaft weit über zehn Stunden hier, in dieser Position geschlafen.
Ich konnte mich nicht an irgendeinen Traum erinnern. Eigentlich konnte ich mich nicht mal wirklich daran erinnern, geschlafen zu haben. Die Zeit, die in Wahrheit fast zehneinhalb Stunden betragen hatte, hatte sich angefühlt wie ein einziger Wimpernschlag.
Dass ich überhaupt geschlafen hatte merkte ich nur daran, dass ich mich nicht mehr ganz so gerädert wie vorher fühlte.
Ich erhob mich langsam aus meinem Stuhl und streckte mich erst einmal ausgiebig. Heilige Scheiße, wenn mein Rücken vorher noch halbwegs in Ordnung gewesen sein sollte, dann war er das nun definitiv nicht mehr. Ich schleppte mich ins Badezimmer und als ich einen Blick in den Badezimmerspiegel über dem Waschbecken warf, erschrak ich. Ich würde mich allgemein nicht als besonders attraktiver Mensch bezeichnen, aber so schlimm wie an diesem Morgen sah ich schon lang nicht mehr aus. Meine Haare standen zerzaust -noch zerzauster als meistens- in sämtliche Himmelsrichtungen ab. Meine Augen waren verquollen und wurden von dunklen Augenringen untermalt. Meine Haut war blass.
„Ach du scheiße", murmelte ich, während ich auf das Waschbecken zuging und den Wasserhahn kalt aufdrehte. Ich spritzte mir ein paar Mal das kalte Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung, ein wenig wacher zu werden, oder zumindest so auszusehen. Dann gab ich mir einen Klecks Zahnpasta auf meine Zahnbürste und begann anschließend, meine Zähne zu putzen.
Während ich also meine Zähne putze, ging ich nochmal zurück in mein Streamingzimmer. Nachdem ich auf die Uhr gesehen hatte, hatte ich mein Handy dort liegen lassen, anstatt es wieder einzustecken und ich wollte nun endlich meine Nachrichten, von denen ich vermutlich nicht gerade wenige bekommen hatte, checken.
Mit der Zahnbürste in der einen Hand und meinem Handy in der anderen lief ich schließlich wieder ins Badezimmer. Dort ließ ich mich auf dem Badewannenrand nieder und entsperrte mein Handy.
Die meisten Nachrichten kamen verständlicherweise von Bastis und meinen Freunden. Oni hatte mir aber ebenfalls einiges geschrieben. Und ein paar Mal angerufen hatte Bastis kleiner Bruder scheinbar auch, wie ich an der oberen Leiste meines Displays erkennen konnte.
Ich legte mein Handy kurz auf dem Badewannenrand ab und ging wieder ans Waschbecken, wo ich meine Zahnpasta in den Abfluss spuckte. Anschließend spülte ich ein paar Mal ordentlicher als normalerweise meinen Mund aus und griff dann wieder nach meinem Handy.
Ich beschloss, zu aller erst die Nachrichten zu lesen, die mir Bastis kleiner Bruder geschickt hatte.
Gestern
Hey, äh hier ist Oni (also Bastis Bruder)
(17:32 Uhr)
Kannst du telefonieren?
(17:38 Uhr)
Wär wichtig, denk ich
(17:41)
Alles gut?
(17:49)
Es geht um Basti
(17:58 Uhr)
In meinem Bauch machte sich ein mulmiges Gefühl breit.
Im Anschluss an diese Nachrichten hatte Oni mir eine Sprachnachricht geschickt. Zuerst zögerte ich, sie abzuspielen. Was, wenn ich gleich das hören würde, was ich niemals hören wollte? Wenn es nun zu spät war und ich es nicht einmal mitbekommen hatte?
Meine Hand zitterte ein wenig. Irgendwie hatte ich extreme Angst vor dem, was ich gleich hören würde. Trotzdem überwand ich mich schließlich und tippte auf das Play-Symbol.
„Ähm hey... erstmal...ich hoff, dass bei dir alles gut ist. Bei Basti ist soweit alles gut. Seine Werte sind stabil und er schwebt nach wie vor nicht mehr in Lebensgefahr. Dazu wollte ich auch noch was sagen. Also...ich hab dich angelogen, als ich gesagt hab, dass die dich wahrscheinlich nicht zu ihm lassen werden. Es stimmt, direkt nach dem Unfall haben sie tatsächlich niemanden zu ihm gelassen. Irgendwie verständlich, er musste erst einmal notversorgt werden und so. Aber als wir telefoniert haben, hättest du ihn eigentlich schon längst besuchen können. Die Wahrheit ist, ich wollte nicht, dass du Basti so sehen musst. Ich weiß, wie sehr du ihn liebst und ich glaube, es würde dich brechen, Basti so hilflos und so leblos zu sehen. Es tut mir echt wahnsinnig leid. Ich weiß, ich hätte gleich die Wahrheit sagen sollen."
Ein paar Sekunden lang schwieg Oni.
„Also...du kannst ihn gerne besuchen kommen...tschau."
(18:07 Uhr)
Damit endete die Sprachnachricht abrupt. Ich atmete ein Mal tief durch und scrollte weiter. Danach folgten nur noch drei Nachrichten von Oni.
Bitte hör's dir an...
(22:07 Uhr)
Heute
Hey?
(06:27) Uhr
Ich mach mir Sorgen
(07:14 Uhr)
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und atmete geräuschvoll aus. Ich fühle mich wahnsinnig schlecht, weil ich fast zwei Tage lang einfach alle Nachrichten von sämtlichen meiner Mitmenschen ignoriert hatte. Und ich wollte nicht, dass sich irgendjemand Sorgen um mich machte. Besonders nicht Bastis Bruder, der hatte durch Basti in seinem aktuellen Zustand wahrscheinlich eh schon genügend Sorgen. Also begann ich langsam, zu tippen.
Hey, sorry dass ich so lang nicht erreichbar war
Hab gestern irgendwie einfach versucht, abzuschalten und jetzt hab ich bis eben geschlafen.
(8:57 Uhr ✓)
Ich wiederholte noch einmal Onis Worte in meinem Kopf.
„Also...du kannst ihn gerne besuchen kommen..."
Ich atmete ein paar Mal tief durch, dann lächelte ich entschlossen. Oder so entschlossen, wie es mir im Moment eben gelang.
Damit war dann wohl klar, was ich heute als aller Erstes machen würde, nachdem ich geduscht, gefrühstückt und die Nachrichten meiner Freunde und Kollegen beantwortet hatte.
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