𝐍𝐞𝐮𝐧𝐳𝐞𝐡𝐧
-Kevin-
„Aber ich finde, das ist auch wirklich krass verdient", pflichtete Nele Oni bei. Mittlerweile saßen wir beide locker eine Stunde bei Oni im Krankenzimmer und unterhielten uns über Gott und die Welt. Von Schulfächern über Kuchenarten und Rezepte zu Minecraft. Und dann kamen auch noch Unterwassertiere zu unseren Gesprächsthemen hinzu.
Vor ein paar Minuten hatten Oni und seine große Schwester angefangen, darüber zu diskutieren, warum genau Basti und ich wohl so eine besondere Verbindung zu einander hatten, sowohl privat, als auch auf vor den Zuschauern auf Twitch und YouTube. „Ey ich hoffe so sehr, dass du und Basti dieses Jahr wieder das beste Twitch Duo werdet", meinte Oni an mich gewandt.
„In unserem Herzen seid ihr das sowieso jeder Zeit", fügte er noch hinzu, was seine und Bastis große Schwester mit einem Nicken unterstrich.
„Ich vermisse ihn so sehr", murmelte ich mit gesenktem Kopf. Mir war bewusst, dass ich gerade vermutlich die Stimmung brach, aber ich musste es einfach mal rauslassen.
Ich vermisste alles an Basti. Sein Lächeln, sein Lachen, seine Witze, seine motivierte Art, ja sogar seine Erklärungen über Länder und ihre Hauptstädte. Und seine überordentliche Art.
Ich vermisste es, wie er mich umarmte, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlten, wie er mir liebevolle Worte zuflüsterte.
Es würde nicht für immer andauern. Basti würde wieder aufwachen, seine Verletzungen würden verheilen und wir würden weiter machen können. Aber in Momenten wie diesen brauchte ich Basti an meiner Seite. Eben dieser konnte allerdings nicht für mich da sein, weil er derjenige war, um den ich Angst hatte.
„Glaub mir, du bist nicht der Einzige, der ihn vermisst", sagte Oni. Seine Augen glänzten verdächtig.
Was war ich eigentlich für ein Idiot? Oni und Nele waren Bastis Geschwister und ich tat so, als wäre ich der Einzige, der ihn vermisste. „Aber Basti ist stark. Er wird das schaffen", flüsterte Nele, während sie ihrem kleinen Bruder beruhigend über die Hand strich. „Und was ist, wenn die Ärzte sich irren?", hauchte Oni. Seine Stimme bebte. „Ich weiß es auch nicht. Ich glaube, es würde für uns alle schwer sein und der Schmerz würde vielleicht nie wieder komplett verschwinden. Aber ich denke, wir müssten es irgendwann akzeptieren und weiter machen, oder es zumindest versuchen. Basti würde nicht wollen, dass wir auf ewig trauern. Er würde wollen, dass wir unser Leben leben", erzählte Nele. Ich wusste nicht, seit wann mir Tränen über die Wangen liefen, auf jeden Fall taten die das und das in großen Mengen.
„Aber die Ärzte irren sich nicht", versuchte Nele ihren Bruder Mut zu machen. „Basti wird wieder gesund, glaub mir", flüsterte sie in einem beruhigenden Ton. Oni schluchzte auf und schlang die Arme um seine Schwester.
Meine Augen brannten und in meinem Hals hatte sich schon lange ein schmerzhafter Kloß gebildet. Verzweifelt versuchte ich, dagegen anzukämpfen. Ich wollte nicht in Tränen ausbrechen. Basti war mein Freund und ich liebte ihn schon so lange und so sehr. Ich würde mir selber nie verzeihen können, dass er hier schwer verletzt auf der Intensivstation lag, weil ich zu dumm war, um Masha davon abzuhalten mich zu küssen. Selbst wenn Basti wieder verheilte, könnte ich das nicht komplett.
Aber Oni und Nele waren Bastis Geschwister. Die Personen, die mit ihm aufgewachsen waren, die vermutlich mehr über ihn wussten als irgendjemand anderes auf dieser Welt.
Für sie musste das alles hier noch viel beschissener sein, schließlich hatten Geschwister irgendwie immer eine besondere Bindung mit einander, selbst wenn sie sich wie im Fall von Nele und ihren beiden kleinen Brüdern zehn Jahre lang nicht sahen.
Ich fühlte mich irgendwie fehl am Platz. Ich wollte die beiden nicht stören oder mit meiner Anwesenheit belasten. So leise wie möglich stand ich von dem Stuhl, welchen ich neben das Krankenhausbett, in welchem Bastis kleiner Bruder lag, gestellt hatte auf.
Als ich allerdings zur Tür gehen wollte, merkte ich, dass der Stuhl in meiner Bahn stand. - Leider zu spät, weshalb ich beinahe über den Stuhl stolperte - ein Wunder, dass ich mich irgendwie noch fangen konnte - und das Schaben der Stuhlbeine auf dem Boden ein ziemlich lautes, auffälliges Geräusch von sich gab.
Super gemacht, Herr Teller!, sagte ich in meinen Gedanken zu mir selber.
Natürlich hatte ich mit meiner ungeplanten Aktion auch Neles und Onis Aufmerksamkeit erweckt.
„Warum willst du jetzt abhauen, huh?", hakte Nele nach, die Augenbrauen hochgezogen. „Ich ... ich wollte euch nur nicht stören", gab ich leise zu, da Lügen eh nichts gebracht hätte.
„Du störst hier doch nicht! Ich versteh voll und ganz, dass es dir genauso beschissen geht und du sollst auch nicht deine Gefühle unterdrücken oder verstecken, nur weil Oni und ich als Bastis Geschwister gerade echt eine beschissene Zeit durchmachen", redete Nele auf mich ein und öffnete ihre Arme. „Komm auch her, dann können wir zu dritt heulen", forderte sie mich auf.
Ich zögerte erst. Was, wenn sie das nur aus Mitleid tat? Damit ich mich nicht so schlecht fühlte ...
Schlussendlich gab ich dennoch nach. Ich kam wieder auf das Krankenhausbett, in welchem Bastis Geschwister saßen zu und schloss mich etwas unsicher der Umarmung an. Ich brauchte in diesem Moment einfach irgendjemanden, an dem ich mich festhalten konnte. Jemanden, der mich auffing, wenn ich fiel, so wie es normalerweise Basti tat.
Die Tränen liefen mir mittlerweile ungehalten über die Wangen. Immer wieder wurde mein Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt, doch den anderen beiden ging es ähnlich.
So saßen wir drei eng umschlungen in einem Krankenhauszimmer und ließen all die negativen, aufgestauten Emotionen nach draußen kommen.
Ich meinte, Regen an die Fensterscheibe klopfen zu hören, doch vorhin hatte ich nicht darauf geachtet und nun hatte ich nicht mal mehr genug Kraft dazu, meinen Kopf zu heben und einen kurzen Blick aus dem Fenster zu werfen. Der Himmel war vorhin zumindest schon völlig Wolkenbedeckt.
Das triste Wetter passte zu den Gedanken und Gefühlen, die in diesem Moment in meinem Kopf hausten.
„Basti schafft es da durch. Er wird wieder heilen", flüsterte Nele vor sich hin. Mittlerweile vermutlich mehr, um sich selbst zu beruhigen.
Ich konnte ihr Handeln verstehen.
Manchmal brauchten Menschen eine Überzeugung, an der sie festhalten konnten, um nicht ins Leere zu fallen.
Irgendwie hatte die Umarmung in mir eine tröstliche Wirkung. Die Wärme, die von den Körpern der beiden anderen ausging überspielte die innere Kälte, welche sich seit der Nachricht über Bastis Unfall in mir ausgebreitet hatte, wenigstens für eine kurze Zeit. Außerdem gab mir die Umarmung ein Gefühl von Halt.
Ich fühlte mich nicht allein, so wie ich es in den letzten Stunden tat.
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Tatsächlich kehrte ich irgendwann an diesem Tag noch zu meiner Wohnung zurück. Oni hatte mich irgendwie dazu überredet, auch heute wieder für Basti zu streamen. Eigentlich hatte ich dafür nach diesem mehr als nervenraubenden, anstrengenden Tag überhaupt keinen Nerv und keine Kraft mehr, doch es war für Basti und für Basti würde ich alles tun, solange es keinem schadete.
Ich wollte ihm so oft eine Freude machen wie es ging, da ich sein Lächeln, sein Lachen und seine Art sich zu freuen über alles liebte, und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihn riesig freuen würde, wenn sein Streak nicht gebrochen war.
Ich nahm mir vor, am nächsten Tag so früh wie möglich wieder ins Klinikum zu kommen. Als erstes natürlich zu Basti, danach zu seinen beiden Geschwistern. Oder zu Oni.
Ich wusste nicht, wie lange Nele überhaupt vorhatte, hier zu bleiben.
Aber merkwürdig wäre es schon, wenn sie so schnell wieder ging.
Es war spät, als ich den Stream startete. Wie auch am vorigen Tag schon war ich unglaublich erschöpft und kaum in der Lage, einen anständigen Stream zu führen.
Auch dieses Mal gab es wieder viele Nachfragen zu Basti. Ich ignorierte sie entweder, da es dazu eh schon mehrere Clips hab, oder beantwortete sie mit einem kurzen „Wenn Basti wieder dazu in der Lage ist und das möchte, kann er euch seine Anwesenheit selbst erklären, aber ich will nicht ungefragt Informationen über sein Leben weitergeben."
Die einzigen, die von Bastis Unfall wussten waren sein Team, sprich Coder, Cutter, Thumbnaildesigner und so weiter und ein paar enge Freunde von uns, darunter Stegi und Heiko.
Der Stream bestand wie auch letztes Mal nur aus Just Chatting. Ich reagierte eigentlich fast nur auf Tiktoks.
Immerhin bekam ich den Stream dieses Mal auf fast zweieinhalb Stunden gestreckt, was zwar eigentlich echt armselig wenig war, dafür, dass ich komplett erschöpft und mit meinen Gedanken überall, nur nicht hier war, allerdings wieder eine souveräne Leistung.
Nachdem ich den Stream beendet hatte, ging ich in die Küche. Gut, zuvor hatte ich noch ein paar Minuten damit verbracht, an meinem Setup zu dösen.
Hinter ein paar Küchengeräten versteckt, entdeckte ich auf der Arbeitsfläche noch eine Weinflasche. Eine gefüllte Weinflasche.
Ja, mir war durchaus bewusst, dass Alkohol nie eine vernünftige Lösung war, um mit seinen Sorgen umzugehen und negative Emotionen zu verdrängen.
Ja, mir war durchaus bewusst, dass das Folgen mit sich ziehen könnte.
Ja, ich wusste, dass Basti vermutlich enttäuscht von mir wäre.
Und ich wusste, dass mein Verhalten alles andere als erwachsen war. So als wäre ich sechzehn und nicht sechsundzwanzig.
Doch die Sorgen um Basti und die Schuldgefühle waren so groß. So schwer und belastend. So erdrückend.
Ich fühlte mich seit Onis Anruf so, als hätte sich über mich eine nasse Schicht Zement gelegt.
Ich ging zum Küchenschrank, aus welchem ich mir ein Weinglas nahm. Anschließend füllte ich die dunkelrote Flüssigkeit in das Trinkgefäß und setzte meine Lippen an den Rand des Glases an.
„Bitte verzeih mir das, Basti. Das kommt nicht wieder vor", murmelte ich jetzt schon in dem Wissen, dass es an diesem Abend sicher nicht bei einem Glas Rotwein bleiben würde.
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