𝐅𝐮̈𝐧𝐟𝐳𝐞𝐡𝐧

-Oni-

„Mir geht's gut, ehrlich", versicherte ich meinen Eltern nun bestimmt schon zum siebten Mal.
Und ich log noch nicht mal. Bis auf eine leichte Gehirnerschütterung, einge Prellungen und Kratzer und einen starken Schock hatte ich den Zusammenstoß unversehrt überlebt.
Anders ging es jedoch meinem großen Bruder.
Bastis Werte waren momentan zwar stabil, doch er lag auf der Intensivstation und musste notoperiert werden, da er drei gebrochene Rippen hatte und eine so weit verschoben war, dass einen Teil der Lunge beschädigt hatte.
Außerdem hatte er durch die zersplitterte Fensterscheibe einige tiefe Schnitte im Gesicht, an den Armen und auch am Oberkörper und sein linkes Handgelenk war angebrochen.

Ich war die ganze Zeit über bei Bewusstsein, doch durch den Schock hatte ich kaum etwas mitbekommen. Im Nachhinein erfuhr ich, dass uns jemand mit voller Geschwindigkeit in die Seite gefahren war, als Basti links abbiegen wollte, um zu wenden.
Die Fahrerin des roten Audis hatte scheinbar eine Rückenmarksverletzung erlitten. Es war noch unklar, ob sie je wieder etwas unterhalb der Hüfte spüren würde.

Mittlerweile war das Ganze etwas mehr als elf Stunden her. Vor etwas mehr als einer Stunde waren unsere Eltern hier eingetroffen. Ich wusste, dass Basti zu beiden nicht das beste Verhältnis hatte, da sie immer noch der Meinung waren, dass sein Beruf kein Beruf war und ihn Jahre lang dazu drängen wollten, sich einen anständigen Beruf zu suchen. Nachdem Basti ihnen schließlich vor sechseinhalb Jahren mehr als deutlich seine Meinung gesagt hatte und ihnen klar gemacht hatte, dass er sein eigenes Ding machen wollte und nicht das, was sie gerne von ihm hätten, zog er keinen Monat später nach Berlin und brach mehrere Jahre fast gänzlich den Kontakt zu ihnen ab.
Als sie nun in meinem Krankenzimmer am Fußende meines Bettes saßen und mich seit fünfundvierzig Minuten mit derselben Frage, ob es mir wirklich gut ginge, löcherten, wurde ich so langsam richtig sauer.

„Wieso stellt ihr mir seit ihr da seid alle zwei Minuten sie selbe verdammte Frage, ob es mir gut geht?", begann ich schließlich zu reden. „Mein älterer Bruder -euer Sohn- liegt mit schweren Verletzungen im künstlichen Koma auf der Intensivstation und es war kurzzeitig unklar, ob er es schaffen wird, weil er eine fucking Rippe in seiner Lunge hatte und ihr- ihr scheint euch nicht dafür zu interessieren, so als ob ihr ihn nicht mal kennen würdet!"
Zum Schluss überschlug sich meine Stimme fast.
Schweigen füllte die daraufhin folgenden Sekunden den Raum.
„Wisst ihr, um ehrlich zu sein geht es mir mehr als beschissen. Ich meine, es könnte sein, dass ich meinem großen Bruder verliere!", schleuderte ich ihnen entgegen. „Ich war die ganze Zeit über bei Bewusstsein nach dem Unfall! Könnt ihr euch eigentlich vorstellen, wie traumatisierend so was ist?", regte ich mich weiter auf.

„Wisst ihr, es freut mich zwar unglaublich, dass ihr euch so um mich sorgt, aber bitte- bloß, weil Basti nicht zu eurem Traum-Sohn geworden ist, müsst ihr euch nicht so verhalten, als wäre er euch egal." Zum Ende hin würde ich immer ruhiger. Innerlich tobte ich immer noch, aber ich hatte einfach nicht mehr genug Kraft.
Einige Sekunden gab niemand ein Wort von sich. Dann begann meine Mutter langsam zu nicken. „Ich denke du hast Recht. Vielleicht sollten wir wirklich nach Bastian sehen", meinte sie.
Na endlich.
Sowohl unsere Mutter, als auch unser Vater erhob sich und lief zur Tür. „Wir kommen später wieder. Wenn wir ihn aktuell überhaupt besuchen können", verabschiedete meine Mutter sich, ehe sie beide den Raum verließen.

Nun war ich alleine. Einige Minuten vergingen, in denen ich einfach aus dem Fenster starrte, dann erinnerte ich mich daran, dass ich mein Handy hier hatte. Tatsächlich gehörte es zu den Dingen, die unversehrt geblieben waren, da ich es in meine Reisetasche im Kofferraum gepackt hatte.
Ich griff nach meinem Handy und entsperrte es.
Drei verpasste Anrufe und 68 ungelesene Nachrichten. Die meisten davon stammten ziemlich sicher von meiner besten Freundin Lorely, welche mich mal wieder mit YouTube Shorts und Stickern zugespammt hatte. Ein paar waren Nachrichten im Klassenchat, warum auch immer man es in den Sommerferien nötig hatte, etwas in die Klassengruppe zu schreiben.
Die verpassten Anrufe waren von Bastis und meinen Eltern.
Lustigerweise hatten sie genau zehn Minuten vor dem Unfall angerufen, wahrscheinlich weil sie wissen wollten, wann ich nach Bayern zurückkam.
Auch auf Wattpad hatte ich einige Benachrichtigungen.
Ein paar von ihnen stellten sich als Kommentare bei einer Fanfiction, Ankündigungen und Story Updates heraus, aber einige stammten auch von Marina, einer ziemlich guten Freundin.

Heute 11:23

Oniii

Bro, ich hab grad ne Theorie aufgestellt

Heute 12:28

Hallo?

Oni?

Heute 13:38

JUNGE

Lebst du noch?

Heute 14:47

Brüderchen?

DU BRAUCHST DOCH SONST KEINE VIER STUNDEN UM AUF MEINE NACHRICHTEN ZU ANTWORTEN!

Vor 57 Minuten

Ich mach mir ernsthaft Sorgen bro also antworte ma lieber ganz schnell

Ich musste kurz schmunzeln, wegen Marinas leicht aggressiver Art. Dann wurde ich jedoch schnell wieder ernst.
Ich begann zu tippen:

Hey Marina

Sorry dass ich erst jetzt antworte, liege im Krankenhaus
Mein Bruder und ich hatten nen Autounfall
Mir geht's gut soweit, aber mein Bruder liegt auf der Intensivstation

Ich hab Angst

Marina wusste zwar, dass ich einen großen Bruder hatte, ich hatte ihr aber nicht erzählt, wer mein großer Bruder war, was vermutlich auch erst einmal besser war.

Mir fiel ein, dass ich dank Basti Kevins Nummer hatte. Also beschloss ich, ihn anzurufen und ihm die momentane Situation zu erklären. Aber ich war mir eh fast sicher, dass er bereits hier war. Ich traute ihm durchaus zu, dass er tagelang in einem Wartebereich schlief, um auf keinen Fall zu verpassen, wenn Basti wieder wach war und nicht mehr auf der Intensivstation lag.

Unsicher tippte ich auf seinen Kontakt. Am liebsten wollte ich aus irgendeinem Grund abbrechen, doch es war bereits zu spät. Das erste altbekannte Tüten ertönte, dann das zweite. Ein drittes, viertes und fünftes folgten, bis endlich ein „Hallo?", ertönte.
Ich räusperte mich. „Ich bin's, Oni. Also...ja, Bastis Bruder eben", begann ich unsicher. „Oni, oh mein Gott danke! Kannst du mir bitte sagen was passiert ist und wie es Basti geht", bat er. „Ich sitz hier seit Stunden im Krankenhaus, aber die können mich nicht zu Basti lassen und können oder wollen mir auch keine Auskünfte über seinen genaueren Zustand geben."
Ich hatte also recht. Irgendwie war es mir fast klar, dass Kevin so schnell wie möglich versuchen würde, Basti zu sehen.
Ich seufzte schwer, dann begann ich, Kevin alles, von der Autofahrt bis zu den Dingen, die ich von den Ärzten erfahren habe zu erzählen.
„Im Moment sind die Eltern von Basti und mir ein paar Minuten bei ihm. Ich hoffe für euch beide, dass du ihn bald besuchen kannst, wenn es ihm besser geht."

Einige Sekunden hörte man nichts am anderen Ende der Leitung.

„Hör mal...ich glaube, es wird noch mindestens drei Tage dauern, bis Bastis Zustand sich so weit verbessert hat, dass er aufwachen kann.
Mach dir bitte bis dahin nicht zu viele Vorwürfe und Gedanken", meinte ich. „Noch ist der Tag nicht rum. Ich glaube, du würdest Basti 'ne große Freude machen, wenn du seine Streak aufrechterhältst. Du hast doch Bastis Zugangsdaten. Fahr jetzt am besten erstmal wieder zu dir und Stream eine Weile auf Basis Account. Erklär, dass er aktuell im Krankenhaus ist, aber bitte...nicht zu viel Information. Ich denke, das ist das einige, was du im Moment machen kannst", sagte ich ernst.
Ich hörte ein leises „Mhm. Ich werd's versuchen."
„Danke", lächelte ich. Ich bedankte mich nicht nur für mich, sondern auch im Namen meines Bruders bei Kevin.
„Also dann...ich informier dich, wenn du ihn besuchen kannst. Tschüss", murmelte ich.
„Ciao", verabschiedete er sich ebenfalls.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Mein Kopf tat weh. Eigentlich hatte ich ursprünglich geplant, noch einmal auf Wattpad zu gehen, doch nun überkamen mich die Müdigkeit und vermutlich auch der Rest des Schocks und ich schloss meine Augen.
Kurze Zeit später stiftete ich in einen unruhigen Schlaf.

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