Log 2025-289, Knut Schmidt

Im Schein meiner Taschenlampe tauchten die ersten Stalagmiten und Stalaktiten auf. Wie lange Dolche wuchsen die gelblichen Felszähne von der Decke und aus dem Boden. Der eine oder andere war abgebrochen, ohne dass Trümmer herumlagen. Seltsam. Das unstete Tropfen der Feuchtigkeit, die von ihnen herabperlte, erfüllte mit seinen widerhallenden Echos die finstere Höhle. In ihrem Gewirr sah ich maximal zehn Schritte weit. Mit Bedacht schlich ich mich durch das steinerne Labyrinth. Die platschenden Geräusche meiner Stiefel waren nicht zu vermeiden. Vorsichtshalber zog ich den Revolver, dieses Level war zur recht als „Klasse 5 - unsicher" eingestuft.

Das war der Grund, warum ich in den Frontrooms – der Realität – nie mit der Familie finstere Bergwerke oder Tropfsteinhöhlen besucht hatte. Zu groß war die Gefahr, dass Marc, der meinen Gen-Defekt teilte, versehentlich in einer unerforschten Ecke oder mit einer unbedachten Bewegung dort in den Backrooms landete. Bis heute hasste er mich dafür, dass ich immer übervorsichtig war. Im Gegenzug hatte er bisher überlebt. Irgendwann verstünde er es.

Vor mir tauchte zwischen dem Wald aus Felszacken ein still ruhender, nahezu kreisrunder See auf, der von innen heraus bläulich schimmerte. Falls die Aufzeichnungen der Major Explorer Group, kurz M.E.G., korrekt waren, war ich auf dem richtigen Weg. So weitläufig dieses Level war, es veränderte sich zumindest nicht ständig, wie diverse andere.

Langsam schritt ich am Ufer entlang bis zu einem Stalagmiten, in den jemand einen groben Pfeil mit einem deutlichen „K" sowie wie einen Totenkopf darunter geritzt hatte. Ab hier war größte Vorsicht angebracht, da ich mich der verlassenen Höhlenstadt Kavragost näherte. Ohne Begleitung eine gefährliche Mission, aber ich brauchte keine Zeugen. Ein finsterer Pfad aus herausgeschlagenen Felszähnen führte in Schlangenlinien tiefer in das Level 8.

Hinter mir erklangen dumpfe Schritte. Zügig wendete ich und hob die Waffe. Im Schein der Lampe lag der Gang verlassen vor mir. Zehn Atemzüge später schlich ich mit Bedacht weiter. Erneut hörte ich ungleichmäßiges Getrappel und riss die Taschenlampe herum. Nichts als Leere. Verflucht. Mein Verfolger konnte problemlos zwischen den Steinzacken seitlich abtauchen.

Was tun? Weitergehen oder mich auf die Lauer legen? Bisher hatte er mich nicht angegriffen. Das sprach für eine gewisse Intelligenz des Gegners. Kein tumbes Backrooms-Monster.

„Hey! Komm raus, ich habe dich gehört", flüsterte ich halblaut auf Englisch, damit ich nicht die Aufmerksamkeit sämtlicher Kreaturen in der Umgebung auf mich zog.

Stille. Niemand zeigte sich. Ein Versuch war es wert gewesen.

Wie weit war er entfernt? Maximal zehn Schritte, ansonsten hätte ich nichts gehört. Hm ... Was du kannst, kann ich ebenfalls. Damit löschte ich die Lampe und trat einen Schritt zur Seite hinter einen mannshohen Felsen. Mal sehen, wer mehr Geduld mitbrachte.

Im Geist zählte ich langsam, um mein Zeitgefühl in der absoluten Schwärze nicht zu verlieren. Als ich mich der 500 näherte, erschien ein minimaler Lichtschein auf dem Weg. Kaum wahrnehmbare Atemgeräusche und knirschende Schritte folgten. Eine menschliche Silhouette mit einer abgedeckten Taschenlampe schlich an meinem Versteck vorbei. Mit angehaltenem Atem wartete ich ein paar Sekunden, bis sie drei Meter voraus war.

Mit Bedacht zielte ich und schaltete das Licht ein: „Stopp! Keine Bewegung!"

Im scharfen Lichtkegel ruckte eine Gestalt herum. Ein Mann, maximal 1,80 groß mit zotteligem rotem Bart. Seine Ausrüstung bestand aus einem nahezu bodenlangen Mantel, Rucksack und festen Stiefeln. Eine Waffe war nicht auszumachen. Er hielt seinen Arm geblendet vor das Gesicht, sodass ich keine Einzelheiten erkannte.

„Nicht schießen. Ich arbeite für Async", antwortete er mit heiserer Stimme und blinzelte über seinen Arm.

„Da musst du mir schon was Besseres bieten. Wer bist du und warum schleichst du mir hinterher?"

„Agent Rian O'keeffe. Ich bin dein Back-up."

„Hä? Back-up?"

„Falls es dich erwischt, soll ich die Mission zu Ende führen oder zurückbringen, was auch immer du gefunden hast."

„Klingt schräg." Dem jungen Burschen traute ich nicht einen Millimeter. „Warum wurdest du mir nicht direkt als Partner an die Seite gestellt?"

„Na ja, falls du stirbst, könnte ich einfach abwarten, bis sich die Situation beruhigt hat und dann die Reste bergen."

„Hm ..." Das entsprach durchaus der kruden Logik, mit der Async die Missionen plante. Sympathisch war es mir nicht. „In Ordnung. Wie lautet der dreißigste Schlüssel von fünf?"

„A-K-F 21", antwortete er, wie aus der Pistole geschossen.

Damit hatten wir uns beide als Mitarbeiter der Foundation identifiziert. Es existierten rund 500.000 Frage-und-Antwort-Kombinationen, die dafür verwendet wurden – sofern man die dahinterstehende Logik beherrschte.

„In Ordnung Rian. Wir gehen zusammen weiter. Keine Versteckspiele." Er setzte zu einer Antwort an. Zackig hob ich meine Hand. „Keine Diskussion – und du gehst vor. Alternativ verziehst du dich und folgst mir nicht mehr."

Er schaute mich sekundenlang aus seinen blauen Augen an und schien mit sich zu ringen. Am Ende nickte er schweigend, drehte sich um und schritt langsam voraus.

↼⇁

Eine halbe Stunde später in der wir kein Wort wechselten und dem finsteren Weg folgten, endete der Säulenwald wie abgeschnitten.

„Wow", entfuhr es meinem ungewollten Begleiter, als sich die verlassene Höhlenstadt unter uns ausbreitete. „Damit habe ich nicht gerechnet."

Unsere Taschenlampen beleuchteten nur einen winzigen Ausschnitt der verfallenen Gebäude. Leuchtende Mose an der zwanzig Meter entfernten Höhlendecke und unbestimmte Lichtquellen in der Stadt ließen eine unendliche Masse einstöckiger Häuser erahnen. Wände aus grobbehauenen Felsen, leere Fensteröffnungen und ein Gewirr schmaler Gassen verloren sich in der Ferne.

„Wie groß ist diese Stadt und wer hat das alles gebaut?" Ehrfurcht schwang in Rians Stimme mit.

„Etwa zwei Quadratkilometer. Das entspricht der Fläche einer mittleren Kleinstadt in Deutschland. Ist alles verlassen. Na ja, zumindest leben die Erbauer nicht mehr hier. Niemand weiß, wer die waren."

„Facelinge?"

„Eher nicht. Du wirst sehen."

Damit schritt ich den seichten Hang auf einem Schotterpfad in Richtung der vordersten Häuser hinab. Das war nicht mein erster Besuch in der finsteren Geisterstadt, aber ich hätte gerne auf folgende verzichtet. Insgeheim wunderte ich mich über seine Frage. Als Agent sollte er die Fakten und Orte der wichtigsten hundert Level auswendig herunterbeten können.

Unten angekommen traten wir in eine der weiten Gassen. Die Häuser hatten nur ein Stockwerk, trotzdem zogen die Wände sich locker vier Meter in die Höhe. Die Fensterbänke lagen auf unserer Kopfhöhe, die Türen maßen das Doppelte menschlicher Gebäude.

„Riesen?"

„Offensichtlich. Sie müssen über drei Meter groß gewesen sein." Mit gezogenem Revolver wanderte ich weiter. „Hast du keine Waffe dabei?"

„Schon, aber ich stehe nicht auf Schusswaffen."

„Sondern?"

Er warf die Seite seines Mantels zurück und ließ mich das Heft eines japanischen Katanas erkennen.

„Ein Schwert? Ist das dein Ernst? Dafür musst du aber ..."

Sein Fuß schnellte vor. Ein heftiger Tritt presste mir die Luft aus der Lunge, während ich nach hinten flog und auf dem Rücken landete. Mit einem unmenschlichen Kreischen krachte von oben ein lumpenumhüllter Schatten auf die verwitterten Pflastersteine. Exakt an der Stelle, an der ich Augenblicke zuvor gestanden hatte. Die Kreatur sprang auf wie ein Klappmesser. Ein Bündel aus fauligem grauem Fleisch, scharfen Klauen und seltsam verbogenen Gliedmaßen stürzte sich blitzartig auf Rian. In einer schattenhaften Bewegung trat er zur Seite, zog fließend das Katana und ließ es geschmeidig niedersausen. Die zombiehafte Kreatur stolperte drei Schritte und zerfiel mit einem schmatzenden Geräusch mittig in zwei Teile. Mein Begleiter hatte sie nahtlos zerteilt.

In meinem Augenwinkel bewegte sich etwas. Ich zog, ohne nachzudenken, den Revolver und gab einen donnernden Schuss in eine der Fensteröffnungen ab. Der mit einem schiefen Kiefer verunstaltete Kopf einer weiteren Kreatur zerplatzte. Die Überreste landeten klatschend vor mir.

„Hinter dir!", rief Rian, der in diesem Moment mit seiner Klinge einen heranspringenden Gegner der Länge nach spaltete, sich duckte und die beiden Körperhälften über sich hinweg fliegen ließ.

Ohne aufzustehen, drehte ich mich bäuchlings und gab drei ungezielte Schüsse auf eine mit fettigen Haaren und einem dreckigen Kleid bedeckte Kreatur ab, die auf mich zustürzte. Zwecklos. Der Schwung des Viehs trug es weiter. Im letzten Moment warf ich meinen Körper auf die Seite, zielte und ließ erneut mit einem hämmernden Schuss das Haupt des Gegners zerplatzen.

Ruhe kehrte ein. Zwischen mir und Rian lagen die bestialisch stinkenden Überreste der Monster. Undefinierbare Flüssigkeiten tropften an uns herab. Wir schauten uns schweratmend an.

„Danke für deine schnelle Reaktion. Alles in Ordnung mit dir?", fragte ich ihn, um etwas zu sagen.

„Nichts passiert. Was waren das für Viecher?"

„Wretches. Die Zombies der Backrooms. Eine echte Plage. Lauern hier praktisch überall. Sag mal, bist du zum ersten Mal hier?"

„Ja. Sorry. Frisch aus Los Alamos. Abschluss mit Bestnoten."

„Na toll. Die schicken einen unerfahrenen Frischling, um mich bei einer Mission in einer Klasse 5 Zone zu beobachten? Das macht keinen Sinn."

In einer raschen Bewegung zog ich meinen Revolver, spannte den Hahn und richtete den Lauf auf seinen Kopf: „Also nochmals von vorne – was zum Teufel ist dein Auftrag?"

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