Log 2025-294, Knut Schmidt
Auch dieses Mal gebe ich die Ereignisse aus der Sicht von Knut wieder. Dafür nutze ich erneut seine Log-Aufzeichnungen, ohne diese groß zu kommentieren. Ich denke, das hilft euch, zu verstehen, was im Hintergrund passiert ist.
Ich ließ das Taxi einen Häuserblock von der Wohnung meines Async-Kollegen entfernt halten. Es war halb vier, also noch vor dem Berufsverkehr. Die Häuser in dieser typischen Vorstadtsiedlung lagen zurückgesetzt hinter akkurat gepflegten Rasenflächen, ohne Hecken oder Zäune. Leere Einfahrten und verschlossene Garagen zeugten davon, dass die Bewohner zur Arbeit oder in die Schule gingen. Niemand war auf der Straße. Nur vereinzelt war das Lachen und Schreien kleiner Kinder zu hören. Wäre ich mir nicht sicher gewesen, dass ich mich in meiner Realität befand, hätte es genauso gut eine Ebene in den Backrooms sein können. Zum Beispiel ein Seitenbereich der Endlosen Stadt.
Andrew, der hier leben sollte, hatte keinen normalen Job. Er war Feldagent, so wie ich. Ob er zu Hause war, würde ich gleich herausfinden. Blieb nur zu hoffen, dass Async mich nicht offiziell suchen ließ. Ohne Pistole fühlte ich mich irgendwie nackt, aber das hier waren die Frontrooms. Obwohl wir in den USA waren, durften Async-Agenten im Dienst keine Waffen tragen. Privat konnte man hier problemlos mit einer Schrotflinte durch die Straßen laufen. Die Organisation blieb hier lieber unter dem Radar und agierte unauffällig. Kein Wunder, dass außer Backroom-Interessierten kaum jemand von ihr gehört hatte. Die Informationen im Internet über Async waren natürlich frei erfunden. Dafür sorgten diverse Kollegen. Dieselben, die auch die Backrooms-Wikis regelmäßig mit Daten füllten, von denen die meisten der Wahrheit entsprachen. In den Wikis ging es darum, die Leute darauf vorzubereiten, falls sie versehentlich dort landeten – oder durch die Maschine der Facelinge. Aber Letzteres war nicht vorhersehbar gewesen.
Auf dem fraglichen Grundstück kam ich an einem modernen weißen SUV vorbei, der vor der Garage stand. Typisch amerikanisch war die eigentliche Haustür durch eine Fliegengittertür verdeckt. Ein elektrischer Gong hallte durch das Haus, als ich den Klingelknopf drückte. Mehrere Herzschläge lang passierte nichts. War er unterwegs und nicht zu Hause? Mit einem Knacken öffnete sich die Tür und ich blickte durch das Fliegengitter auf einen Mann in den Dreißigern. Sportlich, in einem grünen Polohemd, die blonden Haare nach hinten gekämmt.
„Hallo Andrew", begrüßte ich ihn auf Englisch. „Wie geht es dir? Ich war gerade in der Gegend und dachte mir, ich schau mal vorbei."
Das war wohl die langweiligste Ausrede, die man sich für einen Besuch ausdenken konnte. Aber je einfacher, desto weniger musste man erklären. Außerdem musste ich erst einmal herausfinden, wo mein ehemaliger Kollege stand.
„Hallo, wie geht's?", antwortete er entsprechend der hier üblichen Begrüßung. Niemand erwartete eine Antwort. Er schob auch die Außentür auf und mir entgingen nicht die Blicke, die er links und rechts an mir vorbei warf. Als wollte er sich vergewissern, dass ich allein war. Oder dass keiner der Nachbarn zuschaute. „Schön, dich wieder zu sehen. Komm doch rein."
Das war ein Anfang. Ich folgte ihm durch einen dämmrigen Flur, von dem links und rechts verschlossene Türen abgingen. Auf einer Kommode stand eine geschmacklose Imitation einer chinesischen Vase mit künstlichen Rosen. Autoschlüssel und Portemonnaie lagen daneben.
Kurz darauf saß ich auf einem Sofa mit Blumenmuster, Andrew setzte sich mir gegenüber und faltete die Hände. Das Wohnzimmer machte einen ganz normalen Eindruck: Bilder seiner Familie schmückten die Wände und die Kommoden. Die Möbel wirkten etwas zusammengewürfelt und altmodisch. Das war nur meine deutsche Perspektive. Andere Länder, anderer Geschmack.
„Also, was führt dich hierher?", nahm er das Gespräch wieder auf.
Es klang wie Small Talk, war jedoch die entscheidende Frage. Wie ehrlich durfte ich sein? Erst musste ich herausfinden, wie er oder Async zu mir standen.
„Ein alter Auftrag. Erinnerst du dich an den Smuther?" Damals waren wir in einem höheren Level, ich weiß nicht mehr genau welches, aber den Smuther vergaß man nicht so schnell: eine amorphe, sich ständig verändernde Masse aus Körperteilen. Arme, Beine, Köpfe und andere Glieder scheinen aus ihm herauszuwachsen und wieder zu verschwinden. Mal erschienen sie menschlich, mal tierisch oder gar nicht identifizierbar. Andrew beging den Fehler, die Entität anzuschauen, und geriet dadurch in den psychologischen Sog des Wesens. Wie ein Schlafwandler näherte er sich ihm. Mit einem Trick konnte ich uns beide retten: Ich riss mein T-Shirt auf und verband zuerst mir, dann ihm die Augen. Damit war der Bann gebrochen und ich konnte ihn weit genug wegziehen, um uns von der dämonischen Anziehung zu befreien.
„Natürlich", sagte er und ein breites Lächeln entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne, „wie könnte ich das vergessen. Also, was kann ich für dich tun?"
„Erzähl mir, wie wir uns gerettet haben", bestand ich auf einer klaren Antwort.
„Nun, wie immer: in letzter Sekunde!" Er lachte und schüttelte sich. „Was für ein Abenteuer. Willst du ein Wasser oder so?"
Verdammt. Er wich mir aus und gab Antworten, die jeder geben konnte. War er ein Possessor? Ich musste mich vergewissern: „Bitte beantworte meine Frage. Es ist wichtig: Wie genau haben wir uns gerettet?"
„Ist doch egal, oder? Vorbei ist vorbei. Sag mal, was ist denn mit dir los?"
Damit war klar: Vor mir saß nicht Andrew. Er war ein Possessor und hatte den Körper des Agenten an sich gerissen. Wusste er, dass ich ihn durchschaut hatte? Wenn ja, wie würde er reagieren? Würde er den Schein wahren und mich gehen lassen? Oder würde er versuchen, mich aus dem Weg zu räumen?
Langsam, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, erhob ich mich und zwang ein Lächeln auf meine Lippen. „Ja, du hast recht. Tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe. Ich muss leider wieder los. Weißt du, die Pflicht ruft."
„Ja, klar, Kumpel", stand ebenfalls auf. War da Anspannung in seiner Haltung? Würde er sich gleich auf mich stürzen? „Kann ich verstehen. Schön, dass du vorbeigekommen bist."
Schritt für Schritt bewegte ich mich zur Seite. Mein Herz klopfte merklich und Adrenalin peitschte durch meine Adern. Wie sollte ich rausgehen, ohne ihm den Rücken zuzukehren? Auch wenn es sich komisch anfühlte, machte ich mich rückwärts auf den Weg zum Flur.
„Geht es dir gut?", fragte er.
„Ja, alles in Ordnung." Das erste Stück war geschafft. Mit den Fingern ertastete ich den Korridor. Die Haustür war nur fünf Schritte entfernt. Doch der Possessor war mir gefolgt. Ein Raubtier, das auf seine Beute lauerte. Er war kurz davor, sich mit einem Sprung auf mich zu stürzen. Langsam schob er eine Hand hinter seinen Rücken. Was verbarg er dort? Eine Waffe?
Ich wollte es gar nicht wissen. Mit einem kurzen Seitenblick schnappte ich mir die Porzellanvase und schleuderte sie ihm entgegen. Mit einem Aufschrei wich er aus und in seiner Hand erschien eine graue Pistole. In diesem Moment stürzte ich schon gebückt nach vorne. Im Sprint griff ich mir die Autoschlüssel und riss die Haustür auf. Mit einem Satz warf ich mich durch die Fliegengittertür, die sich krachend öffnete. Dann schrammte der raue Bürgersteig über meine Schulter. Ich rollte mich ab, rappelte mich auf und sprintete hinter das Auto. Mit keuchendem Atem blickte ich zurück.
Andrew stand mit wutverzerrtem Gesicht in der Tür und starrte mich an. Die Waffe wieder hinter dem Rücken. Er hatte nicht geschossen, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Kein Wunder. Als Possessor musste er um jeden Preis vermeiden, aufzufallen. Und ein Schuss in dieser ruhigen Gegend hätte sofort Nachbarn und Polizei auf den Plan gerufen.
Schnell weg, bevor er es sich anders überlegte. Im lockeren Trab wandte ich mich ab und rannte die Straße hinunter. Die Autoschlüssel warf ich in die Büsche. Er folgte mir zwar nicht, aber er würde sicher seinen Possessor-Kumpanen Bericht erstatten. Tja, das ließ sich kaum vermeiden und war früher oder später sowieso zu erwarten.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mir ein Taxi zu rufen und mich meinem nächsten und letzten Kontakt zuzuwenden: Joseph. Im Gegensatz zu Andrew war er kein ehemaliger Partner, der mir noch etwas schuldete. Ganz im Gegenteil. Und falls er ebenfalls ein Possessor war, wäre unsere Mission beendet, bevor sie richtig begonnen hatte.
↼⇁
Das Taxi hielt vor einem heruntergekommenen Trailerpark. Zwischen hohen, spargeldürren Bäumen standen wild verstreut „Wohnwagen", wenn man sie so nennen wollte. Fahren würden sie nicht mehr. Grüne Regenflecken, brauner Rost und abmontierte Reifen zeugten davon, dass die Behausungen schon lange aufgegeben worden waren. Das Gleiche galt vermutlich auch für die Bewohner des verwahrlosten Areals. Wieder war kein Mensch zu sehen. Das blecherne Geräusch eines zu lauten Fernsehers drang an mein Ohr. In der Ferne waren die Schreie eines streitenden Paares zu hören. Wenn hier ein Schuss gefallen wäre, hätte sich niemand die Mühe gemacht, auch nur aus dem Fenster zu schauen. Und Joseph wäre vermutlich alles andere als erfreut, mich zu sehen. Der Platzwart hat mir die Nummer seines Platzes verraten. Und bei der Gelegenheit darauf hingewiesen, dass noch drei Monatsmieten offen seien. Wenn Joseph nicht bald zahle, werde er ihn eigenhändig rausschmeißen. Das war gut zu wissen. So hatte ich wenigstens einen Ansatzpunkt.
Vor dem Wohnwagen stehend, blickte ich mich kurz um. Außer ein paar schwarzen Müllsäcken war nichts Persönliches zu sehen. Aus dem Inneren drangen die Geräusche eines Actionfilms. Mit der Faust klopfte ich heftig gegen die Tür. Keine Reaktion. Ich schlug noch einmal gegen das Blech.
„Verpiss dich!", hörte ich eine gedämpfte Stimme.
„Joseph?", rief ich laut. „Hier ist ein alter Freund."
Wieder hämmerte ich gegen die Tür. Meinen Namen wollte ich absichtlich nicht nennen, für den Fall, dass er ein Possessor war.
„Is' mir egal. Ich hab' keine Freunde. Hau ab!"
„Ich will dir ein Geschäft vorschlagen." Ich schrie fast, um den Fernseher zu übertönen. Wahrscheinlich hörten die Bewohner der umliegenden Wohnwagen jedes Wort. „Ein gutes."
Der Film verstummte und schlurfende Schritte waren zu hören. Knarrend öffnete sich die Tür. Im Rahmen stand Joseph, auch wenn er sich in den letzten zehn Jahren deutlich verändert hatte: Fleckige Jogginghose, Bierbauch, schmuddeliges Unterhemd und ein unrasierter Kopf mit grauen Haaren. Von der einst wachen Intelligenz in seinen braunen Augen war nur noch ein schwacher Schimmer übrig. Der Gestank, der mir entgegenschlug, war eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, saurem Alkohol und Schweiß. Es gelang mir nicht, eine neutrale Miene zu bewahren.
„Was zum Teufel ...", begann er. Dann kniff er die Augenlider zusammen. „Knut? Verdammter Mist." Damit wollte er die Tür zuschlagen, aber ich stellte meinen Schuh dazwischen.
„Joseph. Es ist wichtig. Hör mir wenigstens zu."
„Du kannst mich mal. Damals hab' ich auf die gehört. Und schau, wo ich jetzt bin." Er versuchte, meinen Fuß wegzuschieben.
„Ich gebe dir hundert Dollar, wenn du mir nur zuhörst", wagte ich mich vor und hielt ihm eine Handvoll kleiner Scheine hin.
Er hielt inne. Dann griff er nach den Banknoten und winkte. „Wenn das wieder so ‚ne Nummer ist, bei mir für dich, ... Ich weiß jetz' schon, dass ich's bereue. Egal, komm rein. Ich geb' dir drei Minuten."
Das Innere des rechteckigen Kastens entsprach leider meinen Erwartungen. Volle Aschenbecher, leere Whiskyflaschen, Teller mit Essensresten in der Spüle. War es meine Schuld, was aus Joseph geworden war? Vielleicht. Zumindest war ich nicht ganz unschuldig daran.
„So", sagte er und ließ sich auf ein kariertes Ecksofa fallen, das den hinteren Teil des Raumes einnahm. Er bot mir keinen Platz an. „Deine Zeit läuft."
„Ich war vorhin bei Andrew."
„Dein ehemaliger Partner? Ihr wart doch Busenfreunde und er wollt' dir nich' helfen? Oder hast'e ihn genauso ans Messer geliefert?"
Damit war zumindest klar, dass Joseph kein Possessor war. Andererseits würde ein Possessor ohne Erinnerungen sicher nicht in diesem Drecksloch bleiben wollen.
„Das Problem war ein anderes", klärte ich ihn auf. „Er war nicht er selbst, er war ein Faceling."
„Oh Mann. Wer von uns hat denn hier 'ne Klatsche? Wie soll denn 'nen Faceling hierher kommen? Der würd' auffallen wie 'n bunter Hund. Das is' Bullshit."
Ich atmete tief durch. „Körperlich natürlich nicht. Nur sein Geist. Er hat ihn übernommen und den echten Andrew in die Backrooms verbannt. Und nicht nur ihn. Wahrscheinlich Millionen von Menschen. Auch meine Familie. Wir nennen sie die Possessors. Und Async steckt mit drin. Deshalb brauche ich deine Hilfe."
Er starrte mich an. „Okay. Du hast mich neugierig gemacht. Trotzdem glaub' ich nich', dass ich helfen kann. Wegen dir bin ich da von zehn Jahr'n im hohen Bogen rausgeflogen und bekomm' nirgends mehr 'nen Job. Schon vergessen?"
„Nee. Natürlich nicht. Also, hier die Kurzfassung ..." Ich erzählte ihm dann in groben Zügen von den Maschinen der Facelinge, die ihre Essenz, ihren Geist oder was auch immer in die Frontrooms schießen. Außerdem von unserer Vermutung, dass Async infiltriert worden war, wahrscheinlich selbst eine Maschine gebaut hatte und etwas mit Core-Diamond vorhatte.
Nachdem ich geendet hatte, starrte mich Joseph lange an. Wortlos holte er eine halb volle Flasche Whisky hinter dem Sofa hervor und nahm einen großen Schluck. „Willst'e auch?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will mich nicht betrinken, ich brauche deine Hilfe."
„Kapier' ich immer noch nich'. Wie soll ich dir helfen?"
„Du hast doch bestimmt noch Kontakt zu den anderen vom Sicherheitsdienst. Außerdem bist du doch hier aufgewachsen. Du kennst bestimmt die halbe Stadt."
„Ha!", rief er. „Na klar! Nur will keiner von denen mehr was mit mir zu tun hab'n. Mit mir, dem Verräter, der angeblich geheime Unterlagen gestohlen hat." Er wedelte mit den Händen. „Uuuh. Ich bin gefährlich, weißt'e. Die halt'n mich für 'nen russisch'n Spion oder so was."
„Mag sein. Aber das ist jetzt schon eine Ewigkeit her. Tu mir den Gefallen und hör dich mal um. Ich suche einen Typen namens Rian O'keeffe und bin überzeugt, dass er hier irgendwo in der Stadt wohnt. Async wollte immer, dass wir nicht auffallen. Wir sollten uns wie ganz normale Bürger verhalten, die in einer privaten Forschungseinrichtung arbeiten."
„Einer, die militärisch geschützt wird", verbesserte er mich. „Aber ja. Falls er dort arbeitet, wird er vermutlich hier oder in der Nähe von Los Alamos wohnen."
„Und?"
„Was und?"
„Hörst du dich um?"
„Klar. Für einen alten Freund und um die Welt zu retten, tu' ich doch alles." Er lachte freudlos über seine eigene Ironie und nahm einen weiteren Schluck. „Nee. Was für'n Mist. Das is' mir alles total wurscht. Aber okay, was bist'e bereit, dafür hinzublättern?"
Seufzend kramte ich die restlichen Dollarscheine aus meiner Hosentasche. Wenige Minuten später war ich auf dem Weg zu Marc und Alex.
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