Log 3

Das war meine erste Begegnung mit Menschen, die dort leben und mir erstmalig erläuterten, was die Backrooms sind: Eine Paralleldimension. Zumindest ist das die gängige Theorie. Im Gegensatz zu der Welt, die ihr als Realität kennt, die „Frontrooms", ist diese in endlosen Ebenen, sogenannte Level, aufgeteilt. Jedes hat unterschiedliche Eigenheiten, Gesetzmäßigkeiten, Gefahren und tödliche Kreaturen, die dort leben.

„Du bist innerhalb von Tagen zweimal von den Frontrooms in die Backrooms genoclipt?", fragte Dox und hielt beim Essen seines Proteinriegels verblüfft inne.

„Ähm ... genoclipt?" Das Wort sagte mir nichts.

„Ja. Noclipen oder Nocliping. Das ist die Bezeichnung für den Wechsel zwischen den Dimensionen und den hiesigen Leveln. Es kann zufällig passieren oder bewusst, falls man durch eine Tür tritt, die einen Entry- oder Exit-Point darstellt."

„Aha. Ja, dann war das wohl so. Zuerst bin ich mit dem Kopf aufgeschlagen und landete in Level 0. Danach bin ich im Schwimmbad durch eine harmlose Tür im Keller gegangen und hier in Level 1 gelandet." Das Wasser in der Tasse vor mir schmeckte seltsam, frisch aber mit einem Nussaroma. „Was ist das für ein Geschmack?"

„Mandelwasser. Hilft gegen fast alles: Halluzinationen, Gifte, Verbrennungen. Und lässt sich als Tauschobjekt einsetzen, da es nicht überall zu finden ist."

Wir saßen gemeinsam in der Kantine und aßen Proteinriegel. Inzwischen war meine Wunde ausgewaschen und verbunden. Man hat mir einen bequemen Trainingsanzug überlassen sowie die Grundlagen zu den Backrooms vermittelt.

„Du musst wissen", setzte Dox das vorige Thema fort, „die meisten Menschen leben Monate oder Jahre hier, bevor es ihnen gelingt, zurück in die Frontrooms zu noclipen. Viele schaffen das nie."

„Nie?"

„Nie. Sie bleiben bis an ihr Lebensende. Wobei das in den Backrooms oft schneller kommt, als man erwartet. Vor allem, wenn man sich nicht auskennt."

Ich schluckte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bisher erschien es mir nicht besonders schwierig, zu wechseln oder besser: zu noclipen.

„Oh. Okay. Dennoch würde ich es gerne versuchen, es ist mir ja schon einmal gelungen."

„Deine Chancen sind in Level 0 am besten. Nach unseren Erkenntnissen liegen die ersten drei besonders ‚dicht' an den Frontrooms, wenn man das so sagen kann. Fast alle Neulinge kommen in der Lobby, der nullten Ebene, an."

„Hm ... und wie noclipe ich dort? Gegen Wände rennen? Das erscheint mir ziemlich schmerzhaft."

Dox lachte. „Nein, berühre sie mit den Händen. Ist eine Mauer durchlässig, ist sie zum Nocliping geeignet. Oft sind es auch zufällige Türen und Treppenaufgänge. Das weiß man dort nie."

„Schön, das erscheint mir einfach genug."

„Ja und nein. Die meisten Menschen führen diese nicht in die Frontrooms – wie gesagt. Sondern in andere, gefährlichere Level mit Fallen, tödlichen Kreaturen oder feindseligen Bewohnern. Wir sind nicht die Einzigen hier."

„Ich würde es trotzdem gerne probieren. Ähm ... und wie komme ich zurück ins Level 0?"

Er zuckte mit den Schultern. „Wie du hergekommen bist. Du suchst nach Türen oder Treppen. Einige führen ins Level 2 andere in das Nullte."

„Level 2?"

„Du erkennst es an den vielen Rohren. Wie in einem gigantischen Heizungskeller. Dort gibt es jedoch deutlich mehr feindselige Kreaturen als hier." Er hielt kurz inne. „Meine persönliche Empfehlung wäre hierzubleiben. Es ist fraglich, ob du von der 2 wieder herunterkommst. Wir brauchen immer eine helfende Hand. Im Laufe der Zeit lernst du, dich durch Backrooms zu bewegen, zu verteidigen und die harmlosen Level zu finden. Hat viel mit Intuition zu tun."

Sollte ich hier in der relativen Sicherheit dieses Außenpostens bleiben oder das Risiko eingehen, einen Weg in meine Heimat zurückzufinden?

Hierbleiben kam für mich damals nicht infrage, da ich überzeugt war, den Weg in die bekannte Realität zu finden. Raus aus dieser albtraumhaften gefährlichen Welt.

„Eine dumme Frage: Während ich hier in den Backrooms bin, was passiert mit meinem Körper in den Frontrooms?"

„Nichts. Er ist nicht dort. Entweder bist du hier oder da. Er existiert nicht in beiden Dimensionen gleichzeitig. Allerdings vergeht die Zeit hier anders als in der Realität. Meist ist dort deutlich weniger Zeit verstrichen. Minuten oder Stunden, auch wenn es hier Tage oder Wochen waren."

„Und mein Körper taucht am selben Ort wieder auf?"

„Nein, eher nicht. Ähnlich wie bei der vergangenen Zeit kommt man meist nahe dem ursprünglichen Ort wieder an. Aber nicht am selben."

Das würde mein erstes Nocliping zurück in die Frontrooms erklären.

Am Ende meinte Dox: „In Ordnung. Ich hätte einen Deal für dich: Du hinterlässt uns eine Blutprobe von dir, damit wir deine DNA untersuchen können. Vielleicht hast du tatsächlich besondere Fähigkeiten. Im Gegenzug erhältst du eine Waffe und Ausrüstung. So hast du wenigstens eine Chance weiterzuleben. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen: Ich glaube nicht, dass du in die Frontrooms zurückgelangst."

Dabei beließen wir es.

Nach paar Stunden Ruhe und erhielt ich einen Rucksack mit zwei Flaschen Mandelwasser, Proteinriegeln, Taschenlampe, Messer, Schlafmatte sowie einen halblangen Speer. Um mir Kreaturen zumindest kurzfristig vom Leib zu halten, wie man mir erklärte. Und jede Menge gute Ratschläge. Eigentlich hatten meine Hoffnungen auf etwas Durchschlagkräftigerem gelegen. Aber Schusswaffen sowie Munition waren in den Backrooms selten und teuer, da sie aus den Frontrooms oder anderen Leveln hierher noclipten.

In meinem Magen bildete sich ein flaues Gefühl, während ich auf die Außentür zuging. Bis vor wenigen Stunden war ich ein Oberstufenschüler, dessen Schwimmzeit ihn frustrierte. Gleich würde ich mich – allein mit einem Speer bewaffnet – aus der relativen Sicherheit dieses Außenpostens wieder in die gefährlichen Gänge des Levels 1 begeben. Inzwischen wusste ich, dass dort nicht nur Hounds, sondern weit tödlichere Kreaturen warteten. Noch hatte ich die Chance umzukehren.

„Hey, Frischling. Brauchst du Gesellschaft?"

Neben mir stand Lia in voller Expeditionsmontur, dickem Rucksack und vor allem mit ihrer langen Schrotflinte.

„Du kommst mit?", wunderte ich mich.

„Ja, aber das erzähle ich dir draußen, jetzt lass uns gehen."

Sie schob mich regelrecht durch die Tür, sodass sie mir die Entscheidung am Ende abnahm. Da ich für ihre Gesellschaft – und ihre Waffe – dankbar war, wehrte ich mich nicht.

Na ja, hinterher ist man immer schlauer.

Wir bewegten uns mit Bedacht durch die leeren Lagerhausgänge der ersten Levels. Hin und wieder erschienen die seltsamen Graffitis der „Partyzone" an den Wänden. Mehr als einmal fiel das Licht aus und wir vernahmen das tiefe Knurren eines Hounds. Dank der Taschenlampen und da wir zu zweit waren, schienen uns die Viecher in Ruhe zu lassen.

„Lia? Warum bist du eigentlich mit mir gekommen?"

„Um ehrlich zu sein, hoffe ich, dass du mein Rückfahrticket in die Frontrooms bist."

„Du glaubst, ich hätte besondere Fähigkeiten?"

„Eher besondere Gene. Aber das kommt aufs Gleiche raus. Ohne dich habe ich keine Chance, je in unsere Realität zurück zu noclipen."

Ob ich selbst dazu in der Lage wäre, geschweige denn jemanden mitnehmen konnte, fand ich ebenfalls mehr als fraglich. Sprach meine Gedanken jedoch nicht aus.

Eine halbe Stunde später fanden wir in einem Seitengang ein Treppenhaus. Hölzerne Stufen führten nach oben.

„Hm ... das ist sicherlich falsch. Wir wollen ja abwärts", kommentierte ich den Anblick.

„Nein, nicht unbedingt. Die Level-Bezeichnungen haben sich Menschen ausgedacht. Die Richtung von Stufen oder Gängen ist in den Backrooms bedeutungslos." Sie beugte sich vor und schaute in den spärlich beleuchteten Treppenschacht hinein, ohne ihn zu betreten. „Ich bin davon überzeugt, dass alles, was wir hier sehen und erleben, nur eine Interpretation unseres Gehirns ist. Es ‚übersetzt' diese fremde Dimension in für uns greifbare Dinge. Das Ergebnis lässt uns nicht verrückt werden, aber ergibt nicht unbedingt Sinn. Verstehst du, was ich meine?"

„Ja, klingt sinnvoll. Ansonsten müsste ja jemand das alles hier irgendwie gebaut haben. Das wiederum wäre totaler Blödsinn."

„So ist es." Sie war mit ihrer Inspektion fertig. „Okay, lass uns diesen Exit probieren. Am besten gehst du vor, da du ja über die Fähigkeiten verfügst und hältst mich an der Hand."

Ein Ausgang war hier scheinbar so gut wie jeder andere. Daher nahm ich ihre weiche Hand in meine und stieg, die Lanze vor mich haltend, langsam die knarzenden hölzernen Stufen hinauf. Die Mauern waren mit grünem Samt bespannt. Messingleuchter verbreiteten ein sanftes Licht. Die Treppe wand und zog sich endlos. Auf Dauer wurden meine Beine lahm. Gerade wollte ich mich umdrehen und einen entsprechenden Kommentar abgeben, da endete die Stiege vor einer Holztür, die reichlich mit Intarsien geschmückt war.

„Ich denke, wir sind da." Damit wendete ich mich zu Lia um.

Das Treppenhaus hinter mir war leer. Bis vor ein paar Sekunden hatte ihre Hand in meiner gelegen. Oder nicht?

„Lia?", rief ich, obwohl ich mir der Gefahr des Rufens bewusst war. „Lia? Wo bist du?"

Es bliebt still im Treppenschacht und ich schluckte. Hatte ich sie verloren oder hat sich mich absichtlich zurückgelassen? Wusste sie mehr als ich? Die hölzerne Tür vor mir sah ich in einem anderen Licht. Sollte ich wirklich hindurchgehen oder besser umkehren? War es eine Falle? In Level 1 hatte ich zumindest eine Ahnung, was mich erwartete.

Am Ende gab ich mir einen Ruck und öffnete die Tür.

„Achtung! Der Ball kommt von links!", mein Kumpel Chris stieß mich mit dem Ellenbogen hart in die Seite. „Ach Kacke, Mann."

Er pfefferte seinen Playstation-Controller auf die Couch neben sich und schaute mich mit frustriert und wütend an.

„Digga, du bist schon den ganzen Tag nicht richtig bei der Sache."

Erst jetzt realisierte ich, dass ich scheinbar erfolgreich genoclipt war. In die Frontrooms! Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich.

„Chris? Chris! Du bist es wirklich." Stürmisch umarmte ich meinen Freund, obwohl das nicht meine Art war. Genoss die Banalität der realen Welt, ohne tödliche Monster, endlose monotone Gänge und obskure Institute.

„Ey, Marc." Er schob mich mit beiden Händen von sich. „Geht es dir gut? Du bist schon den ganzen Tag echt schräg drauf."

„Ja. Sorry. Das kam gerade so über mich. Äh ... was meinst du damit, ich war seltsam?"

„Das müsstest du doch wohl besser wissen."

Leider nicht. Fieberhaft suchte ich nach einer Ausrede.

„Tut mir leid, aber vielleicht ist doch noch was mit dem Kopf. Nach dem Training fühlte ich mich echt mies. Also, was meinst du damit?"

„Na ja ..." Er schien passende Worte zu suchen. „Es ging nach dem Schwimmen los. Zunächst hatte ich das Gefühl, du erkennst mich nicht. Standest total neben dir. Ich musste dir praktisch jeden Handgriff erläutern. Und vorhin ... da wusstest du scheinbar nicht mehr, wie man FIFA zockt. Dabei warst du es doch, der mich zu diesem Game gebracht hat!"

Hatte mir nicht vor wenigen Stunden Dox ausführlich erläutert, dass ein Körper nur in einer der beiden Paralleldimensionen existieren konnte?

Das passte nicht zusammen.

Sollte ich Chris vom zweiten Besuch erzählen? Die Geschichte von Level 0 kannte er bereits. Nein. Er würde mich für komplett bekloppt erklären und womöglich mit meiner Mutter sprechen.

„Oh ja. Sorry. Wie gesagt, ich stand etwas neben mir. Aber jetzt bin ich wieder ganz der Alte." Wie bekam ich die Kurve? Ich schaute auf den gigantischen Flatscreen im Wohnzimmer von Chris Eltern. „Es steht doch erst 1:3. Komm, das packen wir noch!"

Damit überzeugte ich wenigstens meinen besten Kumpel, dass ich wieder ich war. Aber eine Frage ließ mich nicht los: Wer war ich zwischendurch gewesen?

Oder besser: War jemand anderes in meinem Körper, während ich mich in den Backrooms aufgehalten habe?

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