Log 2
„Und?", fragte Chris und rempelte mich spielerisch an, während wir gemeinsam unsere Fahrräder zum Schwimmtraining in Richtung der altehrwürdigen Düsseldorfer Münster-Therme schoben.
„Was?" Als Antwort schubste ich ihn weg.
„Warst du beim Seelenklempner?"
„Quatsch", antwortete ich. Mein bester Kumpel hatte es nicht so mit Fachwörtern. Ein Wunder, dass er das Gymnasium schaffte. „Es war ein Neurologe. Man hat mich in diese Kernspin-Röhre gesteckt und mein Hirn scheibchenweise durchgesiebt."
„Da waren die bestimmt total enttäuscht. Alles leer."
„Ha, ha, sehr witzig. Aber nee. Haben nichts gefunden. Alles in Ordnung."
Formell stimmte das. Die beißenden Kopfschmerzen, die mich seit dem Fahrradunfall plagten, verschwanden leider nicht. Inzwischen habe ich jedoch allen erzählt, dass sie weg wären, um nicht weitere sinnlose Stunden bei Ärzten zu verbringen. Meine Mutter hatte es nach dem dritten Arztbesuch und tausendfacher Beteuerung meinerseits zum Glück gefressen. Die Schmerzen würden irgendwann von allein verschwinden.
„Was hat eigentlich dein Alter dazu gesagt?"
„Nichts."
„Nichts?! Ehrlich? Seinen Sohn haut es fast den Schädel weg und der sagt nichts?"
„Na ja, doch. Nächstes Mal solle ich gefälligst besser aufpassen."
„Scherzkeks."
Schweigend zuckte ich mit den Schultern und schob die Hände tief in die Taschen. So war mein Vater: die meiste Zeit mit dem Kranwagen auf Montage und nicht anwesend. Und falls doch, gab es maximal Ermahnungen oder Verbote.
„Hast du irgendwem von deiner komischen Hallu erzählt?", fragte mein Kumpel.
„Bist du bescheuert?! Natürlich nicht! Dann stecken die mich direkt in die Klapse."
„Na ja, aber vielleicht ..."
„Ey, Chris. Auf wessen Seite stehst du? Ich hätte dir davon echt nichts erzählen dürfen. Vermutlich weiß es inzwischen schon die ganze Schule!"
„Nein, Bro! Ich habe es niemandem erzählt. Ehrlich." Er machte einen ernsthaft geknickten Eindruck.
„Okay. Aber behalte es für dich."
Wir spazierten auf den Eingang der altehrwürdigen Schwimmhalle zu. Baujahr 1902. Warum konnte unser Verein nicht in einem der moderneren Bäder trainieren?
Zwei Stunden später. Der schrille Pfiff des Coaches beendete das Schwimmtraining. 100 Meter in 52,3 Sekunden. Das war heute meine Bestzeit. Chris war ein paar Sekundenbruchteile schneller. Er war drei Zentimeter größer und hatte längere Arme, redete ich mir ein. Wir stiegen tropfnass aus dem Becken und räumten die zitronen-gelben Bälle, weiß-blauen Schwimmkörper und das restliche Übungsmaterial zusammen.
„Marc? Bringst du die Bälle in den Keller?", rief der Coach mir von der anderen Seite des Beckens zu.
„Ja, sicher, kein Problem."
Ohne extra was überzuziehen, warf ich mir das schwere Netz auf den Rücken. Zielgerichtet schritt ich in Badelatschen durch das Labyrinth aus grauweiß gefliesten Gängen und stieg die Stufen in den muffigen Materialraum hinab. Das Brummen der Schwimmbadanlage war deutlich zu hören. Eine Funzel über dem Eingang erleuchtete das Innere unzureichend und vertiefte die Schatten. In der Kammer gab es neben diversen Regalen mit Übungsmaterial eine graue verschlossene Metalltür mit der Aufschrift „Technikraum". Da ich mindestens hundertmal hier unten war, störte mich die finstere Atmosphäre nicht mehr. Die Regalplätze kannte ich inzwischen auswendig und wuchtete das Netz mit einem dumpfen Aufprall in die dafür vorgesehene hintere Ecke.
Ein scharfer Lichtkeil aus dem Technikraum, dessen Tür einen Spalt offenstand, zerschnitt die Finsternis des Lagerraums. Verwundert trat ich einen Schritt darauf zu. Vor ein paar Sekunden, als ich herunterkam, war die Metalltür verschlossen. Ganz sicher.
Neugierig zog ich das schwere Türblatt auf. Vor mir lag kein „Technikraum" vollgestopft mit Maschinen und Röhren – sondern ein leerer langer Flur. Weitere Türen und abzweigende Gänge durchbrachen die schmutzigweiß gestrichenen Wände. Auf dem Betonboden sammelte sich Feuchtigkeit in Pfützen.
Leises Rufen und Klopfen hallte durch den Flur.
„Hilfe! Nein! Hilfe! Hört mich denn niemand?" Kaum wahrnehmbar drangen die Schreie eines Mädchens zu mir. Fäuste trommelten gegen eine Metalltür. „Hilfe! Bitte! Ich komme hier nicht raus!"
Verdammt. Was tun? Falls die Tür ins Schloss fiel, war sie nicht mehr zu öffnen. Sollte ich erst den anderen Bescheid geben? Es klang drängend.
Nochmals schaute ich genauer. Der Gang vor mir sah nach einem normalen Kellergang mit Türen zu Lagerräumen aus. Die Panik in den Schreien war eindeutig. Es half nichts, ich musste zumindest nachschauen, ob jemand in akuter Gefahr schwebte. Hilfe zu holen wäre auch später möglich. Damit gab ich mir einen Ruck und trat durch die Tür in den Flur.
Die Neonröhre über mir flackerte. Mit einem elektrischen Knistern wurde es schlagartig stockfinster. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ein erschrockener Schrei verließ meine Kehle. Mit einem Schritt trat ich zurück in den Schwimmbadkeller. Dort war kein Keller mehr! Mein Hinterkopf stieß schmerzhaft gegen eine harte Wand. Die Verzweiflungsrufe und das Hämmern waren verstummt. In der Ferne tropfte Wasser.
Okay. Ruhig Blut. Sicher war das ein Prank meiner Kameraden, die sich in diesem Moment beömmelten. Hatten ein Smartphone mit der aufgezeichneten Stimme in den Kellerflur gelegt und die Beleuchtung ausgeschaltet.
„Hey!", rief ich. „Das ist nicht witzig, ihr Scherzkekse! Macht sofort wieder das Licht an!"
Mit zitternden Händen tastete ich nach der Metalltür hinter mir. Es blieb stockfinster und meine Finger strichen über feuchten Stein. Kein Metall. Kein Türgriff. Panik kroch wie wimmelnde Ameisen in meine Glieder.
„Was soll das? Das ist nicht witzig!" Der schrille Klang meiner Stimme hallte von den Wänden.
Das Neonlicht flammte mit einem elektrischen Brummen auf. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Was für Kindsköpfe! Wenn ich den erwischte, der sich diesen Streich ausgedacht hatte.
Hinter mir war keine Tür. Ich stand in einer von weiß getünchten, von gammelig wirkenden Steinwänden begrenzten Sackgasse. Sofort war die Panik wieder da. Unmöglich! Fieberhaft suchte ich alles ab, kratze an den Wänden. Rief erneut nach meinen Kameraden. Ohne Erfolg.
Ein tiefes Knurren wie das einer Raubkatze ertönte von hinten und ließ mich innehalten. Mit Bedacht wandte ich mich um. Im unsteten Schein der Deckenlichter schlich in der Entfernung ein finsterer, raubtierartiger Schatten aus einem der Gänge. Er bewegte sich mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen und grollte erneut.
Das riss mich aus der Erstarrung. Mit rasendem Puls presste ich meinen nackten Rücken an die eiskalte Wand und rutschte seitlich in Richtung des nächsten Durchgangs. Eine Begegnung mit dem Tier wäre potenziell tödlich. Inzwischen wurde deutlich, dass das Vieh das Stockmaß eines Panthers hatte.
An der folgenden Abzweigung in den Gang fliehen oder die gegenüberliegende Tür aufreißen? Beides lag gleich weit entfernt, aber eine Tür könnte verschlossen sein, daher traf ich meine Wahl.
Ohne nochmals nach der Kreatur zu schauen, wetzte ich um die nächste Ecke. Hinter mir hörte ich das Kratzen von Krallen auf Stein sowie lang gezogenes Heulen, als das Raubtier ebenfalls zum Sprint ansetzte. Meine Badelatschen klatschten durch Pfützen und über rauen Beton. Ein gehetzter Blick zurück zeigte mir im flackernden Licht, dass die Kreatur um die Ecke in den Gang hetzte. Eine dürre, mit dünnem Fell bespannte, skelettartige Gestalt. Aus dem menschenähnlichen Schädel mit dolchartigen Reißzähnen sprossen lange fettige Haare. Was mich am meisten erschreckte, waren die fingerlangen Krallen und die Geschwindigkeit, mit der die Kreatur unerbittlich aufholte. Mir blieben maximal Augenblicke. Entkommen unmöglich.
Neben mir tauchte eine Stahltür auf. Panisch bremste ich mit den Händen am Türrahmen, verlor eine Badelatsche, schlug auf die Klinke und presste die Schulter dagegen. Die Metalltür riss quietschend auf und ich warf mich hindurch. Blendender Schmerz durchzuckte meinen rechten Unterschenkel. Dreckige Krallen zerrissen im Licht des Ganges die Haut. Mit letzter Kraft trat ich die Tür mit dem anderen Fuß knallend zu, warf mich mit dem ganzen Körpergewicht dagegen und versuchte fieberhaft, die Türklinke oben zu halten. Draußen schmiss sich die Bestie krachend gegen das Blech. Das Türblatt erbebte. Knurren, kratzen und heulen folgten, aber es drang nicht ein. Die Tür geschlossen halten, das war meine einzige Chance. Festhalten und abwarten.
Die Strategie war erfolgreich. Irgendwann, ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, verklangen die Angriffe. Und nochmals eine Ewigkeit später traute ich mich, aus der Tür zu spähen. Ein leerer Flur, als wäre nichts geschehen. Das Türblatt war mit tiefen Kratzern und Beulen übersäht. Mit Bedacht schloss ich sie wieder und schaute mich erstmals bewusst in meinem geschützten Raum um. Er war spärlich durch eine runde Deckenlampe beleuchtet, maß zehn Meter im Quadrat und war nahezu komplett leer. Keine weiteren Türen oder Fenster. In einer Ecke lagen ein Haufen Lappen und unidentifizierbares Gerümpel.
Das Bein brannte wie Feuer. Die Krallen der Kreatur hatten drei tiefe, blutige Furchen in den Unterschenkel gezogen. Er ließ sich belasten und blutete kaum. Nach wie vor nur mit einer Badehose bekleidet, konnte ich daran vorerst nichts ändern.
In dem Gerümpel in der Ecke fand ich erstaunlicherweise eine funktionierende Taschenlampe sowie ein Militärmesser mit langer Klinge. Verrückt. Beschweren würde ich mich nicht. Mit den dreckigen Lumpen die Wunde zu verbinden, war keine Option.
Erstmalig, seitdem ich in diesen seltsamen Lagerräumen gelandet war, dachte ich in Ruhe über meine Situation nach. Meinen Rücken lehnte ich an die Tür, damit ich mitbekam, falls etwas oder jemand versuchte einzudringen.
Unter dem Schwimmbad war ich nicht. Dort lungerten keine albtraumhaften Kreaturen herum, die einen zerfleischten. Eine erneute Halluzination. Ein Rückfall. Das wäre denkbar.
Wie bin ich letztes Mal daraus erwacht? Indem ich gegen eine Wand lief. Ob das nochmals funktionierte? Es war eine Art Traum, sagte ich mir, was sollte schiefgehen? Daher stand ich auf und bereitete mich geistig vor. Direkt auf den harten Beton der gegenüberliegenden Wand. Nicht zielen – rennen.
Am Ende brachte ich es nicht über mich. Absichtlich gegen eine massive Betonwand sprinten? Dazu musste man extrem verzweifelt oder verrückt sein. Beides war ich bis zu dem Zeitpunkt nicht. Es würde einen anderen Weg hinaus geben.
Daher entschied ich mich für die einzige Alternative: Zurück in den Gang und weitersuchen. Langsam, ohne durch unnötige Geräusche diese Horrorkreatur anzulocken, Taschenlampe und Messer fest in den Händen gepackt, begab ich mich angespannt auf den Weg durch den feuchten Betonflur. Meine zweite Badelatsche blieb verschwunden.
Ähnlich wie damals in den mono-gelben endlosen Räumen, beschlich mich das Gefühl, mich durch ein sich wiederholendes Labyrinth zu bewegen. Leere Flure und Lagerräume wechselten sich ab. Immer auf der Hut zu verschwinden, sollte das Wesen wieder auftauchen.
Auf einer Wand neben mir war ein Graffiti zu sehen. Jemand hatte in neongrünen und pinken Farben ein wirres Zeichen quer über die gesamte Fläche gesprüht, das sich mir nicht erschloss. Asiatisch? Als ich mit den Fingerkuppen darüberstrich, verschwanden diese in der Mauer! Erschrocken riss ich sie zurück. Alles gut, die Finger waren noch dran. Ich probierte es erneut. Die Betonwand war an dieser Stelle eindeutig durchlässig, als bestünde sie aus angemalter Luft. War das der gesuchte Ausgang aus diesem Albtraum?
In dem Moment, als ich mich entschloss, es darauf ankommen zu lassen, hörte ich eine weibliche Stimme von links, die mich auf Englisch ansprach.
„Das würde ich lieber bleiben lassen. Es sei denn, du stehst auf Partys. Es wäre deine letzte."
Erschrocken drehte ich mich um. An der nächsten Ecke stand eine schlanke Frau, maximal zwei bis drei Jahre älter als ich, in einem reinweißen Laborkittel. An ihrer Seite hing eine Ledertasche mit einer Halterung für Reagenzgläser. Die lange Schrotflinte, die sie locker auf die Schulter gelegt hatte, passte nicht ins Bild.
„Bist neu hier, schätze ich?" Sie musterte mich von oben bis unten und kam ein paar Schritte näher.
„Äh. Ja. Das kann man so sagen."
„Ein Wunder, dass du bisher überlebt hast. Dein Bein sieht übel aus. Ein Hound?"
„Ein was?"
„Sorry, vergiss es. Los kommt mit. Wir haben hier einen gesicherten Außenposten, da können wir dich versorgen und die wichtigsten Regeln erklären. Ist keine fünf Minuten von hier." Sie drehte sich um und schritt den Flur hinab. Als ich nicht reagierte, meine sie: „Was ist?"
Ich überwand meine Überraschung und lief ihr zügig hinterher.
„Ich heiße Lia. Und du?"
„Marc. Marc Schmidt."
„Nett dich kennenzulernen, Marc."
Zu verdattert, um eine der tausend Fragen zu stellen, die in diesem Moment durch meinen Kopf schossen, folgte ich. Ein paar Abzweigungen später standen wir vor einer ausladenden türkisfarbenen Doppeltür wie in einem Krankenhaus. In ein Nummernpad gab sie eine kurze Kombination ein und hielt eine Plastikkarte davor. Es klackte und sie drückte die rechte Türhälfte mit sichtbarem Kraftaufwand auf.
Dahinter erwartete mich die nächste Überraschung. Wir spazierten scheinbar durch ein modernes Forschungsinstitut. Auf den Gängen kamen uns andere Menschen in Kitteln oder Freizeitkleidung entgegen. Büroräume, Schreibtische und Laptops, Labore mit Versuchsaufbauten, wie ich sie aus dem Chemieunterricht kannte, und Kaffeeküchen wechselten sich ab. Die Angestellten auf den Fluren beachteten uns kaum. Als wenn es normal wäre, mit Badehose bekleidet und Schrotflinte durch dieses Institut zu spazieren.
Nur einmal hielt ich inne, war überzeugt, aus dem Augenwinkel ein bekanntes Gesicht zwischen den Leuten auf den Fluren erspäht zu haben. Als ich mich umwandte, war es nicht mehr zu sehen.
Ein wenig später betraten wir ein geräumiges Büro mit einem Schreibtisch und bequemer Sitzecke. Als wir eintraten, erhob sie ein kräftig gebauter Mittdreißiger, der hinter einem Laptop saß.
„Oh, ein Frischling. Ich bin Dr. Xavier Meander und leite diesen Außenposten. Du kannst mich Dox nennen. Willkommen in den Backrooms, Level 1."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top