𝗈𝗇𝖾| 𝖽𝗂𝖾 𝗀𝖾𝖻𝗎𝗋𝗍 𝖽𝖾𝗋 𝗋𝖺𝖼𝗁𝖾
"Einige von euch sagen: 'Die Freude ist größer als der Kummer', und andere sagen: 'Nein, der Kummer ist größer'.
Aber ich sage euch, sie sind untrennbar.
Sie kommen zusammen und wenn der eine mit euch allein an eurer Tafel sitzt, denkt daran, dass der andere in eurem Bett schläft."
***
Das Apparieren war nie angenehm. Es war das Gefühl von Übelkeit, akutem Schwindel und kurzzeitiger Lähmung, während man seine Anatomie dabei beobachtete, wie sie sich auf eine Art und Weise bewegte, die sie niemals tun sollte - das war die Wurzel des Unbehagens. Doch in diesem Moment war das Apparieren nicht die größte Quelle ihres Unbehagens und es lag nicht einmal daran, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie gebracht wurde.
Vielmehr war es die Erinnerung an die letzten paar Stunden, die für das Aufstoßen in ihrem Magen und den Kummer, der sich in ihren Gedanken festsetzte, verantwortlich war.
Verstecken.
Schreie.
Tritte.
Grünes Licht.
Blitzlichter zogen an ihrem Verstand vorbei, aber der Geruch von Blut und das schnelle Klopfen in ihrer Brust schienen zu verweilen. Sogar jetzt noch lag ihr der bittere, kupferne Geschmack auf der Zunge, der mit dem Aroma ihres Untergangs behaftet war.
Diese Gedanken wurden unterbrochen, als sie plötzlich unsanft mit scharfen Kieselsteinen in Berührung kam, die ihre Strümpfe zerrissen und ihre Knie und Handflächen durchbohrten. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, sah sie auf und bemerkte den Vollmond, der in tiefem Kontrast zum pechschwarzen Himmel stand. Wo auch immer sie waren, es war Mitternacht. Hohe Hecken umgaben sie wie die Mauern eines Gefängnisses und der schwache Geruch von kränklich-süßen Rosen stach ihr in die Nase, während eine dünne Smogschicht über den Boden kroch und den Bürgersteig darunter verbarg.
In diesem Moment wurde sie sich der bedrohlichen Gestalt bewusst, die sich neben ihr abzeichnete und mit der sie das große Pech hatte, bekannt zu sein. Er war ein großer Mann - schlaksig sogar - mit wulstigen Augen und einem kahlen Kopf. Kaum etwas, über das man staunen konnte, und auf den ersten Blick vielleicht auch nichts, wovor man sich fürchtete. Doch seine Größe und sein unerbittlicher Blick verliehen ihm eine einschüchternde Wirkung, die Eleanor nicht zu stören versuchte. Instinktiv schnitt sie eine Grimasse, der kupferne Geschmack tanzte wieder auf ihrer Zunge, und sie unterließ jede Gewalt, die an ihren Fingern zerrte.
Der Samt seiner dunkelvioletten Robe glänzte, als er einen Mondstrahl auffing, und das ließ die rubinbesetzte Spange, die sich an seinem Hals traf, fast blutrot erscheinen. Typisch Mann aus dem Zaubereiministerium, dachte sie bitter. Sie musste an ihren Vater denken, der immer gesagt hatte, das Ministerium sei "in feinste Kleidung gehüllt, habe aber nie die Würde, sie zu tragen".
Er lächelte auf sie herab, so wie ein Metzger auf ein wertvolles Schwein lächelt, das verängstigt und zitternd in einem schmutzigen Stall liegt.
"Komm schon, Süße, wir wollen doch nicht, dass du zu blutig bist, bevor wir überhaupt ankommen", gurrte er und seine tiefe, ruhige Stimme ergänzte irgendwie seine allgegenwärtige Einschüchterung.
Sie erwiderte seinen Blick und unterdrückte die Beleidigungen, die ihr aus dem Mund zu kommen drohten.
Sie gingen einen langen Weg entlang, der Teil eines großen Gartens zu sein schien, mit Skulpturen und Marmorspringbrunnen, die im Mondlicht glitzerten. In der Ferne zeichnete sich der schwache Umriss eines großen Herrenhauses im gotischen Stil ab. Als sich ihre Augen an das sich nähernde Haus gewöhnten, verschwamm es, und Eleanor merkte, dass sie erschöpft war. Ihr Kopf pochte und ihr Herz schmerzte. Die Muskeln in ihren Beinen spannten sich bei jeder Bewegung an und auch die Sehnen in ihren Armen drohten nachzugeben. Die letzten Stunden ihres Lebens waren die schrecklichsten Momente ihres gesamten Daseins gewesen.
Doch sie hatte das Gefühl, dass es gleich noch schlimmer werden würde.
Als sie sich der Marmortreppe näherten, die zu einer imposanten Holztür führte, die sie unheilvoll im Herrenhaus willkommen hieß, achtete sie darauf, ein paar Schritte zurückzubleiben. Immerhin hatte der Mann vor ihr vor nicht einmal zwei Stunden ihre Familie ermordet und damit ihr Leben zerstört.
Bevor der schlaksige Mann seinen Zauberstab heben konnte, um an der Tür zu klingeln, drang das Knarren der Holztür an ihr Ohr. Sie kreischte, als wäre sie seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet worden, und Licht strömte von draußen herein. Sie war sich sicher, dass sie in ein schreckliches Waisenhaus geschickt wurde, oder vielleicht in ein Arbeiterhaus für gestörte Mädchen.
Als sich die Tür öffnete, erblickte sie zu ihrer großen Überraschung das vertraute Gesicht ihres Onkels, Actaeus Malfoy.
Er stand starr mit einem Stock in der behandschuhten Hand, obwohl er ihn anscheinend nicht als Hilfe brauchte. Actaeus war ganz und gar ein Aristokrat, er wirkte perfekt gekleidet. Sein charakteristisches silbernes Haar hatte er straff hinter den Kopf gezogen und er trug einen Ausdruck höchster Arroganz, der perfekt zu seinen scharfen Gesichtszügen zu passen schien. Eleanor war ihm nur eine Handvoll Mal in ihrem Leben begegnet und sein Gesicht schien sich nie zu verändern, immer berechnend und kalt. In einer ewigen Maske aus Distinktion und Misstrauen.
"Ah, Mr Malfoy", grüßte ihr unfreundlicher Vormund verschmitzt.
Ihr Onkel antwortete nur mit einem angewiderten Blick, der auf den Mann vom Ministerium gerichtet war.
Sein Blick wanderte zu dem Mädchen, das mit blutigen Knien und zerkratzten Handflächen hinter ihm stand. Er musterte sie, als würde er jeden Zentimeter von ihr begutachten, was ihr ein unangenehmes Gefühl vermittelte. Sie wusste, dass ihr Haar zerzaust war und ihr einst makelloses weißes Baumwollkleid mit Schmutz und dem Blut ihrer Angehörigen befleckt war. Fast unbewusst wickelte sie ihren schwarzen Mantel um ihren kaputten Körper, um das Ausmaß ihres schrecklichen Aussehens zu verbergen.
Eleanor sah aus wie eine Ratte aus der Gosse am Fuße eines so prachtvollen Hauses. Wäre sie nicht so traumatisiert gewesen, wäre es vielleicht lustig gewesen.
"Dann ist sie wohl ein Waisenkind ...", sprach Actaeus schließlich giftig. Er musste mit dieser Möglichkeit gerechnet haben, denn die Auroren des Ministeriums jagten den inneren Kreis der Grindlewald-Anhänger nun schon seit über einem Jahr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den Stellvertreter des Anführers der Rebellion selbst, Anthony und Calliope Grindelwald, finden würden.
Der Mann vom Ministerium schien nicht betroffen zu sein und lachte atemlos. "Ja, ich fürchte, das stimmt", antwortete er, als ob er etwas so banales wie das Wetter kommentieren würde.
Der Mann wurde fast sofort entlassen und eine aufgeregte Stimme forderte sie auf, das Foyer des Herrenhauses zu betreten.
"Wartest du auf eine Einladung...?"
Er war kein angenehmer Mann, aber sie war nicht so dumm, irgendwelche Annehmlichkeiten der höflichen Gesellschaft zu erwarten. Zumindest nicht bei den Malfoys.
Ihre abgenutzten Absätze klapperten auf den schwarz-weiß glänzenden Fliesen des Fußbodens und sie wurde in einem großen, aber kalten Raum empfangen, der mit den Porträts vieler glänzender silberhaariger Hexen und Zauberer - ihrer entfernten Verwandten - ausgestattet war. Ihre Mutter, Calliope, war eine Malfoy - doch sie sah keine Ähnlichkeit mit dem stoischen Mann, der vor ihr stand. Im Gegenteil, Calliope war das genaue Gegenteil ihres Onkels. Warm und strahlend wie eine Nymphe, mit einer unbestreitbaren Freude, die immer in den Kurven ihres Lächelns und dem Funkeln ihrer Augen lag.
Sie standen einen Moment lang in unbehaglichem Schweigen, als sie an ihre Mutter erinnert wurde und ihr die Tränen in die blutunterlaufenen Augen stiegen. Aber sie unterdrückte sie, denn sie wusste, dass ihr Onkel, der so aussah, als ob er um die Worte rang, die er sagen wollte, die Emotionen nicht erwidern würde.
Sein feiner Schnurrbart zuckte dabei und schließlich sah er sie mit einem harten, aber beruhigenden Blick an: "Ich werde dafür sorgen, dass sie dafür bezahlen, was sie ihr angetan haben."
Dies schien einer beruhigenden Umarmung am nächsten zu kommen.
Und zum ersten Mal seit dem wohl längsten Tag ihres Lebens spürte sie, wie etwas Warmes und Positives in ihrem Kopf herumschwirrte. Es war jedoch nicht die freudige Positivität, an die man vielleicht gewöhnt war, sondern das Versprechen von Rache und eine neu entdeckte Vorliebe für gewalttätige Freuden.
Eine Eigenschaft, von der sie annahm, dass sie sie nun mit ihrem Onkel und vielleicht auch mit all den Figuren teilte, die sie an der Wand anstarrten.
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