𝐈| Victor
ᵘⁿᵈ ᵈⁱᵉ ʳᵃᵇᵉⁿ ˡᵃᵇᵉⁿ ˢⁱᶜʰ ᵃⁿ ᵈᵉⁿ ˡᵉⁱᶜʰᵉⁿ˒
ᵃⁿ ᵈᵉⁿ ᵃʳᵐᵉⁿ ᵘⁿᵈ ᵈᵉⁿ ʳᵉⁱᶜʰᵉⁿ˒
ᵈᵉⁿⁿ ᵒᵇ ᵃʳᵐ ᵒᵈᵉʳ ᵒᵇ ʳᵉⁱᶜʰ˒
ⁱᵐ ᵗᵒᵈ ˢⁱⁿᵈ ʷⁱʳ ᵃˡˡᵉ ᵍˡᵉⁱᶜʰ···
"Wer wird dieses Mal sterben, Vic?"
In Ascian konnten die Schatten flüstern, sie erzählten von lang vergangenen Sagen, besangen in Vergessenheit geratene Helden und verfolgten das Unrecht bis in die dunkelsten Gassen.
Und während die Zerstörung der letzten Jahre anhielt wie der Atem eines Toten, rauschten Krankheit und Verderben über das schon lang verloren geglaubte Königreich hinweg.
Noch viel wichtiger als die Liebe, war die Hoffnung, dass Ascian jemals wieder zu dem aufblühen könnte, was es einmal gewesen war. Doch jene Hoffnung war mit eben denen gestorben, die ihren letzten Atem für die Paragonen gegeben hatten. Denn seither war nichts mehr wie es war.
Ascian schien zu sterben und niemand wusste wieso, denn das Geheimnis, gut behütet, brodelte unter der Oberfläche, bereit jede Sekunde hervorzubrechen, nicht ahnend, was die Wahrheit bereithielt.
Jede Lüge muss einmal sterben... die Konsequenzen variieren bloß.
Pahatnia war Ascians schändlichster Makel. Keine Gegend hatte so unter den letzten Jahren leiden müssen wie die kleine Handelsstadt.
So waren viele Häuser verbrannt, viele Leben eingestürzt und viele Existenzen vernichtet worden. Die Pest hatte hier gewütet wie in keinem anderen Teil des Königreiches.
Die Soldaten waren vertrieben worden, eine neue Macht hatte sich den Vorsitz einverleibt und der Adel ruhte auf einem Vermögen, das jeden Bürger von all seinen Ketten befreien könnte.
Die Tage waren düster, die Nächte grausam. Selten hatte es so viele Menschen ohne Obdach gegeben, selten so viele Hungerleidende.
Seit Tagen hörte der Himmel nicht auf zu weinen. Dicke Regentropfen fielen zu Boden und bildeten kleine Rinnsale, die sich in den Rillen der Kopfsteinpflaster verloren.
In einem der Hinterhöfe, in dem der Waffenschmiede, ertönte der Schlag von Metall auf Metall.
Pim wich erschrocken zurück, als ihm der Schwertgriff aus den Händen rutschte und mit einem lauten Klirren zu Boden fiel. Sein Gesicht flammte auf, während ihm der Regen die Haare und Kleider durchnässte und in netzartigen Spuren seine Haut hinabströmte, zu seinen Füßen kleine Pfützen formend.
Der graue Himmel über ihnen bebte und ein Blitz durchzuckte die undurchdringlich wirkende Wand aus Wolken.
Angestrengt wischte er sich die feuchten Haare aus der Stirn und wich kaum merklich einen Schritt zurück, doch Vic war das nicht entgangen. Er hob eine seiner Augenbrauen ohne auch nur einen Moment den Blick von Pim abzuwenden.
"Du hast verloren", stellte Vic nüchtern fest und hob sein Schwert, die Schwertspitze auf Pim gerichtet, in der Luft schwebend, keinen Fingerbreit von dessen Kehle entfernt.
Pim schluckte schwer, wobei die Schneide seine Haut streifte und einen eisigen Schauer seinen durchnässten Rücken hinunterwandern ließ.
"Ein einziger Schnitt -..." Vic ließ den Gedanken zwischen ihnen stehen und nickte zu Pims Schwert, das wenige Meter von ihnen entfernt auf den Steinen lag.
Pim rührte sich nicht.
Vic seufzte. "Was könntest du tun, um dich aus dieser Situation zu befreien?" Er musterte den kleinen Jungen vor ihm, dessen zerfetzes Hemd wie ein altes Betttuch an seinen Schultern hing und ihm beinahe bis zu den Kniekehlen reichte. Die Leinenhose, die er darunter trug bestand beinahe aus mehr Löchern als Stoff und endete weit über seinen Knöcheln. Schuhe besaß er keine mehr und das obwohl der Winter bald Einzug halten würde.
Pims dunkle Augen wanderten nach rechts zu seinem Schwert, seine Finger zuckten, als würde er es schon gar nicht mehr abwarten können, nach dem Heft zu greifen, doch Vic schüttelte den Kopf.
"Wenn du das versuchst, könnte ich dir den Kopf abschlagen, noch ehe du überhaupt losgelaufen wärst."
Ärgerlich schnippte Pim Vics Schwertspitze beiseite, die noch immer auf ihn gerichtet war und trat einen großen Schritt zurück. Schnaubend lief er zu dem am Boden liegenden Schwert und hob es aus der Pfütze, die sich darunter gebildet hatte, auf. Er spuckte zu Boden.
"Gegen dich habe ich sowieso keine Chance. Du sollst mir das Schwertkämpfen beibringen und keine unnützen Lektionen, wie ich ohne Schwert überlebe. Das schaffe ich schon." Pim rollte mit den Augen und hob das Schwert zum Angriff.
"Das habe ich gemerkt", murmelte Vic und schlug plötzlich zu.
"Hey!"
Der Aufprall ließ Pim zurückstolpern und das Schwert landete wieder in der Pfütze.
"So wird das nie etwas."
"Vic!"
"Wir haben gestern über Beinarbeit gesprochen. Du stehst falsch, so kann dich der nächste Windhauch umwerfen. Geh ein wenig in die Knie und stell die Fersen weiter auseinander."
"Du bist schlimmer als Keely...", murmelte der Kleine trotzig. "Wie kann ich gegen dich gewinnen, wenn du viel größer und stärker bist?"
"Weil es darauf nicht ankommt. Nicht der Stärkere gewinnt, sondern der Klügere. Im Augenblick scheine ich aber beides zu sein, denn du benimmst dich, als wärst du vier."
Nun sichtlich verärgert stampfte Pim absichtlich in eine der Pfützen, auf dem Weg zu seinem Schwert, so dass das Schlammwasser Vic bis zu den Knien spritzte. Der zeigte sich unbeeindruckt.
Pim wollte es erneut versuchen. Die Klinge auf Vic gerichtet, täuschte er an, duckte sich unter seinem ausgestreckten Arm hindurch, um Vic von hinten anzugreifen, doch er stolperte über seine eigenen Füße und bevor er selbst zusammen mit dem Schwert auf dem harten Boden aufprallte, griff Vic sich seinen Kragen und zog ihn zurück auf die Beine.
"Das war... besser", sagte Vic.
Nun war es an Pim ungläubig zu gucken. Frustriert wischte er sich erneut das pitschnasse Haar aus der Stirn. Der anhaltende Regen machte es ihm nicht leichter und die Kälte fraß sich durch die dünne Schicht seiner Kleidung bis hinein in seine Knochen und setzte sich fest, klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nie mehr loslassen.
"Du bist klein und schnell - das musst du nutzen."
"Nicht schnell genug", patzte Pim.
"Du lässt dich zu leicht ablenken." Er wusste, er hätte es nicht sagen sollen, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Doch nun erinnerte Pim sich, weswegen er Vic heute wirklich aufgesucht hatte. Seine Augen hellten sich auf.
"Und du gehst meiner Frage aus dem Weg. Ich weiß, dass du sie auch gesehen hast. Die Soldaten."
Vic sagte nichts.
Pim schüttelte den Kopf. "Seit der letzten Pestwelle hat sich kein Gardist vom königlichen Hof auch nur in die Nähe Pahatnias getraut... als wären wir verflucht. Es sind bald wieder sieben Jahre vergangen - der nächste Blutmond kommt und sie suchen nach neuen Kindern."
Vic fuhr sich unsicher über den Hals, wie immer, wenn ihm etwas Unbehagen bereitete. Das braune Halstuch saß wie immer an Ort und Stelle und verdeckte eine Narbe, von der er nicht wusste, wo sie herkam.
"Dann wären aber nicht die königlichen Gardisten gekommen. Sie hätten einfach Soldaten aus dem Suman abgezogen und hier zu uns geschickt. Die königlichen Gardisten... sie kündigen königlichen Besuch an - das hat Bronimir gesagt."
"Was weiß der alte Schmied schon", sagte Pim abwertend. "Keiner hat die Königin mehr gesehen seit..." er zählte an seinen Fingern die Jahre ab, doch musste nach dem dritten Mal vergeblich feststellen, dass er nicht über die 'vier' hinauskam, ehe er schließlich aufgab und stattdessen sagte: "seit Ewigkeiten. Sie ist weg - König Willem hat man seither auch nur noch ein einziges Mal gesehen, die Königsfamilie verschanzt sich in ihrem schicken Schloss und lässt uns hungern und erfrieren.. während sie es sich gut gehen lassen."
Pims Augen verfärbten sich rötlich und er blinzelte häufiger. Zu den Regentropfen auf seiner Haut schienen sich Tränen zu mischen, doch er wischte sie energisch fort und zückte erneut das Schwert.
"Wer wird diesmal sterben müssen?"
Vic sah hinauf zum Himmel. Die grauen Wolken wirkten nicht, als würden sie sich bald verziehen und so ließ er das Schwert sinken. Bei dem regnerischen Wetter konnte er gut auf eine weitere Revanche verzichten. Er hatte sowieso noch zu tun und seine Pause war vermutlich schon längst vorbei.
"Das reicht für heute, Pim."
Er band sich mit dem Stück Stoff, das um sein Handgelenk hing, die schulterlangen Haare zu einem kleinen Zopf und lief durch den Hof zu der Hintertür, die in die Schmiede führte. Pim huschte vor ihm hinein, ehe Vic den Kopf gesenkt, weil er für die meisten Türrahmen zu groß gewachsen war, hinter ihm in die warme Stube trat, die Tür ins Schloss ziehend. Seine Stiefel trugen Schlamm und Schmutzwasser mit ins Haus, doch um die Unordnung würde er sich später genug sorgen können.
Die Wärme, die vom Feuer des Schmiedofens ausging, strahlte ihnen entgegen und brannte angenehm auf Vics gebräunter Haut.
Bronimir, der Schmied, war ausgegangen. Er überließ Vic gerne seine Arbeit, um sich im nahegelegenen Pub einen Met nach dem anderen zu genehmigen, doch dem Getrampel nach zu urteilen, das aus dem oberen Stock ertönte, war Medina, seine Tochter, bereits wieder zu Hause und übte für ihre Tanzstunde.
Pim rümpfte die Nase. "So langsam müsste sie das mit der Leichtfüßigkeit doch gelernt haben, aber das klingt ja, als würde ein Drachen dort oben sein Unwesen treiben."
Vics Mundwinkel zuckten kaum merklich. "Also du bist der letzte, der sich über die Leichtfüßigkeit anderer witzig machen sollte. Das da draußen war ein Trauerspiel."
Beleidigt verschränkte Pim die Arme vor der Brust, hockte sich auf den von etwas Stroh bedeckten Steinboden der Schmiede vor den Ofen, wo seine Kleider gut durchtrocknen konnten und beobachtete Vic, der sich wieder seiner Arbeit widmete.
In den letzten Jahren hatte Vic viel von Bronimir lernen dürfen und nun war es meist an ihm, die Aufträge der Kunden zu erfüllen - sei es ein Schild, ein Schwert oder ein Speer - Vic verstand sich auf die Schmiedekunst, die ihm wesentlich besser lag als das Fischen, mit dem sein Vater ihren Hof finanzierte.
In Gedanken versunken, arbeitete Vic vor sich hin, während Pim die Schmiede auskundschaftete, dem Blick immer wieder aus den Fenstern werfend, wenn die Schritte einer Ritterrüstung ertönten.
Pim hatte nicht Unrecht, die Gardisten waren vor Jahren verschwunden und hatten Pahatnias Bürger sich selbst überlassen, wodurch sich ein Spalt in der Gesellschaft aufgetan hatte, der alle, die nicht in sein Raster passten, verschlang. Wieso waren sie zurück gekommen?
"Eine Kutsche!", rief Pim auf einmal und Vic ließ den eisernen Hammer, den er eben noch auf ein glühend heißes Stück Bronze geschlagen hatte, abrupt sinken.
"Sie trägt das königliche Wappen! Was wollen der König oder die Königin von Lord Tanith?"
Vic hatte keine Antwort auf diese Frage, doch er sollte sich auch nicht lange mit Grüblereien aufhalten können, denn die kleine Klingel über der hölzernen Ladentür ertönte, als diese unsanft und voller Wucht aufgestoßen wurde.
Blitz und Donner begrüßten sie erneut, als ein Mädchen in Vics Alter, sie war nicht älter als achtzehn, in die Schmiede stürzte. Ihre Kleidung so ungewöhnlich für ein Mädchen ihrer Zeit und doch hatte Vic sie nie anders gekannt. Sie triefte und keuchte, hechtete noch einen Schritt vor und stützte sich auf die abgetragenen Leinenhosen, die über und über mit Schlamm beschmiert waren, als hätte sie sich darin gewälzt. Ein tiefer Schnitt zierte ihre hohen Wangenknochen, während ihr dunkles Haar in zwei geflochtenen Zöpfen um ihr schmales Gesicht peitschte.
"Keely?", fragte Pim überrascht. "Was machst du hier? Wo ist Dash?"
Vic war wie versteinert und als Keelys Blick den seinen fand, ließ er den Hammer sofort fallen und griff nach dem Heft seines Schwertes, das in der Scheide an seinem Gürtel steckte.
Er schüttelte den Kopf. "Zwei Wochen - wir hatten noch zwei Wochen, das Geld aufzutreiben..."
Keely schluchzte auf.
"Er hat ihn, Vic! Er hat Dash! Er wird ihn töten!"
Wer wird dieses Mal sterben, Vic?
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