Vermeer

Solange diese Frau aus dem Rijsmuseum
in der gemalten Stille und Andacht
Tag für Tag Milch
aus dem Krug in die Schüssel gießt,
verdient die Welt
Keinen Weltuntergang.

~Wislawa Szymborsky

„Oh Gott."

Ich verharrte einige Sekunden und wartete. Starb man so? Als ich ein Auge vorsichtig öffnete, lag die Scheune vor mir, wie ich sie in Erinnerung hatte. Mit einem Unterschied: Mein Henker stand nicht vor mir. Ich runzelte die Stirn und öffnete auch das zweite Auge. Irgendwie hatte ich mir das Leben danach anders vorgestellt. Vielleicht ein Engelschor oder alles vernichtende Flammen. Oder die Supernatural-Version der Wiederholung der schönsten Erinnerung. Selbst „Wenn du stirbst" hätte ich eher erwartet. Eine falsche Entscheidung zu revidieren schien mir ein schöner Gedanke zu sein. Dann senkte ich den Blick.

Sofort wünschte ich mir, ich hätte die Augen niemals geöffnet, während mich die Übelkeit überkam. Ich war ganz sicher nicht tot. Ich drehte mich von dem Anblick weg, stützte mich auf beide Hände und tat, was mein Körper mir befahl: Ich übergab mich.

„Elias, alles okay?"

Eine Hand berührte meinen Rücken, während ich schwer atmend am Boden kniete, die Augen geschlossen, um den Anblick zu verdrängen. Beruhigend fuhr diese Hand über meinen Rücken. Zitternd nickte ich, dann stieß ich mich vorsichtig in die Höhe. Bei mir war alles gut, es ging mir bestens. Grandios. Ich hatte schließlich schon tausend Schusswunden gesehen. Im Kopf. Mit einem Haufen Blut und Gehirnmasse daneben.

Die Hand auf meinem Rücken bewegte sich und griff stattdessen nach meinem Ellenbogen, worum ich froh war. Ich wollte nämlich unter gar keinen Umständen irgendwo hinein stolpern. Apropos Schusswunde... Woher kam die? Eine dunkle Ahnung beschlich mich und ich hielt die Augen für ein paar weitere Sekunden geschlossen, in der Hoffnung, den Gedanken zu verdrängen. Dann öffnete ich die Augen, darauf bedacht, nicht auf den Boden zu blicken. Wer wusste schließlich schon, was ich als nächstes tun würde, wenn ich das sah. Auch wenn mich das niemals wieder verlassen würde.

Ich drehte den Kopf zur Seite, bis ich die Person neben mir ansehen konnte. Ich blinzelte einmal, dann zweimal.

„Hast du gerade jemanden erschossen?"

Die Frage hatte ich gar nicht stellen wollen, aber sie war meinen Lippen einfach entkommen, bevor ich sie hatte zurückhalten können. Chris zuckte zusammen, dann verzog er sein Gesicht.

„Können wir vielleicht nicht darüber reden?"

Nicht darüber reden, dass er jemanden umgebracht hatte? Mit einem Kopfschuss? Ich öffnete den Mund, um ihm eine Standpauke zu halten, als mir zwei Sachen klar wurden. Erstens: Chris sah auch aus, als würde er sich gleich übergeben müssen. Er hatte das garantiert nicht aus Spaß an der Freude getan, was mich auch schon zu zweitens brachte: Er hatte diesen Kerl erschossen, damit der mich nicht erschoss. Da es wohl eher meine Schuld war, sollte ich nichts dazu sagen. Also schloss ich den Mund wieder und erwiderte stattdessen Chris unglücklichen Blick mit einer Grimasse, die hoffentlich einer beruhigenden Miene gleichkam.

„Ich möchte euren Moment ja nicht unterbrechen, aber ich würde gerne verschwinden, bevor jemand nach ihm sucht."

Mar! Ich löste mich von Chris und trat auf das Mädchen zu, das unruhig von einem Schritt auf den anderen trat. Sie schenkte mir ein schwaches Lächeln, dann umarmten wir uns. Doch lange währte es nicht, denn sie hatte recht: Wir sollten hier dringlichst verschwinden. Jede Sekunde, die wir blieben, war eine Sekunde mehr, in der Alonso hiervon erfahren könnte.

„Du hast recht, wir sollten hier weg."

Chris stand dicht neben mir, als ich mich von ihr löste. Er sagte kein Wort, sein Blick war von dem Leichnam nur wenige Schritte entfernt angewandt. Er sah kurz Mar und mich an, dann verzog er das Gesicht.

„Wir können das Auto nehmen, es gibt nur ein Problem."
„Und das wäre?", wollte Mar ungeduldig wissen, woraufhin Chris schluckte.
„Ich habe den Schlüssel nicht."

Für ein paar Sekunden sah ich den Jungen neben mir an, nicht sicher, was er meinte. Dann schüttelte ich den Kopf.

„Wenn ich in die Nähe von dem Kerl komme, dann übergebe ich mich bestimmt ein weiteres Mal."

Chris drehte den Kopf und sah Mar aus großen Augen an, die noch etwas blasser wurde.

„Warum denn ich? Ich habe nicht für die Sauerei gesorgt."

Für ein paar Sekunden leisteten die beiden sich ein Duell mit ihren Blicken, dann seufzte sie.

„Wenn ich Blut an meine Kleidung bekomme, bezahlt ihr mir die Reinigung, verstanden?"

Chris nickte und trat dann einen Schritt zur Seite, während Mar tief durchatmete und die Schultern straffte. Ich versuchte, sie mit einem aufmunternden Blick zu unterstützen, wie nutzlos das auch sein mochte, wandte meinen Blick jedoch ab, als sie neben der Leiche in die Hocke ging. Ein paar Sekunden lang waren nur das Rascheln von Kleidung und Mars angewiderte Laute zu hören, während Chris' Hand wieder über meinen Rücken glitt. So langsam bekam ich das Gefühl, dass er damit nicht nur mich beruhigen wollte.

„Okay, los."

Ich ließ mich von Chris aus dem Gebäude führen, während Mar mit den Schlüsseln in der Hand geradezu von diesem Ort wegrannte. Wären die Kopfschmerzen und der Schwindel nicht zusammen mit der Übelkeit zurückgekehrt, hätte ich bestimmt das gleiche getan. So aber war ich froh um den Halt, den Chris mir bot. Ebenso war ich erleichtert, als ich endlich im Wagen saß, Chris neben mir auf der Rückbank während Mar es sich am Fahrersitz gemütlich gemacht und einen Knopf gefunden hatte, der das Fenster zwischen Vorder- und Rückbank herunterfahren ließ.

„Was jetzt?", fragte sie schließlich, während sie und über den einzigen Weg, einen alten Feldweg, wegfuhr.

Ich zuckte mit den Achseln, obwohl sie das nicht sehen konnte, und sah zu Chris, der ebenso ratlos wie ich wirkte.

„Wie wäre es mit der Polizei?", schlug er dann vor.

„Tolle Idee. Was erzählen wir denen? Das du einen Typen erschossen hast, der Elias erschießen wollte, weil Alonso Martin ihm das gesagt hat? Nicht zu vergessen, dass Alonso Martin dein Vater ist und wir nur in diese Sache reingerutscht sind, weil du dich wie ein kleiner eingeschnappter Junge verhalten hast?"

Mar klang schnippisch, während sie antwortete. Irgendwie konnte ich sie ja verstehen, aber Chris die ganze Schuld für diese Sache geben? Das hatte er ja nicht wissen können.

„Und was schlägst du dann vor? Wir fahren durch die Gegend, bis mein Vater uns findet und alle drei erschießt? Da ist mir die Polizei lieber."

Chris klang genauso sauer wie Mar und ich seufzte.

„Ein Streit wird uns jetzt auch nicht weiterbringen. Chris hat recht, die Polizei ist unsere beste Chance, aus dieser Sache gesund und munter rauszukommen. Aber ich stimme dir auch zu, Mar. Wir sollten uns vorher überlegen, was wir sagen und was wir für uns behalten."

„Okay", kam es als Antwort vom Fahrersitz und auch Chris nickte zögerlich.

Zufrieden schloss ich die Augen. Es war schön, mal nicht stundenlang streiten zu müssen.

„Wir sollten am besten versuchen, die Situation zu erklären, statt einfach mit dem, was in den letzten Stunden passiert ist, rauszuplatzen. Wie wäre es damit: ..."

---

„Und wir sollen Ihnen das alles glauben?"

Der Polizist, der uns gegenübersaß, ließ seinen Blick über uns gleiten, während Mar bestätigend nickte.

„Ja. Ich weiß, es klingt komisch. Aber ich bin mir sicher, wenn Sie jemanden zu dem Schuppen schicken, dann sehen Sie es selbst."

Der Mann hatte die Brauen noch immer zusammengezogen, dann winkte er einen Kollegen heran, den ich als den Vorgesetzten erkannte, der uns zu dem Polizisten geschickt hatte, der unsere Aussage aufnehmen sollte. Dieser Vorgesetzte, Inspektor Ruiz, trat an den Tisch heran und ließ sich das Protokoll reichen. Er überflog es, dann legte er es wieder weg und unterzog uns einer weiteren Musterung.

Wir mussten ein schreckliches Bild abgeben. Meine Klamotten waren staubig und ich war mir sicher, ein paar Blutspritzer abbekommen zu haben, Chris sah unglücklicher aus, als ich ihn je gesehen hatte und zitterte und Mar hatte doch etwas Blut abbekommen, als sie nach dem Schlüssel gesucht hatte, ihre Haare vollkommen durcheinander.

„Schick jemanden hin. Ich lasse Sie, Señora Martina, von einer Streife nachhause begleiten. Bitte bleiben Sie dann dort, bis ich ihre Geschichte überprüft habe. Señor Dumort, Señor Martin, ich werde Sie persönlich in Ihr Hotel begleiten. Sie sollten dort packen, aber warten, bis ich Sie holen komme. Entweder dürfen Sie dann eine hübsche Zelle besuchen oder wir bringen Sie nachhause und in Sicherheit. Deal?"

Kurz sahen wir einander an, dann nickte Chris hastig. Er war bestimmt erfreut zumindest die Möglichkeit zu haben, nicht sofort hinter Gittern zu landen. Und ich? Ich wollte mich nur noch hinlegen und schlafen, bis die Kopfschmerzen aufhörten.

„Sehr schön, dann sollten wir losgehen."

Müde erhob ich mich aus dem ungemütlichen Plastikstuhl, den ich an den Schreibtisch des Beamten gestellt hatte. Die Polizeistation war klein und eng, sodass wir Slalom zwischen den Tischen laufen mussten, bis wir schließlich den Ausgang erreichten. Inspektor Ruiz hielt uns sogar die Tür auf und führte uns dann zu einem unauffälligen Wagen, seinem Dienstwagen, wie er uns erklärte.

Die Fahrt zum Hotel dauerte nicht lange, dennoch musste ich mich zusammenreißen, um nicht einzuschlafen. Es war mittlerweile dunkel draußen, die Sonne nur noch ein kleiner Streif am Horizont, der sich verabschiedete. Als wir das Revier aufgesucht hatten, in einem gestohlenen Wagen, war es hell gewesen. Unser Anblick hatte für einigen Wirbel gesorgt, und wer konnte es den Leuten verübeln?

Mar hatte fünf Minuten auf einen Beamten einreden müssen, bis der uns zum Leiter des Reviers gebracht hatte, kein bisschen von unserer Geschichte überzeugt. Glücklicherweise war der Inspektor dem Ganzen nicht abgeneigt gewesen. Er war einer dieser Typen, die ehrgeizig genug waren, jeder Spur nachzugehen, um aufzusteigen. Mit uns würde er vielleicht die Chance haben, Martin Alonso hinter Gitter zu bringen. Kein Wunder also, dass uns statt einer Zelle Kaffee und Decken angeboten worden waren.

„Da wären wir. Wie gesagt, Sie sollten warten, bis ich zu Ihnen komme. Versuchen Sie zu verschwinden, werde ich dafür sorgen, dass ihr nie wieder etwas anderes außer dem spanischen Gefängnis seht. Verstanden?"

„Ja, natürlich", antwortete ich schnell, begeistert von dem Gedanken, endlich schlafen zu können.

Auch Chris stimmte zu und schon bald lag ich auf meinem Bett, die Vorhänge geschlossen und die Decke über meinem Kopf. Chris lief derweil durch das Zimmer, vermutlich sammelte er all die Sachen auf, die er im Zimmer verteilt hatte. Ich war ordentlich, deshalb blieb mir das erspart. Dann spürte ich, wie sich das Bett senkte und jemand an meiner Decke zog.

„Bist du noch wach?"

Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir und ließ die Decke los, sodass Chris sie beiseiteschieben konnte. Das Bett bewegte sich, während er sich neben mich schob, bis ein menschlicher Heizkörper an meine Seite gepresst dalag.

„Wie kannst du nach all dem so ruhig schlafen?", wollte er dann wissen.

„Keine Ahnung. Es liegt wahrscheinlich an den Kopfschmerzen und all dem Adrenalin, das ich verbraucht habe. Bei dir setzt die Müdigkeit bestimmt auch bald ein."

„Und was, wenn ich das nicht will? Was, wenn ich Angst davor habe?"

Ächzend drehte ich mich auf die Seite, bis ich Chris ansehen konnte. Er hatte wieder seine Brille aufgezogen und sah mit gerunzelter Stirn auf seine Hände hinab.

„Wir sollten reden."


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Ich hasse es. Kaum beginnt die Schule, sogar eingeschränkt, und ich sitze wieder bis halb sechs am Schreibtisch. Dennoch ein frisches Kapitel.

Over and Out,

_Amnesia_Malum_

11/05/2020

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