Nu

Der Augenblick, in dem nur der Augenblick zählt.
So wie diese Katze da wollüstig gähnend
ihre Pfoten von sich streckt.
Planlos. Kampflos. Gewissenlos.
Die kühle Luft in den Dendriten der Lunge,
etwas warmes im Sonnengeflecht.
Alles, was du spürst, ist gleichgültig.
Das bloße Leben, bis in den kleinen Zeh.

~Hans Magnus Enzensberger~

„Hey", erwiderte ich die Begrüßung mit einem kleinen Grinsen.

Eigentlich eine lahme Antwort, besonders wenn man bedachte, wie sehr ich diesem Moment entgegengefiebert hatte. All die Worte, die mir in den letzten Tagen in den Sinn gekommen waren, kamen mir jetzt alle sinn- und bedeutungslos vor.

„Wie geht es dir?",
Ich hob den Blick, den ich bisher auf unsere Hände gerichtet hatte, und sah Chris ungläubig an.

„Echt jetzt?"
Er zuckte mit den Schultern, das Lächeln auf seinen Lippen noch immer gegenwärtig.

„Ja, echt. Du siehst irgendwie fertig aus. Außerdem bist du eindeutig auch noch immer im Krankenhaus. Der Arzt hier durfte mir nur nicht sagen weshalb."

Ich runzelte die Stirn.
„Wie lang bist du denn schon wieder..."

Ich brach ab, nicht sicher, wie ich es am besten formulieren sollte. Doch Chris schien zu wissen, was ich meinte.

„Eine Stunde, vielleicht zwei. Die Ärzte wollten erst sichergehen, dass es mir gut genug für Besucher geht, bevor sie meine Verwandten informieren."

Die Antwort wurde von einem belustigten Augenrollen begleitet, das mein Lächeln noch ein Stück breiter werden ließ. Doch dann sackten meine Mundwinkel ein Stück ab.

„Apropos Verwandte, was war eben hier los? Deine Mutter wirkte wirklich nicht glücklich."

Chris' Lächeln blieb, doch es schien angestrengter als zuvor. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er für mich nicht so tun sollte, als wäre alles okay, doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, seinen Schutzmechanismus zu kritisieren. Es war offensichtlich, dass sie nichts Nettes gesagt hatte.

Die Stille zwischen uns zog sich in die Länge, Chris' Blick nun auf unsere Hände gerichtet. Ich versuchte währenddessen nicht allzu deutlich zu zeigen, wie sehr ich auf diese Antwort brannte. Besonders da ich nicht einmal wusste, ob er es mir erzählen würde. Klar, wir waren uns in den letzten Wochen nah gekommen, doch wie nah? Es konnte unglaublich schwer sein, über familiäre Probleme zu sprechen, dass wusste ich nur zu gut selbst.

„Zuerst war sie noch nett", murmelte Chris plötzlich, sein Lächeln nicht mehr fröhlich, sondern traurig.

Irgendwie wirkte er hoffnungslos, vielleicht sogar etwas verloren. In einer hoffentlich aufmunternden Geste drückte ich seine Hand und lehnte mich ein Stück vor. Chris seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, die, wie mir in diesem Moment auffiel, nass waren. Vielleicht waren es ja nicht nur die Ärzte gewesen, die sich auf Besucher hatten einstellen müssen.

„Dann meinte sie, sie wäre bei dir gewesen. Da bin ich natürlich neugierig gewesen, denn bisher waren ihr meine Bekanntschaften, sofern sie nicht gerade weiblich waren, ziemlich egal. Da ist dann irgendwie alles eskaliert. Sie meinte, wie ich denn einen so netten jungen Mann hatte gefährden können und wollte mir nicht glauben, als ich meinte, du hättest darauf bestanden.

Stattdessen hat sie mir Vorwürfe gemacht, wieso ich denn immer so dumme Sachen mache und ich habe ihr geantwortet, dass es sie nichts angeht, solange sie nicht in der Lage ist, mich so zu akzeptieren, wie ich nun einmal bin. Da ist sie dann richtig sauer geworden und hat mich gefragt, was ich dir denn alles erzählt hätte. Sie meinte, du schienst kein gutes Bild von ihr zu haben.

Daraufhin habe ich gesagt, dass ich dir die Wahrheit erzählt hätte, weil es das ist, was du verdienst. Schließlich hast du das Recht zu wissen, auf wen du dich da einlässt. Anscheinend hat sie erst da verstanden, dass ich bis über beide Ohren in dich verschossen bin und hat begonnen rumzubrüllen. Sie meinte, du wärst doch zu alt und ich sollte dich nicht belästigen und dann ist sie weggelaufen, als der Arzt hereinkam. Der meinte, wenn mein Spanisch nicht noch schlechter ist, als ich dachte, dass sie sich beruhigen soll, damit sie die anderen Patienten und ihre Familien sowie mich nicht stört."

Chris beendete seine Rede mit einem langen Atemzug und sah mich an erwartungsvoll an. Ich blinzelte und versuchte all die Informationen auf einmal zu verarbeiten. Doch eine stach dabei besonders hervor.

„Du bist in mich verknallt?"

Nun war es an Chris, mich verwirrt anzublinzeln. Dann kehrte das verschmitzte Lächeln auf seine Lippen zurück.

„War das dem Herrn Akademiker etwa nicht bewusst?"
Ich verdrehte die Augen.

„Es zu wissen und es aus dem Mund eines anderen zu hören sind zwei vollkommen verschiedene Dinge."

„Na klar. Aber ja, ich bin verknallt, und das nicht zu knapp. Deswegen solltest du mich zu einem Date einladen, sobald ich mich wieder in der Öffentlichkeit blicken lassen kann."

„Ich soll dich einladen?"
„Ja, du bist schließlich der reiche Autor. Ich bin bloß ein armer Student."
„Okay, ist gut", gab ich mich mit einem glücklichen Lächeln geschlagen.

Ich hatte sowieso vorgehabt, ihn um ein Date zu bitten.

„Du hast meine Frage aber trotzdem noch nicht beantwortet. Wie geht es dir?"
Ich seufzte, meine gute Laune dahin.
„Bis auf ein paar Kopfschmerzen fühle ich mich gut."

Chris warf mir einen ungläubigen Blick zu.

„Und was war deine Diagnose? Denn bei ein paar Kopfschmerzen behalten die dich keine Woche hier."

Ich wandte mich für ein paar Sekunden. Chris war der Angeschossene, nicht ich. Es kam mir beinah banal vor, jetzt über meine Beschwerden zu klagen. Doch Chris Blick war überraschend ruhig und erwartungsvoll, also zuckte ich mit den Schultern, in der Hoffnung, es etwas zu relativieren.

„Die Ärzte meinten, ich hätte eine schwere Gehirnerschütterung. Eigentlich hätte ich nach zwei Tagen gehen können, aber ich habe zwischendurch noch Gedächtnislücken, also haben sie mich für weitere Untersuchungen dabehalten. Wahrscheinlich lassen sie mich in den nächsten Tagen aber raus."

Chris nickte, plötzlich ernsthaft.
„Tut mir leid."
„Du hast ja nicht zugeschlagen."

Chris verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Meine Mutter hatte aber teilweise recht. Schließlich hat mein Vater versucht, dich umzubringen."

Ich verdrehte die Augen.
„Und er hat auf dich geschossen. Aber es ist vorbei. Kein Alonso, keine Unruhe. So einfach ist das."

Chris nickte, schien aber nicht wirklich überzeugt. Dann legte er den Kopf schief.

„Was ist eigentlich genau passiert? Ich erinnere mich noch daran, dass der Inspektor hereinkam. Aber woher wusste er von meinem Vater? Und was ist eigentlich mit ihm?"

„Dein Handy lag im Bett, also habe ich damit eine Nachricht verschickt. Dein Vater..."

Ich zögerte kurz.

„Dein Vater ist tot. Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Tut mir leid."

„Mir nicht."

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Chris an, der ein weiteres Mal mit den Schultern zuckte.

„Er wollte dich umbringen. Außerdem war er so oder so ein schlechter Mensch."

„Okay. Apropos tot: Du wirst wahrscheinlich nicht wegen der Sache in der Scheune angeklagt. Alonsos Angriff hat das Ganze nämlich sehr deutlich aufgeklärt. Außerdem wird Ruiz befördert und meinte, dass er uns das zu verdanken hat."

Während ich die Worte sagte, verzog ich das Gesicht. So eine Tragödie sollte nicht zu Dankbarkeit führen, ausgenommen natürlich die, die man fühlte, weil man noch am Leben war. Chris nickte bloß. Ihm schien der Gedanke auch nicht zu gefallen.

„Jorge war übrigens vor ein paar Tagen hier."
Chris sah mich überrascht an.
„Was wollte er?"

Ein kleines Lächeln stahl sich bei der Erinnerung an meinen alten Freund in meinem Gesicht.

„Er hat sich nach dir erkundigt. Und dann wollte er wissen, warum wir seinem Tipp nicht gefolgt sind. Es hat sich herausgestellt, dass das Lama-Video ein Hinweis auf die Farm war, wo Alonso uns hingebracht hat. Und dann hat er mich noch gefragt, wie ich meine kleine Einführung in die Gehirnforschung fand."

Zu meiner Überraschung begann Chris bei dem morbiden Witz zu lachen. Ich selbst lächelte. Wie sehr ich dieses Geräusch in den letzten Tagen vermisst hatte. Manchmal wusste man einfach erst, was man hatte, wenn es einem genommen wurde. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich es nicht bis in alle Ewigkeit vermissen musste.

„Woran denkst du?"

Erstaunt sah ich Chris an, der sich anscheinend wieder beruhigt hatte. Er sah mich immer noch lächelnd an, was ich erwiderte. Zuerst zögerte ich, doch dann wurde mir die Bedeutung des Moments klar. Ich hatte Glück, die Gelegenheit zu haben, ihm alles zu erzählen, was ich dachte und fühlte. Nicht jeder Mensch bekam diese Gelegenheit.

„Ich denke, dass ich ganz schön viel Glück habe. Ich lebe in einem Land, das mich, zumindest vor dem Gesetz, akzeptiert. Ich habe einen Job, der mich glücklich macht. Ich muss mir keine Geldsorgen machen. Ich bin Gesund, mal abgesehen von den Kopfschmerzen. Aber wirklich Glück habe ich mit dem jungen Mann, der neben mir sitzt."

Chris Lächeln wurde breiter, während wir einander ansahen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mir selbst leidgetan. Aber jetzt? Ich hatte nicht alles, aber mehr als genug um glücklich zu sein war es doch allemal.

„Das ist wirklich süß, aber ich muss Sie leider wieder auf ihre Station zurückbringen, Herr Dumort."

Ich zuckte zusammen und drehte mich herum. Eine der strengeren Schwestern meiner Station stand in der Tür und sah mich mahnend an. Doch ihr Blick war weniger scharf als sonst. Seufzend drehte ich mich zu Chris, der mich mit einem kleinen Grinsen ansah. Er schien auch heute nichts anderes zu können, doch ich war froh darum.

„Dann sage ich wohl lebe wohl. Vielleicht sieht man sich ja", erklärte er.

Ich schüttelte bloß den Kopf.

„Hör auf damit, Chris. Ich komme vorbei, sobald ich wieder darf. Versprochen."

Chris nickte, dann ließ er zögerlich meine Hand los.

„Okay, bis dann."

Ich erhob mich vorsichtig von dem Besucherstuhl, doch dann besann ich mich eines Besseren. So schnell ich konnte lehnte ich mich nach vorne und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Wie ein kleines Mädchen floh ich dann aus dem Raum, doch hielt in der Tür inne, um Chris ein letztes Lächeln zuzuwerfen. Ich verhielt mich ziemlich bescheuert, doch Chris Lächeln machte es wett. Glück war doch eine schöne Sache.

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Tatsächlich habe ich überlegt, die Geschichte schon nach diesem Kapitel zu beenden. Ich habe 50.000 Wörter überschritten, warum also nicht? Man soll schließlich aufhören, wenn es am schönsten ist. Aber da wir ja schon Chris Eltern kennen, wird es Zeit, uns auch noch einem Treffen mit Mama und Papa Dumort zu stellen, nicht wahr?

Over and Out,

_Amnesia_Malum_

01/06/2020

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