Meine dir zugewinkelte Seele
Meine
dir zugewinkelte Seele
hört dich
gewittern,
in deiner Halsgrube lernt
mein Stern, wie man wegsackt
und wahr wird,
ich fingre ihn wieder heraus -
komm, besprich dich mit ihm,
noch heute.
~Paul Celan~
„Señor Dumort?"
Ich hob den Blick von dem Buch, das aufgeschlagen auf meinem Schoss lag. Eine Schwester hatte ihren Kopf durch die Tür gesteckt und schenkte mir ein freundliches Lächeln. Sie blickte kurz auf meine Lektüre, wahrscheinlich um sicherzugehen, dass ich kein Handy oder etwas ähnliches versteckte.
Die letzten paar Tage hatte ich in einem Krankenhaus in Madrid verbracht. Nach einer weiteren Untersuchung im Krankenhaus hatte man mir eine schwere Gehirnerschütterung nachgewiesen und beschlossen, mich im Krankenhaus zu behalten. Das bedeutete für mich zu Beginn keine Anstrengung, doch mittlerweile durfte ich zumindest lesen und leichte Rätsel lösen, mein Handy aber war noch immer tabu.
Chris war, nach einer Notfall-OP, in dieses Krankenhaus nach Madrid verlegt worden, wo er momentan im künstlichen Koma lag, um seine Wunde besser behandeln zu können. Für Alonso jedoch war jedoch jede Hilfe zu spät gekommen, was ich nicht gerade bedauerte. Der Mistkerl hatte es verdient. Sobald ich von Chris Verlegung gehört hatte, hatte auch ich darum gebeten. Oder viel eher hatte Sofia den Oberarzt meiner Station zusammengestaucht, nachdem sie von eben diesem von meinem Zustand erfahren hatte, und er hatte zu viel Angst vor ihr gehabt, um mir etwas vorzuenthalten. Bestimmt war er glücklich gewesen, mich und damit auch meine Verlegerin los zu werden.
Das konnte ich ihm nicht verübeln. Mir selbst graute es schon davor, nach Deutschland zurückzukehren. Die Standpauke, die sie mir halten würde, konnte ich mir jetzt schon vorstellen.
„La madre de tú amigo Chris está aquí. Quiere hablar contigo. ¿Debería dejarla entrar?"
Ich setzte mich ein Stück in meinem Bett auf. Chris Mutter war hier? Und wollte mit mir reden?
„Claro que sí. Gracias."
Die Schwester, Carolina, wenn ich mich richtig erinnerte, nickte, dann schob sie die Tür weiter auf und verschwand, wahrscheinlich, um zum nächsten Patienten zu eilen. Währenddessen legte ich das Buch weg und untersuchte mein Oberteil auf mögliche Flecken. Glücklicherweise hatte ich dieses Mal keine Suppe gehabt, sodass mein Tshirt sauber war. Nicht, dass dieser letzte Test etwas gebracht hätte, denn die besagte Frau trat ein, kaum, dass Schwester Carolina weg war.
Irgendwie schaffte sie es, meinen Vorstellungen zu entsprechen und es gleichzeitig auch nicht zu tun. Sie war klein, mit langen braunen Haaren und einer Brille, ähnlich der, die Chris trug. Soweit entsprach sie meiner, wenngleich auch etwas klischeehaften, Vorstellung. Doch ihr Gesichtsausdruck war beinah sanftmütig. Chris Erzählungen nach hatte ich eine gerunzelte Stirn oder vielleicht mit nach unten gezogenen Mundwinkeln erwartet, wie eine verklemmte alte Frau, aber nichts davon war zu sehen.
„Herr Dumort?"
Sie blieb in der Tür stehen, als wäre sie nicht ganz sicher, ob sie hereinkommen durfte.
„Ja, kommen Sie doch herein", erwiderte ich etwas peinlich berührt und deutete auf den Stuhl, der neben meinem Bett stand.
Sie lächelte, dann stellte sie ihre Tasche neben dem Stuhl ab und setzte sich. Für eine kurze Weile blieb es still, während keiner von uns so richtig zu wissen schien, was wir eigentlich sagen sollten.
„Danke."
Überrascht blickte ich von der Fussel weg, die ich gerade noch beobachtet hatte, und sah stattdessen zu Chris Mutter, die mir ein beinah schüchternes Lächeln zuwarf.
„Sie haben auf meinen Sohn aufgepasst, als er etwas wirklich Dummes getan hat. Dafür danke ich Ihnen aus vollem Herzen. Chris macht oft so Sachen und ich hoffe, dass er Ihnen nicht zu viele Sorgen bereitet hat. Sie wissen sicherlich, wie anstrengend er ist."
Ich runzelte die Stirn. Soviel zum Thema, nicht der Vorstellung entsprechen. Sie war also wirklich der Typ Frau, der ihr Sohn unangenehm war, der man einfach nicht gut genug sein konnte.
„Ich fand ihn überhaupt nicht anstrengend, Frau Martin."
Sie schien beinah belustigt, während sie sich etwas vorbeugte.
„Dann haben Sie wohl noch nicht genug Zeit mit ihm verbracht. Es wundert mich immer wieder, dass er bei seinem Verhalten tatsächlich Freunde hat."
Die Nervosität, die ich zuvor verspürt hatte, war längst vergangen. Stattdessen spürte ich Wut in mir aufsteigen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Chris hat anscheinend nicht übertrieben."
Seine Mutter runzelte die Stirn.
„Womit übertrieben?"
„Ihrem Verhalten ihm gegenüber. Warum redet eine Mutter bitte so über ihren Sohn?"
Frau Martin schien zurückzuzucken, als sie meine vorwurfsvollen Worte hörte. Das geschah ihr recht, auch wenn ich mich gleichzeitig mies fühlte. Warum konnte ich nur meinen eigenen Eltern nicht so die Stirn bieten?
Für ein paar unangenehme Momente blieb es zwischen uns still. Ich war mir nicht sicher, was ich noch sagen sollte und Chris Mutter schien nachzudenken, wie sie am Besten auf meinen kleinen Ausbruch reagieren sollte. Vielleicht dachte sie auch darüber nach, was ich gesagt hatte. Diese kleine Hoffnung wuchs stetig in mir, wenngleich mir auch bewusst war, wie unwahrscheinlich das war. Mütter waren in der Regel von ihren Erziehungsmethoden überzeugt und auch nicht abzubringen, sogar manchmal, wenn das ihre Kinder in die Verzweiflung trieb.
„Herr Dumort, ich..."
„¡Señora Martin, Señor Dumort! Chris se despierte", unterbrach Schwester Carolina den unglücklichen Versuch von Chris Mutter, sich zu rechtfertigen. Sie war vielleicht nicht weit gekommen, doch man sah ihr an den funkelnden Augen und den angespannten Schultern an, dass sie nicht plante, etwas zuzugeben.
Doch das war mir im Moment egal. Schwester Carolina hielt nämlich die Tür auffordernd auf und lächelte erleichtert. Viele der Ärzte waren sich nicht sicher gewesen, wie lange Chris im Koma liegen müsste. Und ich hatte ihn nicht einmal besuchen dürfen, um sicherzustellen, dass ich mich nicht aufregte oder sonst etwas tat, was meiner Genesung schaden würde. Besonders, nachdem ich nach einem Tag voller Anstrengungen meinen eigenen Namen vergessen hatte. Ein unangenehmer Moment.
Doch dieser hier war es nicht. Chris Mutter, deren Vornamen ich nicht kannte, wie mir in diesem Augenblick bewusstwurde, war aufgesprungen, sobald die Schwester ausgesprochen hatte und war aus dem Raum gesprintet. Ich selbst musste mir unter den strengen Blicken einer weiteren Schwester die Schuhe anziehen lassen, um dann im Schneckentempo unter Beobachtung von insgesamt drei Krankenpflegerinnen, einem Krankenpfleger und meiner Stationsärztin losziehen. Die verdammte Sofia!
Ich kam mir schön blöd vor, wie ich unsere kleine Prozession durch einen Haufen Flure führte, zwei Aufzüge und drei Sicherheitstüren führte. Dabei musste ich mindestens sieben Mal in meinem Tempo gebremst werden. Als wir schließlich vor einer weiteren Tür standen, war ich kurz davor, loszurennen und zu hoffen, dass mich niemand einholen würde, bis ich nicht bei Chris ankam. Ungeduldig rollte ich von meinen Fußballen zur Ferse und wieder zurück und wippte. Dabei ignorierte ich geflissentlich den vorwurfsvollen Blick meiner Ärztin.
Das hier war wichtig. Die letzten Tage waren schrecklich langsam vergangen, immer begleitet von der Angst, dass Chris vielleicht starb. Ein dummer Gedanke, zumal die Ärzte eigentlich bloß fürchteten, dass er eventuelle Koordinationsprobleme haben könnte, die seine Genesung beeinträchtigen könnten. Doch ich brauchte einen anderen Anblick als den von Chris in seinem eigenen Blut, umgeben von Sanitätern, die ihn schleunigst in ein Krankenhaus bringen wollten.
Mein Gehirn hatte nämlich aufgrund dieser Bilder beschlossen, mir eine große Auswahl an Horrorszenarien auf Dauerschleife vorzuspielen, wann immer ich die Augen schloss. Ich hatte schließlich ein Beruhigungsmittel gebraucht, um die ersten vier Tage lang zu schlafen, ohne ständig aus dem nächsten Albtraum aufzuwachen.
Ein neuer Pfleger hielt die Tür zu der Station auf, auf der ich Chris vermutete. Nervös tat ich einen Schritt nach vorne, nur um direkt wieder eine Hand an meinem Arm zu spüren, die mich zur Ruhe ermahnte. Als wäre ich ein kleines Kind, das nicht wusste, wann es rennen durfte und wann nicht.
Dennoch drosselte ich mein Tempo und kroch durch den Flur, mein Blick auf eine Tür gerichtet, die am Ende des Ganges aufstand. Immer wieder huschte ein Arzt hinein und hinaus und irgendjemand sprach sehr laut. Mich überkam ein ungutes Gefühl, das nur stärker wurde, als Frau Martin plötzlich aus dem Raum fegte, als ich auf halbem Weg dorthin war. Sie wandte den Blick ab, als sie an meiner Prozession vorbeistürmte und weigerte sich, auf die Rufe des Arztes zu hören, der aus demselben Zimmer hinter ihr her stürmte. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich wahrscheinlich über diese seltsame Situation gelacht. Doch das konnte ich jetzt nicht, also konzentrierte ich mich stattdessen darauf, dass Tempo möglichst unauffällig zu heben. Meine Bemühung, nicht aufzufallen, war von keinem Erfolg, dennoch sagte dieses Mal niemand etwas dagegen. Wahrscheinlich hatten sie endlich verstanden, wie wichtig mir diese Sache war.
Vor der Zimmertür hielt ich dennoch für ein paar Sekunden inne, um tief durchzuatmen und mich auf das vorzubereiten, was mich möglicherweise erwarten könnte. Dann, mit einem hoffentlich nicht zu ängstlichen, Lächeln betrat ich den Raum.
Das Zimmer war weiß, wie beinah jedes Krankenhauszimmer, das ich je gesehen hatte, mit Ausnahme des Kinderkrankenhauses, in dem ein Freund einmal für ein paar Tage gelegen hatte, als ich noch klein war. Der Raum war nur für eine Person eingerichtet und entsprechend schnell fiel dann auch mein Blick auf Chris. Ich war mir nicht sicher, womit ich gerechnet hatte, doch das verschmitzte Lächeln, das mich begrüßte, war es sicherlich nicht.
Chris' Kopfteil war aufgerichtet, sodass er beinah aufrecht saß. Es gab um einiges weniger Maschinen, als man das aus Serien kannte und er sah nicht aus, als wäre er gerade von den Toten zurückgekehrt. Erleichterung überkam mich und ich ließ mich mit einer Miene, die das überdeutlich ausdrückte, auf den Besucherstuhl nieder. Ich würde es nicht zugeben, doch der lange Fußmarsch hatte mich fertig gemacht.
Doch Chris Gesichtsausdruck machte das locker wett. Er grinste noch immer, obwohl seine Mutter eben hier herausgestürzt war, und griff nach meiner Hand.
„Hi."
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Eigentlich wollte ich nur Montags Kapitel hochladen, doch nachdem ich am langen Wochenende vor lauter Mathe lernen nicht wirklich zum schreiben gekommen bin, habe ich beschlossen, eine Ausnahme zu machen. Nächste Woche kommt sicherlich auch schon Montag das Kapitel, denn ich werde erstmal wieder zuhause bleiben müssen. Ich hätte nie gedacht, dass man die Schule tatsächlich vermissen kann, so viel steht fest.
Jedenfalls, ich hoffe, dass es euch allen gut geht.
Over and Out,
_Amnesia_Malum_
27/05/2020
PS: Wer ein gutes gedrucktes Buch sucht, dem kann ich "Royal Blue" von Casey McQuinston ans Herz legen. Ich fand es wirklich toll. Nicht genial wie "Das Lied der Krähen", aber dennoch sehr toll.
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