Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendlang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falk, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

~Rainer Maria Rilke~

Am nächsten Tag fanden wir uns, wie geplant, nach einem kurzen Frühstück in einer Bibliothek wieder. Ich hatte beschlossen, dass wir hier nach Büchern suchen würden, die sich mit lokalen Untergrundorganisationen beschäftigten.

Wie erwartet sorgte Chris für unsere Unterhaltung, während ich mir eine Geschichte für die Bibliothekarin ausdachte, weshalb wir uns für diese Bücher interessierten.

Schließlich erklärte ich ihr einfach auf umständlichem Englisch, dass wir Reporter eines Morgenmagazins waren, welches eine Reihe über organisiertes Verbrechen plante.

Sie musterte uns zwar zweifelnd, was ich Chris' zerrissener Hose und dem zerknitterten Shirt vorwarf, dennoch gab sie etwas in ihren Rechner ein und reichte uns nach ein paar Minuten eine Liste der Bücher, die uns interessieren könnten.

Wir teilten die Liste auf und zogen dann los, um die Bücher zu besorgen. Als ich das erste Buch fand, stöhnte ich genervt auf. Dann zog ich den dicken Wälzer aus dem Regal. Bei den nächsten drei Büchern ging es mir nicht besser. Nur der fünfte Band auf meiner Liste war tatsächlich dünn.

Dennoch wankte ich aus den Regalreihen heraus und beeilte mich, einen Tisch abgelegen von anderen zu finden. Da der Lernbereich recht groß war, fiel es mir nicht schwer, die Bücher auf einem abgelegenen Platz abzulegen. Der Knall, der folgte, brachte mir den ein oder anderen bösen Blick ein, doch ich ignorierte die Leute einfach.

Stattdessen sah ich mich um, auf der Suche nach Chris. Als ich ihn nirgends fand, zuckte ich mit den Achseln und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Dann griff ich nach meinem Lederbuch, das eigentlich für meine Inspiration herhielt, und öffnete das erste Sachbuch. Schließlich konnte ich nicht wissen, ob nicht vielleicht die Idee für einen neuen Roman in diesen Seiten schlummerte.

Ich hatte den ersten Wälzer bereits durchgearbeitet, als Chris sich mir gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ und einen kleinen Stapel Bücher vor sich ablegte. Ich verzog das Gesicht, als ich sah, wie dünn seine Exemplare waren. Chris musterte ebenso den Stapel neben mir, dann grinste er.

„Konntest du das überhaupt tragen? Ich habe gehört, dass man in deinem Alter nicht mehr so viel tragen sollte."

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, ignorierte seine Aussage aber sonst. Auf einen Streit über Respekt anderen Leuten gegenüber wollte ich mich gerade nicht einlassen.

„Ich habe hier zwei englischsprachige Bücher für dich. Also, wenn du eine Fremdsprache sprichst", erklärte ich ihm schließlich. Dabei konnte ich einen kleinen Seitenhieb nicht auslassen.

Chris seufzte, dann nickte er.

„Ich denke, dass ich das noch hinbekomme. Nicht jeder kann in allem Gut sein, weißt du?"

Ich richtete meinen Blick wieder auf mein Buch, um das kleine Lächeln auf meinem Gesicht zu verbergen. Vielleicht war es blöd, aber ich konnte mit Komplimenten, egal wie seltsam sie auch formuliert waren, einfach nicht umgehen. Die meiste Zeit über lösten sie in mir bloß die Angst, die an mich gestellten Erwartungen nicht zu erfüllen, aus.

In der nächsten Stunde wühlte ich mich durch zwei Bücher, ohne auch nur die geringste Information zu finden. Dennoch wanderten immer wieder Notizen in mein kleines Buch, meist Anekdoten zu Organisationen, die in mein typisches Schema passten.

Nach dem zweiten Buch schloss ich die Augen und atmete durch. Ich hatte unterschätzt, wie lange ich schon kein Spanisch mehr gelesen oder gesprochen hatte, und entsprechende Probleme hatte ich nun, etwas zu verstehen. Weswegen es wohl nicht wunderlich war, dass ich beinah eine Stunde gebraucht hatte.

Als ich einen Blick zu Chris warf, musste ich auflachen.

Der dünnste Band von allen lag vor ihm und er starrte konzentriert darauf. An sich war das nicht ungewöhnlich, wäre da nicht die Tatsache, dass er dieses Buch schon vor einer Stunde gelesen hatte.

Chris sah verwirrt hoch, bis er meinem belustigten Blick folgte. Dann wurde er tatsächlich rot. Ich wiederhole, Chris Martin wurde rot. Schließlich senkte er auch noch den Blick.

„Wie gesagt, meine Talente liegen woanders."

Als ich seine leise Stimme hörte, zwang ich mich zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Er hatte recht, ich sollte Leute nicht für ihre Schwächen auslachen. Plötzlich etwas unbehaglich, stand ich auf und streckte mich.

„Ich habe hinten bei der Rezeption einen Kaffeewagen entdeckt und wollte mal schauen, ob ich etwas Gutes finde. Soll ich dir etwas mitbringen?"

Chris, den Blick immer noch auf das Buch gerichtet, nickte kurz.

„Ein Kaffee wäre nett."

Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte. Dann schlenderte ich durch den Lernbereich und steuerte den kleinen silbernen Wagen an. Die Frau dahinter hob den Kopf und lächelte mich an.

„Buenas Días. En que te puedo ayudar?" (Guten Tag, wie kann ich dir helfen?)

Ich musterte das kleine Angebotsschild, dann erwiderte ich das Lächeln.

„Quisiera dos cafés con leche y sin azúcar." (Ich hätte gerne zwei Kaffees mit Milch und ohne Zucker.)

Die Frau nickte, dann machte sie sich daran, meine Bestellung vorzubereiten. Während die Kaffees durchliefen, musterte sie mich neugierig.

„De dónde eres?" (Woher kommst du?)

„Estoy de Alemania. Mi amigo y yo preparamos una presentación para notre estacíon de televisión." (Ich komme aus Deutschland. Mein Freund und ich bereiten eine Präsentation für unseren Fernsehsender vor.)

„Oh, sí. Mi colega me acaba de decir. Buena suerte con tu búsqueda." (Oh, ja. Das hat meine Kollegin mir gerade eben gesagt. Viel Glück bei deiner Suche.)

„Gracias", bedankte ich mich, dann bezahlte ich unsere Kaffees und verabschiedete mich von der Frau.

Als ich an unserem Tisch ankam, blickte Chris auf und griff nach dem Kaffee, den ich ihm hinhielt. Dann senkte er wortlos wieder den Kopf. Ich runzelte die Stirn, während ich mich wieder auf meinen Stuhl sinken ließ. Als er den Kopf nicht von seiner Lektüre hob, seufzte ich.

„Hey, es tut mir leid. Ich hätte mich nicht über dich lustig machen sollen."

Chris brummte leise vor sich hin.

„Schon vergessen."

Skeptisch musterte ich ihn. Er wirkte nicht, als ob alles vergessen war.

„Sicher?", fragte ich, bevor ich mich zurückhalten.

Chris hielt inne, dann hob er den Kopf, um mich anzusehen.

„Ich bin nicht sauer, weil du das gesagt hast. Ich meine, hast du gehört, was ich immer sage? Dagegen war das ein Witz."

Ich nickte, doch ganz überzeugt war ich immer noch nicht. Die Formulierung war seltsam, ebenso der kontrollierte Tonfall, den er angeschlagen hatte.

„Ist dann etwas anderes?"

Chris antwortete nicht und wich meinem Blick aus. Dann schüttelte er den Kopf. Ich zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Chris, lüg mich nicht an."

Er verzog das Gesicht, dann warf er mir einen kurzen, vorsichtigen Blick zu.

„Du warst echt lang beim Kaffeewagen."

Ich runzelte die Stirn. Wie bitte?

„Warst du einsam ohne mich, oder was?"

Chris schüttelte wortlos den Kopf und starrte wieder auf die Seite, die er gelesen hatte. Ich schlug ebenfalls ein weiteres Buch auf, doch so ganz konnte ich mich nicht konzentrieren. Warum sollte es ein Problem geben, weil ich beim Kaffeewagen war?

Ich hob den Kopf und sah zu dem hellen Wagen. Dann schließlich richtete ich meinen Blick auf die Frau, die dort arbeitete. Sie war vielleicht dreißig, vielleicht auch etwas jünger. Und, wenn ich so darüber nachdachte, war sie wirklich hübsch.

Ein Gedanke regte sich in mir. War Chris vielleicht eifersüchtig gewesen? Der Gedanke war so unerwartet, dass ich ihn bereits abschreiben wollte, doch dann richtete ich meinen Blick auf Chris. Er hatte seinen Kopf gehoben und sah, wie ich zuvor, zu der Bedienung. Sein Gesichtsausdruck, auch wenn ich nur einen kleinen Teil seines Profils sehen konnte, wirkte alles andere als erfreut.

Mein impulsives Herz machte bei diesem Anblick einen Satz, erfreut über Chris Reaktion. Ebenso musste ich gegen ein kleines Lächeln ankämpfen. Um mich selbst abzulenken und Chris' Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, räusperte ich mich.

Sein Kopf schoss in Rekordzeit zu mir herum und er sah mich an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Das Lächeln, das ich zu unterdrücken versuchte, schob sich bei diesem Anblick doch auf meine Lippen. Chris schien das zu bemerken, da er ein weiteres Mal an diesem wundersamen Tag rot wurde und schnell wieder den Blick auf seine Lektüre leitete.

„Wir sollten uns etwas beeilen, ich will nicht den ganzen Tag vor staubigen Büchern hocken müssen."

Ich verkniff mir einen amüsierten Kommentar über die Ablenkung und summte stattdessen zustimmend.

Die nächste Stunde über arbeitete ich zwei weitere Bücher durch, immer noch ohne positives Ergebnis. Entsprechend frustriert war ich auch. Dennoch gönnte ich mir nur eine kleine Pause, in der ich unsere Pappkaffeebecher wegwarf und die Toilette aufsuchte, dann setzte ich mich an das nächste Buch, einer der dünneren Bände, die Chris geholt hatte.

Wenn wir bald nichts fanden, würden wir uns gänzlich auf Jorge verlassen müssen.

___

Wer dachte, es wäre eine gute Idee, mir Dienstags drei Stunden Freizeit zu geben? An sich ja ganz nett, würde das nicht bedeuten, dass ich nur für Kunst in den letzten beiden Stunden noch in der Schule bleiben muss. Das Positive: Ich habe jede Menge Zeit für Hausaufgaben. Oder schlechte Dramen ( ähem, Nathan der Weise von Lessing).
Aber hey, das Kapitel kommt pünktlich. Und das, obwohl ich ein Protokoll für meine letzte Biostunde und ein Referat vorbereiten muss. Und dazu kommt noch, dass ich ein Training für den sechsten mit einer Freundin planen muss, sie aber zur vereinbarten Zeit nicht geantwortet hat. Duh.

Over and Out, _Amnesia_Malum_

PS: Ich bin mir nicht 100% sicher, ob das Spanische stimmt. Sorry für eventuelle Fehler.

05/09/2019

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