Ich

Die Ehre hat mich nie gesucht;
die hätte mich auch nie gefunden.
Wählt man, in zugezählten Stunden,
ein prächtig Federkleid zur Flucht?

Auch Schätze habe ich nie begehrt.
Was hilft es, sie auf kurzen Wegen
für Diebe mehr als sich zu hegen,
wo man das wenigste verzehrt?

Wie lange währt's, so bin ich hin
und einer Nachwelt untern Füßen!
Was braucht sie, wen sie tritt, zu wissen?
Weiß ich nur, wer ich bin!

~Gotthold Ephraim Lessing~

Bis wir an unserem Ziel ankamen, verging eine ganze Weile. Eine Weile, die mich beinah in den Wahnsinn trieb, denn durch die getönten Fenster und die Scheibe, die die Rücksitze von den Vordersitzen trennte, war nichts von der Außenwelt zu sehen. Es schien beinah, als wäre ich nicht bloß in einem Auto, sondern auch in der Zeit selbst gefangen. Die meiste Zeit hielt ich die Augen geschlossen, um so meinem Kopf ein wenig Ruhe zu gönnen, doch an Schlaf war in dieser Lage nicht zu denken, obwohl das sicherlich das Beste für mich gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mir dann einreden können, dass das alles bloß ein böser Traum war.

Als wir schließlich anhielten überkam mich eine schreckliche Mischung aus Erleichterung, endlich den stickigen Wagen zu verlassen, und Furcht vor dem, was mich hinter dieser Tür erwarten würde. Als sie schließlich geöffnet wurde, zitterte ich vor Nervosität, mein ganzer Körper schien zu vibrieren.

Ich ließ mich aus dem Wagen zerren und stellte fest, dass ich tatsächlich halbwegs sicher auf den Beinen stand. Doch viel Zeit hatte ich nicht, um mich über diesen lächerlichen Sieg zu freuen, denn ein weiteres Mal wurde ich am Oberarm mitgezogen. Doch dieses Mal stolperte ich nicht, auch wenn der Großteil meiner Konzentration wieder auf meinen Beinen lag.

Der Boden unter meinen Füßen war eindeutig erdig und ich bemerkte eine leichte Brise. Die einzigen Geräusche um uns herum waren das Rauschen von Bäumen, unsere Schritte und das gelegentliche Zwitschern von Vögeln, also schloss ich daraus, dass wir uns ein ganzes Stück von jeglicher Zivilisation entfernt hatten.

Ein beinah störendes Geräusch in dieser Umgebung ließ ich mich aufblicken. Tatsächlich, wohin man auch sah, man erkannte nichts als große, verlassene Felder und die ein oder andere Weidefläche. Das Geräusch, welches ich gehört hatte, entpuppte sich als eine Scheunentür, die von zwei Männern aufgeschoben wurde. Sie wartete am Ende des Weges und wirkte heruntergekommen, denn die rote Farbe blätterte ab und den Fenstern fehlten die Scheiben. Aus der Entfernung konnte man das Innere nicht einsehen, dennoch überkam mich ein Schauder. An diesem Ort würde ich also sterben und was auch immer mich in der Scheune erwartete, es war bestimmt kaum besser als das Äußere, auch wenn es beinah friedlich wirkte.

Immerhin würde ich mir nicht mein eigenes Grab schaufeln müssen. Und ganz sicher würde Alonso Martin uns nicht noch stunden- oder sogar tagelang quälen. Er hatte es sehr offensichtlich gemacht, dass er mich möglichst bald tot sehen wollte.

Mittlerweile hatten wir das Tor erreicht und ich konnte einen Blick in das Scheuneninnere werfen. Viel gab es nicht zu sehen. Nur hier und dort lagen noch Büschel aus Stroh, die unangenehm rochen, und verrostetes Werkzeug. Auf den ersten Blick war kein Beweis dafür zu sehen, dennoch ließ mich dieses Gefühl, dass die Härchen in meinem Nacken reagieren ließ, nicht los. Wir waren ganz sicher nicht die Ersten hier, denen der Tod bereits über die Schulter blickte.

Während wir weiter in die Scheune gezogen wurden, musterte ich die Männer vor uns. Die meisten von ihnen trugen beinah gelangweilte Gesichtsausdrücke, als würde es ihnen überhaupt nichts ausmachen, dass hier zwei Menschen getötet werden sollten. Ein wenig am Rand erblickte ich Chris, der seinen Blick auf eine Stelle über meinem Kopf gerichtet hatte. Er stand stiller als ich es bisher jemals gesehen hatte und seine Miene war verschlossen. Das war alles meine Schuld.

Ich riss meinen Blick von ihm los, denn ich wollte ihn nicht so in Erinnerung behalten. Ich wollte nicht, dass das Letzte was ich sah Chris war, der nichts getan hatte, um das hier zu verhindern. Ich wollte nicht, dass Enttäuschung oder Wut mich in meinen letzten Momenten begleiteten. Und wenn es tatsächlich ein Leben nach dem Tod gab, wollte ich nicht, dass dies die einzigen Gefühle waren, die ich dann mit ihm assoziierte. Also richtete ich meinen Blick auf Alonso. Meine Gefühle für diesen Mann waren so viel weniger verwirrend. Hass, Wut, Angst. Eine ziemlich unkomplizierte, wenn auch wenig schöne Mischung.

„Ich weiß, kein fünf Sterne Hotel, aber für unsere Zwecke ausreichend."

Gerne hätte ich mit irgendetwas Klugem geantwortet, doch dazu fehlte mir die Furchtlosigkeit. Stattdessen räusperte ich mich und ließ meinen Blick zu Mar schweifen, die nur wenige Schritte entfernt wie Espenlaub zitterte. Der Griff des Mannes bei ihr war hart, wahrscheinlich sogar zu fest, doch sie verzog kein Gesicht.

„Ich habe mir auf dem Weg hierher überlegt, was genau ich mit euch beiden anstellen soll."

Alonso machte eine Pause und sah sich um, dann tat er ein paar Schritte, bis er unterhalb eines Querbalkens zum Stehen kam.

„Ich hatte mir überlegt, einen Selbstmord zu inszenieren, aber warum die Mühe machen? Niemand würde euch hier finden und ich will keine Leichen hier hängen haben, wenn ich das nächste Mal einen Gast zu dieser Scheune bringe."

Wenn das hier seine Gastfreundschaft war, dann konnten ich und bestimmt eine Menge anderer Leute darauf verzichten.

„Und dann habe ich überlegt, was man noch so in einer so abgelegenen Scheune anstellen könnte. Aber da ich Ihnen ja einen schnellen Tod versprochen habe, schließlich haben Sie meinen Jungen zu mir geführt, habe ich mich dann für die Pistole erschossen. Ein glatter Kopfschuss und dann haben wir die Sache geklärt. Klingt gut, nicht?"

Mit einem viel zu zufriedenen Lächeln nickte er seinen Männern zu. Die Hand an meinem Arm löste sich, dann spürte ich einen harten Stoß zwischen den Schultern, der mich zuerst taumeln und dann auf die Knie fallen ließ. Fluchend verzog ich das Gesicht. Das hatte meinem Kopf gar nicht gutgetan. Doch bevor ich mich beschweren konnte, was ich sowieso in dieser Situation niemals gemacht hätte, riss mich eine Hand schmerzvoll an den Haaren zurück, sodass ich aufrecht kniete. Keine wirklich würdevolle Position.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mar ebenfalls kniete, das Gesicht wie ich verzogen. Wieder stieg die Hilflosigkeit in mir auf, die mich schon auf der Fahrt hierher und kurz nach dem Aufwachen überkommen hatte. Ich gab meinen Eltern ungerne recht, doch in diesem Moment war ich bloß nutzlos.

„Xavier, bitte übernimm du doch unseren lieben Herrn Autor."

Einer der Typen, der bisher ein paar Schritte hinter Alonso Martin gestanden hatte, tat einen Schritt vor und nickte.

„Sehr schön. Zeig doch Chris, wie es geht. Er kann es dann bei dem Mädchen ausprobieren."

Hätte ich Alonso bis dato nicht schon für einen Wahnsinnigen gehalten, dann spätestens zu diesem Zeitpunkt. Chris sollte Mar töten? Ich war mir ziemlich sicher, dass Chris keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Und dennoch trat auch er vor, wenn auch mit kleineren, weniger selbstsicheren Schritten.

Der Mann, der mich festhielt, versetzte mir einen Stoß, eine Warnung, dann ließ er los und trat von mir weg, ließ mich allein vor einem Mann knien, der eine Waffe auf mich richtete. Oh Gott. Eine Waffe war auf mich gerichtet. Das schwarze Metall glänzte beinah unnatürlich, trotz oder gerade aufgrund des schwachen Lichtes – sicher war ich mir nicht – und ich spürte, wie das Zittern zurückkehrte.

„Schau genau hin, mein Junge."

Alonso war an seinen Sohn herangetreten und legte ihm eine Hand auf die Schulter, eine beinah väterliche Geste, hätte er ihn damit nicht bewusst in meine Richtung gedreht.

„Es ist wichtig, dass du einen breiten Stand hast, siehst du? Halt die Waffe sicher in der Hand, verkrampf dich aber nicht. Der Rückstoß haut dich sonst um. Und wenn du abgedrückt hast, dann warte noch ein paar Sekunden, bevor du die Haltung aufgibst. Das sorgt dafür, dass du treffsicherer bist. Mach es einfach so, wie wir es am Feld geübt haben."

Während er den Ablauf erklärte klang er so beiläufig, als würde er über das Wetter reden. Der hinterhältige Blick, mit dem er mich bedachte, sprach jedoch das Gegenteil. Es bereitete ihm Freude, meine Angst zu sehen und zu wissen, dass er bloß den Befehl geben musste und ich war tot.

„Okay."

Chris Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern. Doch das schien Alonso Martin nicht aufzufallen, während er ihm ein letztes Mal auf die Schulter klopfte.

„Irgendwelche letzten Worte, Herr Dumort?", richtete er sich dann an mich. Doch bevor ich antworten konnte, durchdrang das Klingeln eines Telefons die Stille der Scheune.

Alonso verzog das Gesicht, dann zog er ein Smartphone aus einer Tasche seines Anzugs.

„Sí?"

Für ein paar gespenstische Minuten geschah nichts, während Alonso seinem Anrufer zuhörte. Dabei kam ich mir vor wie ein Verbrecher, der auf seine Hinrichtung wartete. Ich wollte nicht sterben, doch die Warterei schien mich ebenso umzubringen. Die auf mich gerichtete Waffe machte es auch nicht besser.

„Vale, vuelvo", unterbrach Alonso dann die Stille. Er tat das Handy zurück in die Tasche, dann lief er auf den Ausgang zu.

„Xavier, kümmere dich darum. Dann bringst du Chris nachhause."

„Sí", stimmte der Mann vor mir, dessen Blick auf mir ruhte, ihm zu.

„Listo, Chris?", wollte er dann wissen.

Chris, an den sich die Frage richtete, zuckte kaum merklich zusammen. Sein Blick schnellte zu uns und er zog die Stirn kraus, eine kleine Pistole in der Hand, dessen Lauf nach unten auf den Boden zeigte. Dann sah er zur Scheunentür. Man konnte die Autos erkennen, die aufbrachen und diesen Ort verließen.

„Bereit?", wiederholte der Mann, dem aufgefallen war, dass Chris ihn wohl nicht verstanden hatte. Oder nicht hatte verstehen wollen.

Chris atmete tief durch, beinah, als würde er sich auf seinen eigenen Tod vorbereiten, dann nickte er.

„Bereit."

Als er seinen Blick gänzlich auf mich richtete, schloss ich die Augen. Ich wollte niemanden sehen, nicht ihn, nicht Mar, nicht meinen Henker und ganz sicher auch seine Waffe nicht. Ich konnte hören, wie er sie entsicherte. Das Atmen fiel mir schwer und ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen, doch ich versuchte, sie zu ignorieren. Ich würde nicht weinen, wenn ich starb. Aber meinem Tod würde Mars Tod folgen. Ihre Haustiere wären Vollwaisen, meine Haushälterin würde ihren Job verlieren, Sofia ihren bekanntesten Autor und Chris wäre ein Mörder.

Das Nächste was ich mitbekam, war der laute Knall des Schusses, der die Stille durchschnitt.

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Ich habe gerechnet: Noch sechs Kapitel hiernach, dann war es das. 

Over and Out,

_Amnesia_Malum_

04/05/2020

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