Bekanntmachung
Ich hänge mich
ans schwarze Brett
des Lebens
und jeder
der daran vorübergeht
kann mich lesen
wenn er will
kann stehenbleiben
wenn er will
kann mich abreißen
wenn er will
kann mich hängenlassen.
~Elisabeth Alexander~
Ein paar Minuten später hatte die Bedienung unsere Bestellungen aufgenommen und uns allein gelassen. Auch in unserem direkten Umfeld saßen kein anderen Gäste.
„Also, warum konntest du mir nicht sofort antworten?"
Überrascht sah ich von der Falte in der Tischdecke auf, die ich versucht hatte, zu glätten. Chris sah mich über den Rand seines Wasserglases neugierig an und versuchte, möglichst seriös zu wirken. Ehrlich gesagt sah es komisch aus.
„Ich habe an meinem neuen Roman geschrieben", erwiderte ich ehrlich.
Entgegen meiner Erwartung lehnte er sich weiter vor, die Neugier immer noch präsent.
„Und wovon handelt der?"
Ich lehnte mich ebenfalls vor und sah mich verschwörerisch um. Dabei musste ich ein kleines Lächeln unterdrücken.
„Eigentlich darf ich das nicht sagen, aber ich mache eine Ausnahme."
Jetzt legte ich eine kleine Pause ein.
„Du siehst wirklich lächerlich aus."
Lachend lehnte ich mich zurück und erwiderte Chris verärgerten Blick.
„Du hast mir besser gefallen als du noch weniger selbstsicher warst."
„Das tut mir leid."
Ein paar Sekunden hielt ich den mitleidigen Blick aufrecht, dann lächelte ich wieder.
„Du bist wirklich unglaublich, Elias. Weißt du das?"
„Ich gebe mir Mühe", antwortete ich mit einem vergnügten Glucksen.
Das, was Chris gerade für Selbstbewusstsein hielt, war eine ungesunde Mischung aus Nervosität und Müdigkeit. Dementsprechend war ich erleichtert, als Chris nicht auf mich reagierte.
So konnte ich nämlich tief durchatmen und mich selbst schimpfen. Reiß dich zusammen, Elias.
„Du hast Ohrringe?"
Ein weiteres mal riss Chris mich aus meinen Gedanken. Vorsichtig fasste ich an mein linkes Ohr, an dem die meisten meiner Piercings waren.
„Du hast mich erwischt", gab ich schließlich, plötzlich wieder nervös, zu.
„Wie kommst du dazu?"
Bevor ich antworten konnte erschien die Bedienung und servierte unsere Vorspeisen. Erst nachdem ich ein paar Bissen genommen hatte setzte ich dann zu einer Erklärung an.
„Im allgemeinen habe ich sie mir schießen lassen, wenn ich meine Eltern aufregen wollte. Es ist also schon eine Weile her."
Chris nickte nachdenklich, dann schenkte er mir wieder sein verschmitztes Lächeln.
„Hinter jedem von denen versteckt sich also eine Geschichte?"
Mit vollem Mund nickte ich.
„Dann solltest du mir ein paar davon erzählen."
Seufzend schluckte ich den Bissen des Salates runter, den ich zuvor im Mund hatte.
„Ich denke, dass ich ein paar davon erzählen kann."
Dann, nachdem ich kurz überlegt hatte, deutete ich auf den Helix an meinem rechten Ohr.
„Den hier habe ich mir schießen lassen, als ich meinen Eltern von meiner Entscheidung, Autor zu werden, erzählt habe. Der ist also der neueste. Der Helix an meinem linken Ohr war mein erstes Piercing. Den habe ich mir mit 15 machen lassen, weil meine Eltern meine Wahlen für das Abitur nicht verstehen wollten."
Vorsichtig deutete ich auf das zweite und letzte Piercing an meinem rechten Ohr.
„Den Rook habe ich mir als zweites stechen lassen. Damals haben meine Eltern mir einen Hund als Haustier verboten."
Bei der Erinnerung daran, wie sie ausgerastet waren, wurde mein Lächeln etwas breiter. Auch Chris grinste.
„Was ist mit den anderen?"
„Den Tragus habe ich mir zum Auszug stechen lassen. Und den Upper Lobe habe ich machen lassen, als meine Cousine geheiratet hat. Es erschien mir damals wie eine gute Idee, dabei habe ich aber nicht bedacht, dass die Hochzeit an einem Sandstrand stattgefunden hat. Am Ende war mein Ohr an der Stelle für zwei Monate entzündet."
Während meiner kurzen Ausführung hörte Chris mir konzentriert. Als ich fertig war legte er nachdenklich den Kopf schief, das Lächeln kurzzeitig verschwunden.
„Ich weiß gar nichts über dich."
Von der Aussage nicht überrascht zuckte ich mit den Schultern.
„Wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt, da ist es normal, nicht viel voneinander zu wissen."
Trotz meiner einwandfreien Logik kehrte das Lächeln nicht auf Chris Gesicht zurück.
„Stimmt schon, aber es gefällt mir trotzdem nicht. Wie alt bist du?"
Die plötzliche Frage überraschte mich.
„Lass mich dir einen Tipp geben: In meinem Alter spreche ich ungern darüber."
Chris warf mir einen genervten Blick zu.
„Ich bin 19. Siehst du, es ist nicht schwer, einfach ein Alter zu sagen."
„Ich bin 26 Jahre alt."
Mein Gegenüber schenkte mir einen ungläubigen Blick.
„Niemals, du siehst viel jünger aus."
Ich zuckte mit den Achseln, dann wechselte ich das Thema. Mein Alter war schon immer eine Sache gewesen, die mir unglaublich unangenehm war. Ich wusste nicht, warum, aber es war so.
„Treibst du eine bestimmte Sportart oder machst du alles?"
„Also, ich spiele meistens Basketball."
Eine Stunde und zwei Gänge später hatte ich eine ganze Menge Informationen über Chris gesammelt.
Er war anscheinend zwei Centimeter größer als ich– Wenn ich so darüber nachdachte traf das tatsächlich zu - , war eigentlich Brillenträger, trug aber lieber Kontaktlinsen, weil die seine Augenfabe –grau – angeblich hervorhoben, und seine schwarze Haare waren früher einmal dunkelbraun gewesen.
Dazu wollte er später Sport- und Spanischlehrer werden und lebte bei einer älteren Dame als Untermieter. Seine Mutter lebte am anderen Ende des Landes und Chris war Single.
Den Rest der Informationen musste ich erst noch verarbeiten. Und auch, dass ich ebenfalls viele Sachen von mir erzählt hatte, erstaunte mich, Normalerweise hörte ich nur zu, aber Chris hatte darauf bestanden, Dinge von mir zu erfahren.
Deshalb standen wir jetzt auch vor einer Eisdiele. In dem Moment, in dem ich Chris gestanden hatte, dass ich noch nie mehr als eine Kugel Eis gekauft hatte, hatte dieser beschlossen, dass wir das nachholen mussten.
Also hatte ich, nett wie ich war, im Internet nach einem Eiscafé gesucht, das in der Nähe lag und tatsächlich offen hatte.
Chris sah sich gerade die verschiedenen Eissorten an und versuchte wohl zu entscheiden, was er nehmen sollte. Ich stand blöd daneben und starrte die exotischen Sorten an, die angeboten wurden.
„Hallo, was kann ich Ihnen anbieten?", ergriff der Mann hinter der Theke schließlich das Wort.
Chris blickte kaum von den Sorten auf.
„Ich hätte gerne eine Kugel Apfelmus-Pfannkuchen, eine Kugel Rotwein-Schokolade und eine Kugel Karamell-Salz in der Waffel."
Der Mann nickte, dann machte er sich daran, Chris Wunsch zu erfüllen.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?", wandte er sich danach an mich.
Bevor ich den Kopf schütteln konnte mischte Chris sich ein.
„Ja, er möchte auf jeden Fall drei Kugeln. Mindestens."
Dabei warf er mir einen mahnenden Blick zu, als hätte er vermutet, das ich die Sache doch nicht durchziehen wollte. Also ließ ich seufzend meinen Blick über das Angebot schweifen. Warum hatten die hier denn kein Vanille- oder Schokoeis?
„Ich nehme eine Kugel Butterkeks, eine Kugel Espresso-Krokant und noch Käsekuchen-Brombeere im Becher."
Der Mann nickte ein weiteres mal.
„Kommt sofort."
Als wir beide unser Eis hielten und zu meinem Auto zurückkehrten grinste Chris mich an.
„Siehst du, mehr als eine Kugel bestellen war doch gar nicht so schwer."
Ich verdrehte die Augen während ich vorsichtig etwas von meinem Plastiklöffel aß. Dann verzog ich das Gesicht. Das war wirklich starker Espresso.
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Gibt es hier noch jemanden, der nichts vob Kurstreffen mit Menschen, die man gar nicht kennenlernen möchte, hält?
Over and Out, _Amnesia_Malum_
PS: Für alle, die mit den Bezeichnungen für die Ohrpiercings nichts anfangen können, ist oben das Bild geeignet. Teilweise bin ich mir nicht sicher, ob es andere, deutsche Bezeichnungen gibt. Falls doch müssen wir jetzt einfach mit dem gegebenen Schaubild leben.
17/01/19
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