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Gestern ist nicht mehr viel passiert. Ich bin, nachdem ich die Tür noch zwei Minuten lang perplex angestarrt habe, hoch in mein Zimmer gegangen und habe mich einfach nur schlafen gelegt.
Mittlerweile ist es Mittag, ein Uhr, und ich sitze auf der Couch vor dem Fernseher und schalte durch die Kanäle. Heute mache ich einen ruhigen Tag, das bedeutet, nicht rausgehen, einfach nur zu Hause chillen.
Ich spüre ein Vibrieren neben mir und schaue auf mein Handy. Wer stört? Eine neue Nachricht von Unbekannt. Okay, wer könnte das jetzt sein? Genervt gehe ich auf den Chat und lese mir die Nachricht durch:
Hey Rose, ich wollte dir Bescheid geben, ich bin gestern gut zu Hause angekommen. Nochmal Dankeschön für den tollen Abend, ich hoffe, wir können das wiederholen. Wie geht es dir? Ich hoffe doch gut. Melde dich doch bei mir, wenn du das liest.
In Liebe, dein tollster James~
Ich verdrehe belustigt die Augen, als ich das lese. Und wollte gerade ansetzen, um zu antworten, als das Online-Zeichen aufploppt und ich auch schon direkt einen Anruf bekomme.
Warum war mir das klar? Ich drücke auf das leuchtend grüne Zeichen und direkt darauf ertönt nun auch gleich James' aufgedrehte Stimme: „Rosee, du lebst ja noch! Wie geht's dir?"
Sobald ich seine Stimme höre, schleicht sich direkt ein Lächeln in mein Gesicht, und es fühlt sich an, als würden Schmetterlinge in meinem Bauch sein. Ich versuche, das Gefühl so gut es geht zu verdrängen und antworte ihm auch sofort.
„Ganz gut soweit, und dir?"
„Auch, aber mal eine andere Frage: Was machst du?"
„Ich sitze vor dem Fernseher und ziehe mir irgendeine Komödie rein. Wieso?" Ich höre etwas am Ende der Leitung rascheln, ehe er weiterspricht. „Weil ich gleich los muss, kurz bei ein paar Freunden aushelfen, und wollte fragen, ob du danach Lust und Zeit hättest, etwas zu unternehmen?"
Es klingt verlockend. Einerseits wollte ich doch meinen Chill-Tag heute voll und ganz genießen.
„Ich habe heute einen Chill-Tag, an dem ich nichts tue, sondern einfach nur Serien schaue. Eigentlich wollte ich heute auch nirgendwo hingehen."
„Kein Ding, dann komme ich einfach später zu dir", sagt er dann nun völlig gelassen. Ich stimme zu, verabschiede mich von ihm und lege auf. Wenigstens muss ich heute damit nirgendwo hin.
✎✎✎
Es sind Stunden vergangen, in denen er immer noch nicht aufgetaucht ist. Mittlerweile ist es Abend. Er hat mir auch in der ganzen Zeit keine Nachricht hinterlassen oder auf meine geantwortet. Ich glaube, er kommt nicht mehr. Vielleicht hat er mich vergessen?
Ich seufze enttäuscht auf, mache den Fernseher aus und gehe hoch in mein Zimmer. Setze mich auf mein Bett und versuche, mich abzulenken, indem ich etwas Musik höre.
Nach einer Zeit schweife ich immer mehr ab und schlafe ein:
Ich stehe in meinem alten Kinderzimmer wieder und höre, wie meine Eltern streiten, wie Sachen durch die Gegend fliegen oder umgeworfen werden. Also verstecke ich mich in meinem Bett und hoffe, es hört auf. Dann platzt meine Stiefmama auf einmal rein: „Alles wegen dir, drecks Gör, du machst die Familie kaputt!" Sie steht aggressiv vor mir. Ich fange an zu weinen und schaue sie mit großen Augen an. Was habe ich ihr getan? „Nein, bitte hör auf", sage ich unter Schluchzern, doch sie schaut mich nur wutverzerrt an und schreit mich weiterhin an: „Du bist schuld an allem, dich will keiner!" Ich spüre, wie mein Herz immer mehr pocht und die Tränen immer mehr werden. „Ohne dich wäre alles besser", sagt sie und knallt die Tür hinter sich zu, als sie mein Zimmer verlässt. Mein Papa kommt kurz darauf rein und schaut mich einfach nur stumm an. Ich rieche auch schon die Alkoholfahne, die mir entgegenkommt. „Du bist nicht meine Tochter, du bist, einfach nur eine schlampe" sagt er Monoton
Mit einem kalten Gesichtsausdruck schaut er mich an, während ich anfange zu zittern. Er geht hinaus, und ich versuche, ihm hinterher zu rennen. Dabei lande ich in einem leeren Gang, der nicht aufhört zu enden, egal wie weit ich laufe. Überall sind diese Stimmen, die schreien und immer lauter werden: „Du bist schuld!"
„HÖRT AUF, SEID STILL!" schreie ich und halte mir die Ohren zu.
Ich schrecke hoch. „Nur ein Traum", sage ich mit klopfendem Herzen. Ich merke, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet und sich ein bedrückender Schmerz in meiner Brust breitmacht. Ich fange an zu zittern, und die Tränen bahnen sich unkontrolliert den Weg nach unten. Shit, das darf doch nicht wahr sein. Ich laufe ins Bad, reiße die Schränke auf und suche panisch nach meinen Beruhigungstabletten. Ich finde sie nirgends auf die Schnelle, verdammt.
Ich sacke völlig verzweifelt zusammen und liege zitternd mit einer Panikattacke in Embryostellung auf dem Boden. „Rose? Verdammt, Rose, was ist passiert?", vernehme ich auf einmal James' gedämpfte Stimme. Warte, James, wie ist er denn hierher gekommen, vor allem auch wann?
„Meine Beruhigungstabletten", kriege ich nur noch als Flüstern heraus. Er schaut direkt in den Schränken nach. Kurz darauf hilft er mir auf und gibt mir die Tablette, die ich zitternd einnehme.
Dann nimmt er mich auch schon direkt in den Arm und streicht mir wortlos über den Rücken. Ich fühle mich geborgen in seinen Armen. Und ich merke, wie ich langsam ruhiger werde. Und mein Herzschlag sich wieder Normalisiert.
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