IX

Es ist wie ein Versprechen, das wir uns gegenseitig gegeben haben. 
Bis Morgen. Wir werden uns morgen wieder sehen. 

Wir haben uns gesehen oder zumindest habe ich ihn gesehen. Seinen dunklen Haarschopf habe ich nach minutenlanger Suche gefunden. Die Schuluniform steht ihm.

,, Jimin, wo warst du am Samstag so lange? "eine Stimme reißt mich aus meiner Starre. 

Jihyun, der mich mit fragendem Blick mustert. Ich habe seine stillen Fragen bewusst ignoriert. 
Auch über den kompletten Sonntag hinweg. Unser Verhältnis hat sich nach dieser 'Auseinandersetzung' nicht entspannen können. 

Zwischen meinem Bruder und mir steht ein schier unüberwindbarer Berg an Spannung. 
,, Ich hatte noch Angelegenheiten zu klären", Angelegenheiten, von denen ich dir unmöglich erzählen kann, Jihyun. 

,, Und wie sahen diese konkret aus? Papa und ich, wir haben uns Sorgen gemacht", versucht er ein weiteres Mal nachzubohren, doch die Möglichkeit gebe ich ihm nicht. Ich kann es ihm nicht sagen.

,, Es tut mir leid, es kam zu unvorhersehbaren Komplikationen. " Verursacht durch Jeon Jungkook. 

,, Wenn du es mir nicht sagen willst, kann ich dich nicht dazu zwingen. Sag mir wenigstens, ob deine ' Angelegenheiten ' ",  mein Bruder schreibt Anführungszeichen in die Luft, ,, sich auf legalem Terrain befinden?"

,, Seit wann bist du denn so Wortgewandt? Du hast noch nie das Wort Terrain benutzt. Ich wusste überhaupt nicht, dass es Teil deines Wortschatzes ist." 

Es ist der verzweifelte Versuch meiner Seite aus die Situation zu lockern. Diese viel zu angespannte Situation. Ich kann ihm nicht erzählen, was am Samstag passiert ist. 
Es geht nicht. Das was passiert ist, muss um jeden Preis ein Geheimnis bleiben. 

,, Du bist manchmal ein richtiger Idiot, Jimin. Das weißt du, oder? "
,, Dieser Tatsache bin ich mir durch aus bewusst, ja. "
Jihyun wirft mir einen genervten Blick zu und widmet sich wieder seinen Unterlagen.
Er ist dünn geworden. Zu dünn. Es sieht nicht mehr gesund aus. Aber wann hat es das schon? Und die einzige Frage, die ich mir stelle, ist warum. 

Warum tue ich nichts? Warum helfe ich ihm nicht? Warum lasse ich es zu, dass mein Bruder sich selbst zerstört? Warum bin ich wieder so nutzlos. 
,, Jihyun"
,, Was? "
,, Es kann so nicht weitergehen. "
,, Was meinst du damit?" Sein Blick findet meinen. Eine Augenbraue geht automatisch nach oben. 
,, Papa und ich, wir haben Angst um dich, Jihyun. Du bist so dünn, ich habe jede Sekunde die Befürchtung du klappst zusammen wie ein Kartenhaus. " 

,, Ich bin nicht dünn, Jimin, ganz im Gegenteil. Ich bin fett, widerlich fett. Immer wenn ich in den Spiegel sehe würde ich mir am liebsten einen Finger in den Hals stecken. Meine Bauch ist ekelhaft. Meine Beine sind widerlich. Ich bin alles andere als dünn. Mein ganzer Körper ist ein einziger Fettklumpen. Also hör auf, Lügen zu erzählen. Ich bin nicht dünn. ICH BIN FETT, WIE EIN GEMÄSTETES SCHWEIN. " 

,, Jihyun, du bist nicht dick. Wie oft muss ich dir das noch sagen, bis das dein Dickschädel begriffen hat? WENN DU NOCH DÜNNER WIRST, BRICHST DU ZUSAMMEN. Dein Körper wird das auf Dauer nicht aushalten. Bitte, vertrau mir, Jihyun. Ich bin dein Bruder, ich will nur das beste für dich.
Ich weiß, dass ich ein scheiß Bruder bin. Ich weiß, dass ich Mama umgebracht habe. Ich weiß, dass ich egoistisch bin. Aber bitte, bitte hör auf dich kaputt zu machen. 
Bitte, wir brauchen dich.  Wir lieben dich, so wie du bist. Es ist natürlich schwer ohne sie, aber wir müssen weiterleben. Weiterkämpfen. Für sie. Für Papa. Für uns. "

,, Der Spiegel lügt nicht", flüstert er. 

,, Ich lüge auch nicht", kommt es aus mir geschossen, wie aus einer Kanone. 
,, Dann kannst du mir ja auch ohne Probleme sagen, wo du Samstag warst? " 
,, Erst wenn du meine Hilfe akzeptierst. Dann sage ich es dir. " 
Du warst schon immer geschickt dich aus unangenehmen Situationen rauszureden, Jihyun, aber nicht mit mir. 

Er seufzt. Doch bevor er seine Antwort zurückfeuern kann, werden wir unterbrochen. 
Von keinem geringeren als Jeon Jungkook, der uns unsicher mustert. 
Seine Wangen sind gerötet, aus seinen Augen spricht Angst. Angst wovor? 

,, Also...ehm...i-ich...eh...Kann ich mich vielleicht ... , natürlich nur wenn ihr wollt , mit zu euch setzen? " 
 Er hat Angst zurückgewiesen zu werden und trotzdem hat er sich dazu gebracht zu unserem Tisch zu kommen und mit uns zu reden. Er hat sein Versprechen gehalten.  
Ich fange an zu grinsen, will ihm danken, ihn willkommen heißen.

Doch ich kriege keine Gelegenheit dazu. ,, Du? Du willst dich zu uns setzen? ", seine Augen werden zu Schlitzen, ,, Warum? "
Die Kälte aus seiner Stimme lässt selbst mich erschaudern. Ich brauche einen Moment zu realisieren, was hier gerade vonstatten läuft. Ich erkenne meinen eigenen Bruder nicht.
Natürlich, Mutters Tod hat ihn verändert. Jihyun ist distanzierter geworden. 

Er lässt niemanden mehr an sich ran, selbst Papa und mich nicht.
,, Jihyun, was ist denn das Problem? ", frage ich meinen Bruder verwirrt. Ich verstehe gerade überhaupt nichts mehr.

,, Er ", mein Bruder zeigt auf Jungkook, ,, er ist das Problem. "
Dieser bleibt jedoch still, dreht sich gesenkten Blickes um und verlässt unseren Tisch schnellen Schrittes wieder. 
Wortlos blicke ich ihm hinterher. Was war das gerade?
,, Jihyun, was sollte das? " Ich verstehe noch immer nur Bahnhof. Was ist zwischen den beiden vorgefallen, dass Jihyun sich so verhält? Was hat meinen Bruder dazu gebracht Jeon Jungkook zu hassen. 

,, Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, Jimin", erwidert er kühl. 
,, Oh doch , das bist du. Jihyun, rede doch mit mir. Gemeinsam finden wir bestimmt eine Lösung. " 
,, EINE LÖSUNG WOFÜR? " , mit seinen Fäusten schlägt er auf den Tisch, ,, Huh? MOM IST TOT UND ICH BEZWEIFLE, DASS DU SIE WIEDER ZURÜCKBRINGEN KANNST. ALSO HÖR AUF ZU SAGEN, DASS ES BESSER WIRD. "

Ohne ein weiteres Wort rauscht er davon und lässt mich alleine zurück. Seine Wort verletzen mich, obwohl sie der Wahrheit entsprechen. 
Ich kann Mutter nicht wieder zurückbringen. Sie bleibt für immer fort. 

Meine Augen füllen sich mit Tränen, lassen die starrenden Blicke verschwimmen. 
Trotzdem spüre ich sie deutlich auf mir. Die Verurteilung, die Belustigung zieht an mir wie dutzende Hände. Es wird zu viel. Der Schmerz lähmt mich. Die Hände reißen an mir, scheinen mich zu zerreißen.

Ich bekomme keine Luft. Ich stehe auf, meine Beine sind wie Blei und zittern dennoch wie dünne Äste im Wind. Mir ist zugleich kalt als auch warm. Mein ganzer Körper gleicht einem Paradoxon. Doch obwohl mein Körper einem totalen Chaos gleicht, kann ich einen klaren Gedanken fassen.

Ich muss hier weg.

Weg von diesen ekelhaften Blicken. Weg von diesen verdammten Menschen. 
Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne in die entgegengesetzte Richtung, in die mein Bruder vor wenigen Sekunden gestürmt ist. 

Zu einem der sichersten Orte der Schule. Wenn ihr jetzt an die Schultoilette gedacht habt, herzlichen Glückwunsch, ihr hattet Recht. 
,, Hast du großartig gemacht, Park. ", Meine Hände krallen sich verzweifelt in das Waschbecken, 
,, schon wieder musstest du alles kaputt machen, Arschloch. " 

Feindselig schaue ich meinem Gegenüber an. Meinen Feind, den ich niemals überwinden werde. Zumindest nicht in diesem Leben. 

Meine Augen zieren dunkele Schatten, ein Indiz für duzenden schlaflosen Nächte. Die schlaflosen Nächte, in denen ich über mein beschissenes Leben nachgedacht habe und wie wertlos ich eigentlich bin.

Desto länger ich im Nachhinein darüber nachdenke, desto erbärmlicher wirkt es irgendwie. Wirke ich.
Nutzlos, schmutzigekelhaft, wertlos. 
Mein Blick fällt auf mein Handgelenk. Wie in Trance mustere ich es. Meine blasse Haut, blau-grüne Adern. Die Ader. 

Die Ader, die mich in wenigen Minuten hier rausholen würde. 
Ich zucke zusammen.

Nein! Nein, ich darf so nicht denken. Ich habe es ihr versprochen. Ich muss unsere Familie beschützen. 
Schritte. Ein dumpfer Aufprall. 

 ,, Soweit bist du also schon gesunken, Park, du bist wirklich eine Schande. " 
Ich kauere auf dem Boden. Meine Knie angewinkelt. 

,, Ich bin vollkommen übergeschnappt. Das muss es sein, warum sonst würde ich mit mir selbst reden? Warum sonst würde ich einen Spiegel zerschlagen? Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. " 

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitzschlag. Doch anders als ich selbst damit gerechnet habe, beunruhigt mich der Gedanke nicht. Ganz im Gegenteil, ich bin ruhig. In meinem Kopf ist alles still. All die Gedanken und Sorgen sind auf einmal fort. Ich spüre überhaupt nichts mehr. 
Ich schließe meine Augen, verlasse diese Welt.

Die Dunkelheit umschließt mich, doch ich fürchte mich nicht mehr vor ihr. Sie ist nicht mehr mein Feind. 
,, Jimin, alles in Ordnung? ", eine Stimme raubt mir die Finsternis. Ich bin gezwungen meine Augen zu öffnen. Ein Teil von mir hat gehofft, es wäre Jihyun. Jedoch werde ich enttäuscht. 

Er legt seine Hände auf meine Schultern. Schüttelt mich. Fragt mich immer und immer wieder, ob es mir gut geht. Seine Schokoladenbraunen Augen strahlen Besorgnis aus. 
,, Jimin, rede bitte mit mir", Verzweiflung spricht aus seiner Stimme, ,, Rede mit mir.  "
Noch immer verlässt kein Wort meine Lippen, ich bleibe stumm.

Ich weiß nicht, warum meine Stimmbänder nicht das tun, was ich will. Es ist so, als würden sie nicht mehr unter meiner Kontrolle stehen. 
Egal wie sehr ich mich anstrenge. Es ist beängstigend. Mein Körper gehorcht mir nicht. 

Ich bin wie in Schockstarre, unfähig irgendwie auf Jungkook zu reagieren. 
Nicht mit Worten, nicht mit Taten. ich bin gefesselt. 

Währenddessen ist der schwarzhaarige halb am Durchdrehen, zerrt und rüttelt an mir, schreit mich an. Tränen laufen ihm die Wange herunter. 
Der Anblick bricht mir das Herz. Schon wieder habe ich eine Person zum Weinen gebracht. 

Schon wieder zerfressen mich die Schuldgefühle von Innen. Ich mache so viele Fehler, wenn ich so weiter mache, weiß ich nicht ob ich es weiterhin ertragen kann.

Allmählich beginnt die Kälte von mir Besitz zu ergreifen. Doch es stört mich nicht. Nicht genug, als dass ich aufstehen und zurück nach Hause gehen würde. In meiner Verfassung bezweifle ich, ob mein Körper das überhaupt schafft.

 Eigentlich müsste ich zurück, es ist verdammt kalt draußen, ich habe nichts außer ein langarmiges Hemd an. Von Minusgraden haben die Meteorologen im Fernsehen gesprochen. Dumm von mir. Aber ich bin nichts anderes von mir gewohnt, alles was ich tue, sage oder mache ist dumm. 

Warum ausgerechnet ich? Warum muss immer ich alles falsch machen? Ich hätte sie einfach machen lassen sollen. Mein Vater bekommt jetzt bestimmt Probleme wegen mir. 
Vielleicht hättest du ihm helfen können, wenn du mitgespielt hättest. Sie wollte doch nur etwas ' Spaß ' .

Min-ji ist die Tochter von Appas Vorgesetztem, ein falsches Wort bei ihrem Vater und Appa würde gefeuert werden. Was er dank mir wahrscheinlich auch wird. 

Min-ji wollte, dass ich ihr den Weg zum Badezimmer zeige. Ich habe ihr den Wunsch erfüllt. Sie hat mich rein geschubst. Ich war zu überrascht, als dass ich irgendwie reagieren konnte. 
Sie stellte sich zwischen die Tür und mich, schaute mich gierig an mit ihren Honigfarbenen Augen. 

Min-ji  grinste mich verspielt an und legte ihren Zeigefinger auf ihre zart rosa Lippen. Ich sollte still sein, jetzt und für immer. Was als nächstes passiert, würde für immer ein Geheimnis zwischen Min-ji und mir sein.

 Sie überwand auch die letzten Meter, die uns voneinander trennten. Ich wich zurück, ich wollte das alles doch nicht. Mein Rücken fand bald den Weg zur  Wand. Die kalten Fliesen zeigten mir, dass meine Chancen aussichtslos waren. Ich musste mich ihrem Willen unterordnen.

,, Mein Vater kann deinem Vater das Leben zur Hölle machen, wenn du nicht das tust, was ich dir sage. " , flüsterte sie zuckersüß in mein Ohr. Ihre Worte dagegen waren wie Gift. 
Sie lähmten mich, machten mich bewegungsunfähig. 

,, Es wird dir gefallen. " Ich schaute zu Boden. Nein, wird es nicht, hätte ich am liebsten zurück geschrien. Ich biss mir auf die Lippen. Welche Wahl hatte ich denn? Appa oder ich? Mein Wille oder Appas Zukunft? Eigentlich sollte es keine schwere Entscheidung sein. 

Papa opferte tagtäglich so viel für unsere Familie, so egoistisch konnte selbst ich nicht sein. 

,, Vertrau mir ", stumm nickte ich und gab ihr somit meine ' Einverständnis' . 

Ihre Finger fuhren über meine Brust, fanden den Weg zu meiner dunklen Hose. Ich wollte das alles nicht. Aber was waren meine Wünsche wert in dieser Welt? 

Ich wollte schreien. Ihr sagen sie soll aufhören. Mich in Ruhe lassen. Ich konnte es nicht.
Ihre Finger fummelten an meinem Gürtel. Ich will nicht. Hilfe. Bitte, irgendwer. 

Min-Ji hielt abrupt inne. Eine Hand stoppte sie. Meine Hand. 

,, Ich kann das nicht", meine Stimme war brüchig, ,, Ich flehe dich an, Min-ji, bitte lass es nicht an meinem Vater aus. Bitte mach mein Leben zur Hölle aber bitte nicht seins. Er hat es nicht verdient. Er ist ein guter Mensch, er kann nichts für meine Selbstsucht. " 

Tränen verschwammen meine Sicht. Ich musste hier raus. Es war zu viel für mich. Ich habe das Gefühl in Schuldgefühlen zu ertrinken. Die Welle an Gefühlen hatte mich mitgerissen und von dem sicheren Ufer getrennt. Ich war zu schwach, um gegen die hohen Wellen anzukämpfen. 

Sie unterdrückten mich, schleuderten mich immer wieder aus der Bahn. Selbst wenn ich vermeintlichen Halt gefunden hatte, das Wasser riss mich gewaltsam mit. 

Es tut mir leid, Papa. Deine Rufe waren das letzte, das mir zeigte , dass noch Hoffnung bestand. 
Doch selbst diese verstummten, desto weiter ich abdriftete. 























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