9.

Man hätte ein Haar brechen hören können, so leise und bedrückend war die Stimmung in der geräumigen Küche. Die meisten der anwesenden saßen an dem runden Esstisch, an dem wenige Stunden vorher Odette und Ray zusammen mit ihren Eltern gegessen hatten und starrten abwartend Yoricks schwarzes Smartphone an, als würde es dadurch eher klingeln. Doch von der fröhlichen und leichten Stimmung war kein bisschen mehr übrig geblieben. Es war in der Luft verpufft und hatte sich aufgelöst. Wie konnte es dazu nur so schnell kommen?

Vor zwei Stunden waren die sechs Freunde bei Odette angekommen. Alle außer Thilo, denn er war schon nach dem Krankenhaus nach Hause gefahren. Odette hatte auf ihre Freunde gewartet, hatte jeden einzelnen in den Arm genommen und es schien ihr einfach egal zu sein, dass sie neununddreißig Grad Fieber hatte und zusätzlich noch aussah, wie ein Beißer. Nur, dass keine Hautfetzen und Blut auf ihren Platz am Tisch fielen. Zusammen mit einer Felldecke hatte sie sich neben Phineas und Helene niedergelassen.
Von dem Platz an der Arbeitsplatte, wo Ray sich hingestellt hatte, konnte er nur zu gut Odettes fahles und benässtes Gesicht erkennen. Eins wusste er definitiv, er sah sich dieses Kunstwerk einhundert mal lieber an, als sich seinen Gefühlen hinzugeben.

»Ich muss seit Stunden pissen, aber will es nicht verpassen, wenn das Krankenhaus anruft.« Neben Ray tauchte der schwarze Schopf von Yorick auf. Die leichten Bartstoppeln wuchsen über sein Gesicht und ließen das ganze Gesicht noch dunkler wirken. Die Tiefe Stimme seines Bruders zitterte leicht, was überhaupt nicht zu seiner Wortwahl passen wollte. Wenn Ray in einer Sache gut war, dann darin Gefühle zu unterdrücken, doch Yorick schaffte es diese negativen Gefühle wieder an die Oberfläche zu bringen und das nur mit seinem aussehen. »Geh auf Toilette, Yorick!« Peaches hatte sich dazu entschieden das Wort zu ergreifen und anstelle vom Ray Yorick zurecht zu weisen. Einer musste ihm schließlich sagen, dass er sich diese paar Minuten nehmen konnte. Yorick grummelte irgendwas und verließ dann die Küche.

Ray Seufzte. Es war unglaublich anstrengend auf diesen Anruf zu warten. Aber dass er nicht kam hieß auch irgendwie, dass seine Ma' noch nicht gestorben war. Es hieß aber auch, dass sie noch nicht über den Berg war. Egal wie es aussah, langsam wollte er wissen was nun Sache ist. Er konnte nicht mehr im Ungewissen bleiben und sich an seiner Hoffnung festhalten. Denn wenn das Schicksal das dünne Seil, an dem er hing, mit einer eiskalten Schere aus bitterer Wahrheit durchtrennen würde, dann würde Ray fallen. Unter ihm spitze Schwerter aus purem Schmerz.

»Bin draußen eine Rauchen.«Das waren Rays erste Worte seit mindestens einer Stunde. »Ich dachte du rauchst nicht mehr, Ray.« Peaches Blick war eine Mischung aus Klage und Mitgefühl. Die zarte Stimme seiner besten Freundin war ebenfalls klagend und müde. Sie saß direkt vor Ray und musste sich ungemütlich verrenken, um ihn halbwegs sehen zu können. Dabei fielen ihre tiefroten Haare von ihrer Schulter und schlängelten sich in unordentlichen Wellen über ihren Rücken.»Diese Situation hier ist eine Zigarette wert.« Peaches nickte, auch Laurel hatte ihre Aufmerksamkeit auf Ray gerichtet. Die Worte schienen ihr auf der Zunge zu liegen, aber da war Ray auch schon aus der Küche der Gardner-Pierces verschwunden und hastig um die Ecke gebogen. Ein schmaler hellblauer Gang führte ihn an ettlichen Komoden Schuhen und anderen Stolperfallen vorbei, eine davon war Bambi,der Husky Welpe von Odette.

Bambi lag direkt vor Rays Füßen, die nur von seinen dunklen grauen Socken umhüllt waren. Bambi blickte nach oben, seine braunen Knopfaugen sahen Ray aufmerksam an. Die Augen des Hundes waren weit aufgerissen, genauso wie sein kleines Maul, aus dem eine hechelnde Zunge lugte. Bambi reckte den Kopf nach Oben, tippelte mit seinen Pfoten auf dem Teppich, streckte sie nach ihm aus und stupste Rays Füße mit seiner feuchten niedlichen Nase an. »Wenn du brav bist darfst du mit raus, Bambi.« Wie auf Kommando sprang Bambi auf seine vier Pfoten, das Fell glänzend wie eh und je, seine Ohren wackelnd und die Augen immernoch riesig. Ray tat einige Schritte nach vorne, doch der Hund stand nur weiter auf dem Fleck und sah Ray hinterher. Er stand vor der Tür, eine Hand an der Klinke, den Blick nach hinten gerichtet und abwartend auf eine Reaktion. »Bambi geht ohne mich nicht aus dem Haus.« Sein Blick glitt weiter nach vorne, auf Odette die ihm Türrahmen stand.

Sie hatte die Decke immernoch um ihre Schultern gelegt und bei ihrer Stimme schnellte Bambis schwarz-weiß farbener Kopf zu Odette. Er sprang auf und ab und wedelte mit seinem Schwanz. Es schien nichts schöneres zu geben, als Odette. Und da musste Ray ihm irgendwie recht geben. Als Odette auf ihn zu lief und Anstalten machte, ebenfalls nach draußen zu gehen, hielt Ray sie auf. »Du bist krank, bleib drinnen.« Aber sie schüttelte nur mit ihrem Kopf, schob sich an Ray vorbei und trat nach draußen.

Bambi natürlich direkt hinter ihr her. Und auch Ray trat wenige Sekunden später ebenfalls nach draußen. Es war schon seit Stunden hell, die Sonne wurde immer wärmer und es schien kein Regen für heute angesagt zu sein. Anders als gestern.

Ray zündete sich eine Zigarette an.

Gestern hatte es noch in Strömen geregnet. Gestern war alles noch gut. Gestern war Anastasia noch nicht halb tot.

Das Nikotin brannte in seinem Körper, es ätzte sich mit all seiner Aggressivität in seine Zellen und zerstörte sie. Er wusste wie ungesund diese Sargnägel waren und dennoch rauchte er ab und zu eine von ihnen. Vorallem in solchen Momenten, auch wenn keiner der vergangenen Probleme auch nur Ansatzweise an dieses hier reichte.

Sie stand direkt neben ihm im Schatten des schützenden Dachs, zusammen sahen sie über das Geländer der Veranda hinweg, während Bambi im Vorgarten seinen Schwanz jagte. Die klare warme Morgenssonne erwärmte ihre Haut. »Glaubst du sie überlebt?«, fragte Odette mit einer ruhigen und zarten Stimme. Er wusste nicht wieso, aber Ray assoziierte ihren Tonfall mit schwebenden Staubkörnern in Sonnenstrahlen. Etwas so banales war so wunderschön. »Ich weiß nicht was ich glaube. Ich weiß nur was ich weiß. Und ich weiß, dass sie noch lebt.« Er nahm einem weiteren tiefen Zug,dessen Rauch er wenige Sekunden später wieder aus seinem Körper stieß.

Odette sah zu ihm hinüber. Die Augen so dunkel, die Haut glänzend. »Ich glaube sie überlebt.« Sie sah so entschlossen zu ihm hinüber, dass er auch nicht anders konnte als das zu glauben. Ihr Blick glitt wieder in die Ferne. »Ich weiß, dass sie überlebt.«

Einem Moment lang schwiegen sie.
»Wie geht's dir, Odette?« Rau und angeschlagen fragte Ray sie danach. Ihr Kopf schnellte wieder zu ihm, unbeholfen schluckte sie. »Anastasia liegt im Sterben, die Frau, die dich erzogen hat stirbt heute vielleicht noch und du willst allen ernstes wissen, wie es mir geht?« Sie schluckte ein weiteres Mal. »Dir muss es so dreckig und beschissen gehen, aber kümmerst dich trotzdem um mich.« Zögerlich schüttelte sie ihren Kopf. »Manchmal Ray, versuche ich dich zu verstehen, aber es klappt einfach nie so ganz.« »Warum willst du mich verstehen?«,wollte Ray leise wissen.

Er nahm einen weiteren Zug.

»Weil du mich interessierst, deshalb ist es mir auch völlig egal, ob ich jetzt die Grippe habe oder die Pest. Ich bin für dich da, okay?« Wie auf Kommando musste Odette Niesen. Ihre blonden Haare flogen dabei nach vorne, während sie sich ihre Hand vor den Mund hielt. Ray nickte nur. Es war zart und leicht und dennoch stark genug. »Also, wie geht es dir Ray?«,fragte Odette wieder gefasst, trat ein paar Schritte nach vorne und stützte sich am Geländer ab. »Ich hab' Angst.« Eine weitere Zigarette wurde angezündet. »Ich hab' solche Angst. Es zerreißt mich innerlich auch nur Ansatzweise daran denken zu müssen, dass sie stirbt.«Er zog ein weiteres Mal. » Sie ist meine Mutter. Sie ist es schon immer gewesen und wird es immer sein und ohne sie, habe ich keine Mutter mehr .« Seine Kehle schnürte sich zu, die Tränen stiegen und dennoch fühlte es sich gut an darüber zu reden. »Sie stirbt nicht, Ray.« Ihr Kopf drehte sich nach hinten. »Ich weiß es einfach.« Auch ihr Körper kam nach. »Ich spüre es direkt hier drinnen.« Und bevor sie ihre zarte kleine Hand auf ihr Herz legen konnte, wurde die Haustür aufgerissen. Eine weinenden Helene erschien im Türrahmen. Die beiden fuhren zu ihr herum. Rays Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er malte sich gerade jedes schlimmes Szenario aus.

Die Zigarette glitt ihm aus den Fingern.

Sie fiel.

Und dann fiel ihm auch Helene in die Arme,weinte und drückte ihn.

Fast zu leise schluchzte sie:»Ihr Hirndruck ist gesunken. Sie hat die Nacht überlebt.«


Es tut mir so unsagbar leid, dass so lange nichts gekommen ist, aber ich hatte einfach eine kreative und emotionale Tiefphase.

Neues Kapitel morgen.

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