8.
Ray hatte mindestens zehn Minuten gebraucht, um sich wieder zu beruhigen. Die beiden Ärzte waren stehen geblieben, hatten hin und wieder mit Ray geredet und ihm erklärt, dass er noch hyperventilieren würde, wenn er weiter so eine Schnappatmung an den Tag legen würde. Und irgendwann nach dem zehnten Liter Tränen, den er gefühlt bis dahin vergossen hatte und nach dem einundzwanzigsten Mal »Du musst ruhig atmen«, das er gehört hatte, hatte er sich allmählich beruhigt.
Also zumindest sein Körper hatte das. Seine Gedanken fuhren immer noch Achterbahn und brachten ihn um. »Kann ich...kann ich zu ihr?« Das alte, fahle Gesicht des Doktors verzog sich. »Ray,«Ray nickte.»es wäre das beste, wenn sie jetzt nach Hause fahren würden.« Alles in Ray sträubte sich. Er wäre eine schlechter Enkel, wenn er sie jetzt hier alleine lassen würde,in ihren vermutlich letzten Stunden. »Nein,ich kann das nicht. Ich kann sie nicht alleine lassen.« »Ray, sie helfen ihr nicht, wenn sie völlig emotional aufgelöst in der Notaufnahme darauf warten, dass etwas passiert. Egal was geschieht, sie können eh erst morgen früh zu ihr. Gehen sie so lange nach Hause und ruhen sie sich aus.« Ray war ein wenig dankbar, dass er es ausruhen und nicht schlafen genannt hatte, denn er würde sich vielleicht ein bisschen "ausruhen" können, aber keinesfalls schlafen. Zögerlich nickte er. Er verstand den Doktor, nur wusste er noch nicht, wie er es seiner Familie beibringen konnte.
Dr. Shepard sah kurz auf die Patientenakte, legte seine Stirn in Falten und knabberte auf seiner Unterlippe rum.
»Anastasias Notfallkontakt ist eine sogenannte Susanna Ford. Ich nehme mal an es ist Anastasias Tochter?« So war das also. Das Krankenhaus hatte Susanna angerufen und die hatte wiederum Yorick oder Helene kontaktiert und Yorick hatte ihn dann versucht zu erreichen. »Nein. Es ist ihre jüngere Schwester« Dr. Shepard nickte wieder.»Hier steht, dass sie in England wohnt. Gibt es irgendeinen erwachsenen Ansprechpartner, der mit Anastasia verwandt ist und seinen Wohnsitz hier in der Umgebung hat? Ihr Mann vielleicht oder ihre erwachsenen Kinder?« Ray schüttelte mit dem Kopf. »Ich habe noch zwei Geschwister. Yorick... Er ist volljährig.« Dr. Shepard nickte und notierte etwas in seiner Krankenakte. »Okay Ray. Wir müssen wissen,wie alt du und deine Geschwister sind. Ich nehme an ihr lebt alle drei bei eurer Oma.«»Ja, tun wir. Ich bin 19 und meine Zwillingsschwester ebenfalls«»Okay. Könnt ihr irgendwo unterkommen? Ihr könnt nämlich nicht ohne einen Erwachsenen leben und ich würde ungern das Jugendamt benachrichtigen.« Ray nickte. Sie klärten noch einige Sachen ab, bezüglich des Notfallkontaktes. Ray gab Yoricks Nummer weiter und sobald sich bei Anastasia auch nur irgendwas geändert hatte, würde man ihn anrufen. Und als sie alles geklärt hatten, breitete sich in Ray eine Woge der Dankbarkeit aus. »Danke, Richard.« Dr. Shepard hatte ihm zwar nie angeboten, ihn mit dem Vornamen anzusprechen, aber Ray war diesem Mann wirklich unglaublich dankbar und ihn mit Dr. Shepard anzusprechen klang zu formell. Anstatt ihn zu rügen oder eine Rede über Respekt vor älteren Menschen zu halten, lächelte Richard nur väterlich. »Ich mache nur meinen Job, Ray.« Auch Ray Zwang sich zu einem Lächeln, winkte noch kurz der zweiten Ärztin zu und machte sich auf den Weg zurück zu seiner Familie. Er kämpfte sich quälend langsam durch die Gänge,hatte schon fast vergessen wo er abbiegen musste. In ihm herrschte eine Ruhe, die noch beängstigender war, als jeder Gruselfilm, jede kindliche Angst die man hegen konnte und jedes Horrorszenario, das man sich vorstellen mochte.
Denn Ray wusste, es war nur die Ruhe vor dem Sturm,dem Sturm seiner Gefühle, die ihn übermannen würden, ihn regelrecht zerfleischen würden und ihm so viel Schmerzen zu fügen würden, dass er sich wünschen wird an Anastasias Stelle zu sein. Und das tat er jetzt schon.
Er hatte die Sicht verloren. Sie war verschwommen, er wurde ganz von dieser beängstigenden Ruhe eingenommen. Sein Blick war leer und fiel stur gerade aus auf die doppelflügige Glastür, die den leeren Flur von der Notaufnahme trennte.
Ma' hat das nicht verdient. Sie darf nicht sterben. Sie kann nicht sterben. Das kann Gott einfach nicht zu lassen.
Die Gedanken fuhren Achterbahn und sie drehten sich einzig und allein um Anastasia.
Bitte, lieber Gott. Warum?
Wieder flossen die Tränen und Rays Herz blutete vor Schmerz.
Es war die Quelle all des Leids, das er gerade verspürte. Es strömte die Schmerzen in Wellen aus und überfüllte seinen Körper. Irgendwann würde er platzen
Warum, lieber Gott? Warum gibst du uns erst solche Eltern, die uns nicht wollen und dann nimmst du uns die einzige Person, die uns wollte?
Die knochige zitternden Hand von Ray stützte sich an der Wand fest. Wenn ihn der Gedanke daran, dass sie sterben würde schon so umhaute, wie würde es ihm ergehen, wenn es eintreten würde?
Bitte.
Seine Knie knickten ein und er konnte nicht anders als sein ganzes Gewicht auf einen der Stühle zu verlegen, um sich vor einem Sturz zu schützen. Er fiel doch schon längst.
Tu uns das nicht an.
Hoffnungsvoll glitt sein betrübter Blick nach oben. Er suchte an der hohen Flurdecke irgendetwas. Vielleicht ein Abbild Gottes, welches ihm sagen würde, dass er es ihnen nicht antun würde. Dass er einem so tollen Menschen nicht das Recht auf Leben verwehren konnte.
Aber da war nichts. Rein gar nichts. Nur die quälenden hellen Lichter der Lampen. Das Herz, das in seiner Brust randalierte schmerzte tausend mal stärker. Er krallte sich haltsuchend am Stuhl fest,spannte sich an, wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Und dann schrie er. Er schrie und weinte. Schluchzte, verschluckte sich und hustete, aber hörte nicht auf mit dem Weinen und dem Schreien. Er wollte all dem Schmerz raus schreien, wollte am liebsten zu seiner Ma' rennen und sie wach kreischen.
Verdammt, ihr Gehirndruck muss doch nur sinken. Bitte, Gott, verdammt. Tu bitte nur diese eine Sache für uns. Nur ein einziges Mal.
Es musste heute Abend nur eine Sache schief gehen und Anastasia würde sterben und genauso musste nur eine Sache gut gehen und sie könnte es überleben. Es war eine fünfzig fünfzig Chance.
Auf welche Seite die Münze wohl fiel?
Schon nach wenigen Sekunden hatte er keine Kraft, keine Luft mehr zum schreien. Er weinte, schluchzte, schlug mit den Fäusten auf seine Beine ein. Seine Augen waren qualvoll geschlossen.
Zart. Zart berührte etwas seine Faust. Strich ganz vorsichtig über die raue Haut und ließ ihn inne halten. Sein Blick glitt nach vorne. »Hey, Ray. Ich bin da. Ich bin da für dich. Beruhig dich, okay.« Ausgerechnet Thilo stand vor ihm, kniete sich nieder und sah ihm in die Augen. Es spendete ihm Trost, beruhigte ihn und gab ihm die Kraft zu sprechen. »Ich will nach Hause.« Rau und schwach drang seine Stimme in Thilos Ohren. Er nickte, seine Haare fielen ihm dabei ins Gesicht und wippten im Rhythmus mit. »Wir fahren zu Laurel. Sie ruft gleich bei Odette an und sagt bescheid.« Odette. Er würde sie wieder sehen und er würde sie definitiv in den Arm nehmen.
Oh, er würde es sowas von tun.
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